Rezension

Nur Versöhnung kann uns retten

Der furchtlose Einsatz von Erzbischof Simon Ntamwana für Frieden in Burundi

Von Josef Freise

Thema

Dass es im afrikanischen Ruanda einen Völkermord gab, ist in Europa bekannt. Aber dass diese mörderischen Auseinandersetzungen zwischen Hutus und Tutsis auch das Nachbarland Burundi betreffen, das wissen nur wenige. Die Radiojournalistin, Autorin und Moderatorin Angela Krumpen ist in das Herz von Afrika gereist, um burundische Menschen zu treffen, die ihr vom Völkermord, aber auch von Versöhnung in Burundi berichten.

Aufbau und Inhalt

Im Zentrum des als Reisebericht gerahmten Buches von Angela Krumpen stehen die Geschichte und die Versöhnungsarbeit des burundischen Erzbischof Simon Ntamwana. Bezug nehmend auf Interviews mit ihm stellt die Autorin seine Kindheit dar, sein Studium in Rom, und das ohnmächtige Zuschauen beim „ersten“ großen Völkermord in Burundi im Jahr 1972. Sie beschreibt seine Heimreise und sein Wirken als Landpfarrer und dann als Hauptstadtbischof während des zweiten Völkermords 1993/94 sowie sein Wirken als Erzbischof. Neben Ntamwana interviewt sie auch Mitarbeiter/innen des vom Erzbischof ins Leben gerufenen Versöhnungswerks.

Anders als viele historische Berichte, die mit „zweitens“ anfangen und das gegenseitige Morden von Hutus und Tutsis aus Stammesrivalitäten erklären, beginnt Angela Krumpen bei „erstens“ und verweist auf die Kolonialzeit. Auf der Berliner Afrikakonferenz zum Ende des 19. Jahrhunderts hat das Deutsche Reich die beiden Königreiche Ruanda und Urundi als Kolonien übernommen, musste aber als Verlierer des 1. Weltkrieges alle Kolonien wieder abgeben. Das dann neu vereinigte Königreich Ruanda-Urundi wurde den Belgiern zugeteilt (S. 49).

Die europäischen Kolonialherren nutzten für ihre Politik die Rassenlehre. Sie werteten die kleine Schicht der privilegierten Tutsis auf, indem sie mit der Rassenlehre nachzuweisen glaubten, dass die Tutsis den Hutus überlegen seien, was sich angeblich auch an ihrer Physionomie mit langen Nasen und hochgewachsenen Körpern zeige. Die Europäer wollten nur mit diesen Tutsis verwaltungsmäßig zusammenarbeiten, während die Hutus in der Landwirtschaft „hinter den Kühen herlaufen“ sollten.

Als im Jahr 1962 nach dem Ende der Kolonialherrschaft die beiden unabhängigen Staaten Ruanda und Burundi entstanden, versuchten in Burundi extremistische Vertreter beider Ethnien eine gemischt-ethnische Regierung zu verhindern. Kinder der Hutus wurden konsequent daran gehindert, eine höhere Schulbildung zu bekommen. Im Jahr 1972 brach ein Aufstand in Südburundi aus und in einer Bürgerkriegswoche wurden mehr als 300 Student/innen der Hutus getötet (S. 58). Waren im Jahr 1972 die Tutsis die Anstifter der Gewalt, so kam es im Jahr 1993 nach einem Putsch zur Rache der Hutus.

Auf diesem geschichtlichen Hintergrund erläutert Angela Krumpen den Leser/innen die Versöhnungsarbeit von Erzbischof Simon Ntamwana. Simon Ntamwana wuchs in einer einfachen, bildungshungrigen burundischen Familie auf und wollte schon als Kind früh Priester werden. Sein Bischof schickte ihn als jungen Studenten zum Studium nach Rom. Dort erfuhr er im Jahr 1972 vom grausamen Tot vieler Familienmitglieder. „Mein Vater, mein kleiner Bruder Michel, Onkel, Tanten, fast alle, die lesen und schreiben konnten“ waren umgebracht worden „und das nur, weil wir Hutus von der Macht ferngehalten werden sollten“ (S. 57). Den Überlebenden wurde es nicht erlaubt zu trauern. Wer öffentlich seine Trauer zeigte, brachte sich in die Gefahr, wie die Getöteten als ein Verbrecher gehalten und selbst umgebracht zu werden. Der Student Simon wollte jetzt nach diesen schlimmen Ereignissen mehr denn je Priester werden und sah es so, „dass das hier der beste Moment sei, um mich in meinem Leben als Priester zu engagieren“ und um ein Zeuge der Liebe und Versöhnung zu werden (S. 59). „Ich wollte, dass dem Strudel aus Hass und Gewalt endlich Einhalt geboten wurde. Und ich wusste, dass dieser Strudel nur durch Versöhnung gestoppt werden konnte“ (S. 60).

Im Jahr 1974 wird Simon Ntamwana in Rom zum Priester geweiht. Als Primizspruch wählt er sich den Vers aus dem Johannesevangelium „Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben“ und kommentiert ihn so: „Ich hatte den Tod von so vielen Menschen erlebt, jetzt wollte ich auf dem anderen Fuß tanzen und ein Gegengewicht zu all den schlimmen Erfahrungen schaffen“ (S. 62f). Als er im Jahr 1976 in sein Heimatland zurückkehrt, wird noch immer Trauer um Ermordete als Auflehnung verstanden und mit dem Tod geahndet (S. 76). Fassungslos erlebt er eine innere Leere und Trauer. Er erinnert sich an seinen ermordeten Bruder, mit dem er sich so oft gestritten hatte, aber dann auch wieder versöhnte. In seinem Inneren erweckt er diese Gefühle zu neuem Leben. Der junge Priester Simon entdeckt das Wiederbeleben der Erinnerung als eine neue Kraft. Sein Vater und dessen tiefer Glaube an Gott war ihm schon als Kind und Jugendlicher ein großes Vorbild und jetzt spürt er seinen Vater in sich lebendig werden: „Auf diese Weise lernte ich langsam Schritt für Schritt die Wunde dieser enormen Leere in mir zu heilen. Die Heilung war ein langwieriger Prozess über viele Jahre“ (S. 67). Die Erfahrung der innerlichen Verbindung mit den verschwundenen, getöteten Liebsten bringt ihn dazu, seinen Versöhnungsprozess voranzutreiben. Simon Ntamwana erfährt, dass er durch die Wiederbelebung der Getöteten im eigenen Inneren die Handlungen der Täter als weniger schmerzlich empfindet: „Ich erzog mich dazu, die Leben der verschwundenen Menschen, der Opfer, in mir zu verlängern, sie weiterleben zu lassen“ (S. 71). Das wiederum führt ihn Schritt für Schritt dazu, „den Tätern mit einem offenen Herzen zu begegnen“ (S. 71). „Meine Vision war und ist: Dieser Strudel der Gewalt kann nur durch Versöhnung eingedämmt werden“ (S. 71).

In seiner Zeit als Landpfarrer erfährt Simon Ntamwana, wer seinen Vater umgebracht hat. Es ist ein Staatsbeamter aus seiner Pfarrei. Er braucht mehrere Monate, um seine innere Ruhe so weit zu finden, dass er diesen Mann zu sich in sein Büro einlädt und ihm direkt ins Gesicht sagt: „Ich habe gehört, dass du meinen Vater ermordet hast“ (S. 87 f.). Der Mann erstarrt und gibt zu, dass er zu der Truppe gehörte, die auf seinen Vater geschossen hat. Wie konnte der Priester Simon nun einen guten Umgang mit diesem Mann und dessen Familie finden? Zu Ostern sagt er ihm: „Sei nun ruhig, du hast ja unter Befehl gestanden. Habe keine Angst, komm mich mal wieder besuchen“ (S. 89). Der Mann, der seinen Vater ermordet hatte, bedankt sich dafür, dass er verziehen habe. „Später kam die ganze Familie ohne zu zögern zu mir. Die Versöhnung tut mir gut“ (S. 89).

Im November 1988 wird Simon Ntamwana als erster Hutu-Priester in Burundi zum Bischof geweiht. Er gilt als „Rebell unter den Prälaten“ und sieht für sich die Mission, das burundische Volk zu versöhnen. Bei den Massakern im Jahr 1993 werden am ersten Advent im ganzen Land keine Messfeiern gehalten. Wer getötet hat, so wird von den Kanzeln gesprochen, muss zunächst öffentlich um Verzeihung bitten. „Das Blut eurer Nachbarn, das vergossen wurde, war auch das Blut Christi“ (S. 117). Im Februar 1995 verüben Gegner des Dialogs aus den Reihen der Tutsis einen Attentatsversuch auf Bischof Simon Ntamwana, der in letzter Minute vereitelt werden kann. Drei Jahre später suchen ihn die Attentäter auf und zeigen Reue.

In all den Jahren hat Bischof Simon einen Orden mit Ordensschwestern, Laien und Priestern vorangebracht, sein Versöhnungswerk „ La vie nouvelle pour la reconciliation“ (Neues Leben für die Versöhnung). Das Werk fördert die Erinnerungskultur und das Trauern. Das Trauern, so die feste Überzeugung der Mitglieder des Ordens, ermöglicht eine Versöhnung mit der eigenen Person: „Wenn ich um Verzeihung bitte, dann versöhne ich mich mit mir selbst. Wenn der Andere es nicht annimmt, dann ist das so. Das ist eine Sache zwischen ihm und Gott“ (S. 157). Versöhnung kann auch dadurch praktiziert werden, dass ich jemandem aus der Familie des Täters etwas Gutes tue, erläutert der Bischof. Das sei wie glühende Kohlen auf dem Haupt des Anderen zu sammeln, wie es in den Sprüchen Salomos heißt (25, 21-22): „Hat dein Feind Hunger, so speise ihn mit Brot, hat er Durst, so gib ihm Wasser zu trinken. Denn damit sammelst du feurige Kohlen auf sein Haupt und der Herr wird es dir vergelten.“

Neben den Interviews mit Erzbischof Simon Ntamwana enthält das Buch mehrere Interviews mit Mitgliedern des Versöhnungswerkes, mit Männern und Frauen, Tutsis und Hutus, mit Tätern und Opfern, die Ordensmitglieder geworden sind. Bedrückend zu lesen ist, wie Menschen, die sich der Versöhnung verschrieben haben, von ihren eigenen Familien verstoßen werden, weil man ihnen nicht glauben kann, dass so etwas möglich ist. Einer engen Mitarbeiterin des Erzbischofs wird von der Familie vorgeworfen, sie tue dies nur für Geld. Die Interviews machen nachdenklich. Eine Ordensschwester berichtet von der Versöhnung mit ihrem gewalttätigen Vater: „Wir lernen in unserem Werk, dass das Opfer den ersten Schritt macht, indem es auf den Täter zugeht. Weil er derjenige ist, der die erste Möglichkeit hat, zu verzeihen“ (S. 167). Dabei beruft sich die Ordensschwester auf Jesus, der am Kreuz sagte: „Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ (Lk 23, 34).

Diskussion

Die Autorin Angela Krumpen zeigt in ihren Gesprächen tiefes Einfühlen und gleichzeitig eine große Hartnäckigkeit im Fragen, wenn sie etwas nicht versteht. Wie soll sie einem Taschendieb, der ihr am Bahnhof das Portemonnaie stiehlt, einfach so verzeihen, fragt sie. Ein Priester des Versöhnungswerkes antwortet ihr: „Was ich sagen würde, ist: ‚Mein lieber Freund, wie kann ich dir helfen, aufzuhören, als Dieb in der Welt zu sein? Wenn du weiter machst, wird man dich ins Gefängnis bringen. Wie kann ich dir helfen, diese schlechte Gewohnheit aufzugeben?‘“ (S. 170).

Das große Ziel sei wichtiger als die eigene Befindlichkeit des Opfers, so versteht Angela Krumpen das Anliegen der Versöhnung von Erzbischof Ntamwana. Dem Täter zu verzeihen ist so, wie wenn man einem Ertrinkenden einen Rettungsring zuwirft (S. 178).

Fazit und Ausblick

Angela Krumpen hat schon als Moderatorin im Kölner Domradio (domradio.de) mit ihren einstündigen Reportagen und Interviews gezeigt, wie gut sie Menschen in das Leben anderer mit hineinnehmen kann. Dies gelingt ihr hier wieder auf eine sehr eindringliche Weise.

Aus wissenschaftlicher Perspektive wäre es lohnenswert, dieses Versöhnungsprojekt mit anderen Versöhnungsinitiativen wie der Wahrheitskommission in Südafrika nach der Abschaffung der Apartheid zu vergleichen. Empirisch könnte untersucht werden, in welchem Maße dieses Versöhnungswerk von Erzbischof Ntamwana erfolgreich ist, inwieweit es an die kulturellen und religiösen Plausibilitäten in Burundi gebunden ist und ob dieser Ansatz auch außerhalb des burundischen religiösen Kontextes in andere Ländern übertragbar ist.

Rezensent
Prof. Dr. Josef Freise

Quelle: https://www.socialnet.de/rezensionen/24719.php