Carlos Abesamis SJ

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Forum Weltkirche: Autor Carlos Abesamis SJ

Auch wenn Carlos Abesamis, Jesuit und Exeget, schon 2008 gestorben ist, so lebt sein geistiges Vermächtnis doch weiter, wie die Einrichtung eines nach ihm benannten Lehrstuhls an der St. Vincent School of Theology in Manila im April 2010 zeigt. Geboren wurde Carlos Abesamis am 11. Januar 1934 in Naga im Süden der Insel Luzon. Seine Familie gehörte zur gehobenen Mittelschicht, die wie damals üblich mehrere Hausangestellte hatte. Aber anders als in den meisten Familien aus diesen Kreisen herrschte in seinem Elternhaus ein stark sozialer Zug, der eine, für seinen späteren Lebensweg entscheidende frühe Weichenstellung mit sich brachte. Jahre später erinnerte er sich daran, dass sein Vater, als Carlos fünf Jahre alt war, ihm die Lehre mit auf dem Weg gab, dass die Hausangestellten im Haus der Familie Abesamis dieselbe Speise wie die eigentlichen Familienmitglieder erhielten, was damals durchaus unüblich war. Nach seiner schulischen Grundausbildung und dem mit Auszeichnung bestandenen Abitur an der Ateneo High School in Manila trat er im Juni 1950 in das Noviziat der Gesellschaft Jesu in Novaliches ein. Für seine theologischen Studien wurde er nach Innsbruck geschickt, wo einer seiner Professoren Karl Rahner war. In Innsbruck wurde er auch am 25. Juli 1963 zum Priester geweiht. Danach hat er am päpstlichen Bibelinstitut in Rom seine Fachausbildung zum Exegeten erhalten.

Biographische Daten

  • Geboren in Naga im Süden der Insel Luzon am 11. Januar 1934
  • Abitur an der Ateneo High School in Manila
  • Juni 1950 Eintritt in das Noviziat der Gesellschaft Jesu in Novaliches
  • theologischen Studien in Innsbruck, wo einer seiner Professoren Karl Rahner
  • Priesterweihe 25. Juli 1963 in Innsbruck
  • 1995 Mitbegründern der »Ökumenischen Vereinigung von Dritte Welt Theologen« (EATWOT) in Daressalam
  • 1997 Mitbegründer der »Konferenz Asiatischer Theologen« (CATS), eines Forums der Zusammenarbeit christlicher Theologen in Asien

Eine Auswahl von Publikationen

  • 2002–2006 dreibändiges Werk »Ein Rucksack für einen Jesus-Sucher« (Backpack of a Jesus-Seeker)

In die Philippinen zurückgekehrt hat Carlos Abesamis viele Jahrzehnte an der theologischen Hochschule Loyola Kolleg in Manila Exegese unterrichtet. Daneben war er als Lehrer am Franz Xaver Seminar in Davao und am Zentrum für Religion und Kultur in Ozamis tätig. Carlos Abesamis war ein ausgezeichneter Exeget und theologischer Lehrer. Aber frühzeitig erkannte er, dass die Trennung von »akademischer systematischer Theologie« und »Spiritualität « eine Gefahr darstellt, weil sie leicht auf der einen Seite zu einer trockenen abstrakten Theologie und auf der anderen Seite zu einer Abwertung des geistlichen Lebens als weniger wichtig und nebensächlich führen kann. Für Carlos Abesamis ist das Herz der Theologie ein interaktiver Dialog zwischen dem biblischen Jesus und den Realitäten des alltäglichen Lebens. Neben der akademischen Theologie galt sein Haupteinsatz daher einer mehr der Basis nahen praktischen Theologie. Viele Jahre hat er für das »Nationale Sekretariat für soziale Aktion, Gerechtigkeit und Frieden« (NASSA) und das »Sozial-pastorale Institut« (SPI) Kurse in praxisorientierter Exegese gegeben. Für viele Basisgemeinden war er ein gesuchter geistlicher Führer und Lehrer für das Verständnis der Heiligen Schrift aus der Sicht der Armen und Unterdrückten. Seine ökumenische Offenheit zeigte sich darin, dass er einer der Mitbegründer der »Konferenz Asiatischer Theologen« (CATS), eines Forums der Zusammenarbeit christlicher Theologen in Asien, war, das 1997 gegründet wurde und durch Konferenzen und Publikationen gemeinsame Positionen asiatischer Theologen herausgearbeitet hat. Carlos Abesamis gehörte zu den Mitbegründern der »Ökumenischen Vereinigung von Dritte Welt Theologen« (EATWOT), die 1975 in Daressalam gegründet wurde. Später war er lange Jahre ein führendes Mitglied von EATWOT in den Philippinen. In den Diskussionen unter den asiatischen Theologen, ob das Schwergewicht der theologischen Arbeit in Asien auf die Beschäftigung mit Fragen der Inkulturation oder doch eher auf die Auseinandersetzung mit Fragen der Armut und der Befreiung gelegt werden sollte, hat Carlos Abesamis dezidiert Stellung bezogen. Bei der Frage, was hat Vorrang: »Inkulturation« oder »Befreiung«? hat er deutlich und wohl auch etwas einseitig für den Aspekt der Befreiung als die zentrale Aufgabe der Theologie optiert. Dabei hatte er den philippinischen Kontext im Blick, bei dem es, einmal abgesehen vom Islam, keine anderen Religionen gibt, auf die sich christliche Theologen beim Entwickeln einer philippinischen Theologie beziehen könnten oder müssten.

Darin unterschied er sich von seinem Mitbruder Aloysius Pieris, der aus seinen Erfahrungen im Kontext Sri Lankas die beiden Aspekte Inkulturation und Armut als wesentliche Bestandteile einer asiatischen Befreiungstheologie angesehen hat, die sowohl die Auseinandersetzung mit den Religionen wie auch die Beschäftigung mit der Armut immer zusammen im Blick haben muss. Abesamis hat sich oft und intensiv mit der Frage der Erlösung beschäftigt. Eine Schrift von ihm trägt den bezeichnenden Titel: »Himmel oder Reich Gottes?«. Für Abesamis ist Erlösung nie nur das Heil des einzelnen Menschen, der »in den Himmel kommt«, sondern bezeichnet in der Gesamtschau der Aussagen der Bibel immer das Heil der gesamten Menschheit, der Welt und des Kosmos. Die Botschaft der Propheten, aber auch die Verkündigung Jesu beinhaltet die Verkündigung von Gottes segensreichem Handeln in erster Linie am Volk Israel als ganzem. Beispiel ist der Exodus, in dem Gott mit »starker Hand und ausgestrecktem Arm« sein Volk aus der Knechtschaft geführt hat. Ein Bild, das die späteren Propheten wieder aufgreifen, um dem Volk Israel in der Verbannung nach Babylon Mut zu machen und das in der Rückführung des Volkes nach Jerusalem sich in einem neuen Exodus verwirklicht. Auch Jesus verkündet ein Heil, das nicht in erster Linie die individuelle Sündenvergebung zum Inhalt hat, sondern ebenfalls ein universales allumfassendes Heil verkündet, das die ganze Welt und den Kosmos umfasst. Auch die ersten Christen in der Urkirche teilten dieses Verständnis. Erst durch den Einfluss des griechischen Denkens und der Mysterienkulte verschob sich das Verständnis von Erlösung zu der bis in die jüngere Kirchengeschichte vorherrschenden Lehrmeinung, Erlösung in erster Linie als Heil der individuellen Seele zu verstehen. Mit anderen Theologen aus der DrittenWelt setzte sich Abesamis für ein erneuertes Verständnis von Erlösung ein, das den Begriff des Reiches Gottes zentral stellt, weil das Eintreten für die Werte des Reiches Gottes den Kern der Verkündigung Jesu darstellt. In seiner Person und Verkündigung sah Jesus das Reich Gottes schon jetzt als in dieser Welt anfanghaft verwirklicht, wobei er betonte, dass die endgültige Verwirklichung noch ausstehe. Ganz zentral für Abesamis ist die »Einseitigkeit« oder »Voreingenommenheit «, die sich in der Verkündigung Jesu findet, dass er das mit ihm in die Welt gekommene Heil als in erster Linie für die Armen bestimmt darstellt.

Abesamis lehnte mit anderen Theologen der Dritten Welt (EATWOT) das klassische Modell der westlichen Theologie ab, plädierte aber zugleich dafür, dass asiatische Theologen sich zugleich von den Reichen und der bürgerlichen Mittelschicht in Asien distanzieren müssen, die mit ihrer Lebensführung die Armen ausbeuten und unterdrücken. Asiatische Theologen sollten in der fundamentalen Option für die Armen sich an deren Leben, Leiden und Fühlen orientieren und die Geschichten, Gebete, Lieder, Dramen und andere Ausdrücke ihrer Befindlichkeit als Ausgang ihres theologischen Denkens nehmen. Abesamis nannte die Mitglieder der Basisgemeinden, die sich für Gerechtigkeit, menschliche Würde und Menschenrechte einsetzen und dieses Tun theologisch zu reflektieren versuchen, die »eigentlichen Theologen«, deren theologischen Gehversuchen die professionellen Theologen als »theologische Techniker« (theological technicians) sprachlichen Ausdruck verleihen sollen.

Abesamis entwickelte seine theologischen Vorstellungen in Auseinandersetzung mit den Gegebenheiten in der Gesellschaft und Kirche in den Philippinen während der Militärdiktatur von Ferdinand Marcos (1965–1986). In der Zeit des Kriegsrechts, das 1972 verhängt wurde, hat er mit vielen Gleichgesinnten sich für Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit eingesetzt. Dabei war er nicht der Agitator, sondern eher jemand, der auf Argumente und stille Überzeugungsarbeit setzte. Seine Vorstellungen einer gerechten Gesellschaft fußten auf seinem Verständnis der Bergpredigt und Jesu Eintreten für die Werte des Reiches Gottes. Abesamis gehörte zu der Gruppe von Theologen in den Philippinen, die als Ausgangspunkt ihrer theologischen Arbeit die gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Situation in den Philippinen nahmen. Diese Theologen bemühten sich, die gegebenen Verhältnisse ihrer Zeit auf dem Hintergrund der kulturellen und religiösen Geschichte aus der Sicht des Evangeliums zu deuten und daraus Handlungsanleitungen zu gewinnen. Dabei hatten sie, die in der Mehrzahl vornehmlich als Professoren in den theologischen Seminaren tätig waren, auch eine Reform des Theologiestudiums im Blick. Abesamis setzte sich dafür ein, die Theologiestudenten nicht nur mit seinem exegetischen Wissen zu unterrichten, sondern ihnen die Begegnung mit den sozialen Verhältnissen in den Philippinen zu vermitteln. Dies geschah in den sog. »frei treibenden Seminaren « (floating seminary), bei denen die Studenten für eine bestimmte Zeit in sozialen Brennpunkten mit den einfachen armen Menschen lebten und ihr Leben teilten. Anfangs gab es durchaus Unterstützung und Ermutigung aus den kirchlichen Führungskreisen für diese neue Form der Seminarausbildung, die den Seminaristen den direkten Kontakt mit der Lebenswirklichkeit der einfachen Menschen vermittelte. Doch manchen Verantwortlichen in der Kirche und in seiner eigenen Gemeinschaft der Jesuiten erschien das Eintreten für soziale Gerechtigkeit und die Belange der Armen als zu weit gehend. Die von Abesamis initiierten Änderungen in der Priesterausbildung, die den Seminaristen mit der Realität des Lebens der unteren Schichten konfrontierte, wurden wieder rückgängig gemacht. Abesamis selber hat sich durch diese Kritik in seinem entschiedenen Eintreten für die Armen und für soziale Gerechtigkeit nicht irre machen lassen. Er war sich bewusst, dass die fundamentale Option für die Armen eine breite Basis in der Heiligen Schrift hat und die damit verbundene »Einseitigkeit« und »Parteinahme « nur Ausdruck der Vorliebe Gottes für die Armen ist, wie sie die Propheten und Jesus selber verkündet haben.

Als Exeget hat er mit seiner ihm eigenen Weise die Schrift aus der Sicht der Armen und Unterdrückten auszulegen, großen Einfluss auf Basis- und Aktionsgruppen in den Philippinen und darüber hinaus gehabt. Charakteristisch für Abesamis’ Theologie ist ein Titel: »Die Bibel in einem Jeepney lesen!«, womit das am meisten verbreitete Verkehrsmittel in Metro-Manila gemeint ist, das von den »einfachen Leuten« täglich benutzt wird und den wohl öffentlichsten Ort in den Philippinen bezeichnet. Der Jeepney ist ein Symbol für die Fähigkeit der Filipinos, »Schwerter zu Pflugscharen « zu machen und einen ursprünglich als Militärfahrzeug gebauten Jeep in ein ziviles Fahrzeug umzubauen. Abesamis hat zwei Jesus-Bücher geschrieben, die in den Basisgemeinden und darüber hinaus sehr populär geworden sind. Das erste trägt den Titel: »Einen dritten Blick auf Jesus werfen« (A Third Look at Jesus). Als ersten Blick bezeichnet er das Selbstverständnis, das Jesus von sich selber hatte und das von den Christen der Urkirche geteilt wurde. Unter dem zweiten Blick verstand er das Jesusbild der westlichen Theologie, das stark vom griechisch-römischen Denken bestimmt ist und durch die vielen dogmatischen Formulierungen den Blick auf den eigentlichen Jesus eher versperrt. Der dritte Blick ist für ihn das aus dem Blickwinkel der Armen gewonnene Verständnis von Jesus, das für die Theologie in der Dritten Welt bestimmend sein sollte. Während nach dem »zweiten« Blick Jesus in erster Linie als der Retter gesehen wird, der das Heil der individuellen Seele im Himmel verspricht, erscheint Jesus im »dritten« Blick als der Verkünder des Reiches Gottes, der einen »neuen Himmel« und eine »neue Erde« ankündigt, in der das Heilswirken Gottes an der Welt, dem Kosmos und der Menschheit seine Vollendung findet. Mit der Kritik an der westlichen Theologie verbindet Abesamis auch eine kritische Sicht der Kirchengeschichte, die für ihn zu sehr aus der Sicht der kolonialen Herrscher, der westlichen Missionare und der intellektuellen Elite geschrieben wurde, um für die »Opfer der Geschichte« in der Dritten Welt glaubhaft zu sein. Die Kirchen- und Missionsgeschichte sollte daher nur mit einem »hermeneutischen Verdacht« von der Kirche der Armen gelesen und danach verbessert werden.

Gleichsam als sein geistliches Vermächtnis hat Carlos Abesamis in den Jahren 2002–2006 das dreibändige Werk »Ein Rucksack für einen Jesus-Sucher« (Backpack of a Jesus-Seeker) geschrieben, in dem er seine theologischen Einsichten über Jesus in einer für alle verständlichen packenden Sprache zusammengefasst hat. Darin stellt er in einer Vielzahl von Bildern und Vergleichen Jesus als den Freund und Anwalt der Armen und Unterdrückten vor. Wie der Untertitel: »In der Nachfolge der Fußspuren des ursprünglichen Jesus« aussagt, ist Abesamis überzeugt, durch die Wiederentdeckung der ursprünglichen Botschaft vom Reich Gottes den Armen eine neue und authentische Begegnung mit Jesus vermitteln zu können. Während der Arbeit an seinem Buch »Ein Rucksack für einen Jesus- Sucher« wurde 2004 Darmkrebs bei ihm festgestellt. In seinem jahrelangen Kampf gegen Darmkrebs, der am 31. Januar 2008 mit seinem Tod endete, hat Abesamis große menschliche Stärke und Gelassenheit gezeigt. Dass andere für ihn während seiner Krankheit beteten, hat er mit einer gewissen Skepsis angesehen, war aber dann doch berührt, dass es Gebetsgruppen gab, die ihn mit seiner Krankheit in ihr ständiges Gebet einschlossen. Er fand dies »erstaunlich« (amazing) und nannte es eine »erstaunliche Gnade«, womit er auf das bekannte Lied: »Amazing Grace« anspielte. Als Vermächtnis und Ausdruck seines Verständnisses der Arbeit eines Theologen kann das folgende Zitat gesehen werden: »Wir sind nur Bambus-Flöten, durch die göttliche Musik fließt. Die Flöte selber muss schweigen, damit die Musik fließen kann.«

GEORG EVERS
Missionswissenschaftler