Clodomiro Siller Acuña

Foto: Clodomiro Siller Acuna

Der angesehene und viel gefragte mexikanische Fachmann für indigene Kultur, Geschichte und Theologie Mexikos, Clodomiro Siller Acuña, sieht im Rückblick auf sein Leben ein entscheidendes Erlebnis, als er gerade sechs Jahre alt war: Er kam damals auf eine so genannte »Indianerschule«, also eine Schule für die Angehörigen der indigenen Minderheiten Mexikos.
»Es war das Schlüsselerlebnis meiner Kindheit«, meint Siller. »In unseren Museen wurden die Indianer als Künstler, Architekten und Astronomen gefeiert, im echten Leben dagegen als Aussätzige behandelt.« Obwohl der 1938 geborene Theologe, Anthropologe und Soziologe aus einer Unternehmerfamilie stammt, kam er sehr früh schon mit der indianischen oder – wie es wohl richtiger ist – indigenen Welt der Nachfahren von Zapoteken, Azteken, Nahua und Mayas in Kontakt.

Nach seinem Studium im nationalen Priesterseminar und einem sechsjährigen Zusatzstudium in Rom stieß der junge und durch das II. Vatikanische Konzil geprägte Priester Clodomiro Siller 1973 zu CENAMI. Und damit begann sein bis heute andauernder Kampf um die Rechte der indigenen Bevölkerung Mexikos und des ganzen lateinamerikanischen Kontinents, von den Indígenas selber auch Abya Yala genannt.

CENAMI (Centro Nacional de Ayuda a las Misiones Indígenas: Nationales Hilfszentrum für indigene Mission), dessen Koordinator für pastorale Förderung (promoción pastoral) er heute ist, hat sich zum Ziel gesetzt, aus einer christlichen Grundüberzeugung heraus sich für die Rechte und die Kulturen der indigenen Völker einzusetzen, deren Weisheitstraditionen und Religiosität ernst zu nehmen und in den Dialog mit einer westlich geprägten Theologie und Pastoral zu bringen.
Das Zentrum wurde 1961, aufgrund einer Initiative des apostolischen Nuntius Raimondi, ins Leben gerufen, um die indigenen Völker in Kirche und Gesellschaft zu integrieren. Von Anfang an stieß ein solches Unterfangen auf Widerstände; zuerst seitens der Großgrundbesitzer, Militärs und abendländisch orientierten Eliten des Landes, zunehmend aber auch seitens der Kirchenleitung selber und konservativer Kreise der mexikanischen katholischen Kirche. 1970 wurde aufgrund der Bedürfnisse die Unterstützung von Fachleuten in Ethnologie, Soziologie und anderen Humanwissenschaften angefragt, was sich in der Errichtung von CENAPI (Centro Nacional de Pastoral Indigenista) niederschlug.
Gleichzeitig wurden auch die Verbindungen mit der »Bischöflichen Kommission für Indígenas-Fragen« (Comisión episcopal para indígenas: CEI) verstärkt, dessen Vorsitzender lange Zeit Samuel Ruiz García, Bischof von San Cristobal in Chiapas war. Dies war denn auch die Zeit, als Clodomiro Siller als Fachmann in Theologie und Humanwissenschaften bei CENAMI tätig wurde.

Im Kampf um gerechte Landverteilung unter der indigenen Bevölkerung brachte er nicht nur Großgrundbesitzer gegen sich auf. In den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts rückte das Militär immer wieder gegen aufständige Indígenas vor; mehrere Priester kamen dabei ums Leben, weit über hundert Katechisten wanderten ins Gefängnis.
»Bis in die späten 90er Jahre standen wir unter ständiger Beobachtung«, erinnert sich Clodomiro Siller. »Unsere Telefone wurden abgehört, und jeden Tag wartete ein dunkler Wagen vor der Einfahrt zu CENAMI, um mich auf Schritt und Tritt zu verfolgen«. Ursprünglich war der Ansatz von CENAPI und auch von Clodomiro Siller ein assistenzialistischer: Hilfe von Nicht-Indígenas für Indígenas (deshalb auch der ursprüngliche Begriff indigenista in der Bezeichnung).Nach der Auflösung von CENAPI (1974) und einer gründlichen theologischen Arbeit aber setzte sich Ende der 80er Jahren eine »Indígena-Pastoral« durch, in der die einheimischen Völker selber Subjekte und Protagonisten ihrer Evangelisierung sind. Der Aufstand der Zapatisten in Chiapas ab 1994 brachte Siller und CENAMI auch in Regierungskreisen und bei der weißen Elite in den Verdacht der Unterstützung von terroristischen Aktivitäten und des Schürens eines nationalen Konflikts.

Biographische Daten

  • Geboren in Saltillo – Mexiko, 1938.
  • Studium im nationalen Priesterseminar.
  • Aufbaustudien in Theologie, Ethnologie und Soziologie, 1965–1971, in Rom.
  • Beginnt 1973 die Arbeit bei CENAMI (Centro Nacional de Ayuda a las Misiones Indígenas), dem Zentrum für Indigene Mission der katholischen Kirche Mexikos. Lange Zeit war er Mitglied des Koordinationsteams.
  • Mitglied der Bischöflichen Kommission für Indígenas-Fragen (CEI) und lange Zeit deren Sekretär.
  • Ist seit 1971 aktiv in der Indigenen-Pastoral in Mexiko und auf lateinamerikanischer Ebene.
  • Hat von Anfang an bei der Entwicklung einer eigenständigen Teología India (indigene Theologie) in Lateinamerika mitgearbeitet.
  • Ist Mitglied der Ökumenischen Vereinigung von Dritte-Welt-Theologinnen und –Theologen (EATWOT).
  • Heute ist Clodomiro Siller Koordinator der pastoralen Förderung (promoción humana) bei CENAMI.
  • Hat verschiedene Beiträge in theologischen Zeitschriften in Mexiko, Costa Rica, USA, Ekuador, Argentinien und Deutschland veröffentlicht.

Eine Auswahl von Publikationen

Auf Deutsch ist erschienen:

  • Hier wird der Reihe nach erzählt: Das Ereignis von Guadalupe. Urtext und Kommentar. Annweiler 1988: Thomas und Plöger. [Es handelt sich um eine Exegese des Nican Mopóhua, des Textes in der Náhuatl-Sprache, in dem Juan Diego von seinen Begegnungen mit der Jungfrau von Guadalupe erzählt].

Wichtigste Werke auf Spanisch:

  • »Anotaciones y Comentarios«. In: Libro Anual 1981–1982. Mexiko 1984. Inst. Sup. De Estudios Eclesiásticos.
  • La evangelización guadalupana. Mexiko 1987. CENAMI.
  • Para comprender el mensaje de María de Guadalupe. Buenos Aires 1989. Ed. Guadalupe.
  • »El punto de partida de la teología india (oferta de reflexión) «. In: Teología india: I Encuentro Taller Latinoamericano (México 1991). Mexiko/Quito 1991.CENAMI/ Abya Yala. 45–79.
  • »La inculturación del Evangelio«. In: Iglesias, Pueblos y Culturas. Bd. VI, Jg. VI, Nr. 20. Quito 1991. Abya Yala. 335–366.
  • »Simbología y mito en la teología india«. In: Christus No. 668 (1993). 28–35.
  • »Lugares sagrados indígenas«. In: Agenda Latinoamericana 95.
  • »Desafíos de la relectura de la Biblia: la modernidad en la Biblia«. In: AELAPI (Hrsg.). Los pueblos de la esperanza frente al neoliberalismo: Pastoral Indígena. Quito 1997. Abya Yala. 169–187.
  • »Una síntesis sobre las respuestas de los pueblos indígenas al liberalismo«. In: Idem. 114–118.
  • »Antropología e inculturación«. In: Teología India – III. Tercer Encuentro Taller Latinoamericano (Vinto, Cochabamba 1997). Segunda parte: Aportes. Cusco 1998. Herausgegeben von IDEA und IPA in Peru, sowie CTP in Bolivien.

Zur Teología India siehe:

  • Steffens, Elisabeth (2001). »Die Theologien der indianischen Völker Abia Yalas aus der Sicht ihrer Subjekte«. In: Jahrbuch für Kontextuelle Theologien 2001, Frankfurt a.M.: IKO. 193–220.
  • Schreijäck, Thomas (2002). »Auf der Suche nach der Erde ohne Leid«. In: Orientierung 18. 66. 189–193.

Seit Ende der 90er Jahre kam dazu noch die immer schärfer werdende Kritik aus Rom und Opus Dei nahen Kreisen der mexikanischen Kirche an der »indigenen Theologie« (teología india), die maßgeblich von CENAMI und seinem Mitstreiter Eleazar López Hernández vorangetrieben worden war. Die »Bischöfliche Kommission für Indígenas- Fragen« ging immer mehr auf Distanz zu CENAMI, aber heute steht sie wieder voll und ganz hinter den Anliegen der Institution: Förderung der Indígena- Pastoral; Entwicklung einer indigenen Theologie; Ausbildung und Anerkennung von indigenen Priestern; Inkulturation des Evangeliums. Clodomiro Siller vertritt einen theologischen Ansatz, der die Linie der lateinamerikanischen Befreiungstheologie aufgreift und im Sinne der Inkulturation und Indigenisierung von Pastoral und Theologie weiter- führt. Ihm ist es ein Anliegen, die Weisheitstraditionen und religiösen Werte der indigenen Völker Amerikas (dabei schließt er auch Nordamerika ein) ernst zu nehmen und theologisch zu reflektieren. Dabei sind nicht mehr so sehr die Sozialwissenschaften »natürliche« Helfer der theologischen Reflexion, sondern insbesondere die Kulturwissenschaften (Ethnologie und Linguistik).
Siller hat sich insbesondere einen Namen mit der linguistischen und ethnologischen Erforschung des Náhuatl-Textes Nican Mopóhua und dessen kreativer Deutung im Kontext der Guadalupe-Erscheinung gemacht. 2002 fand in Riobamba (Ekuador) eine Art »Hearing « zur teología india statt, unter Beteiligung einer Bischofsdelegation und namhaften Vertretern dieser theologischen Strömung. Anlass war eine Intervention konservativer Kreise, die Rechtgläubigkeit insbesondere von Eleazar López, dem Aushängeschild von CENAMI und der indigenen Theologie, in Zweifel zu ziehen. Clodomiro Siller war mit von der Partie, mit einem Beitrag zu »Mythen, Riten und Wort«. Obwohl die Vertreter der teología india alle Zweifel aus dem Weg räumen konnten, nahm der Druck auf sie immer mehr zu.

Anfang diesen Jahres (2006) wurde Eleazar López von seinem Bischof aus CENAMI abgezogen und in eine Pfarrei der Diözese Tehuantepec »zwangsversetzt«. Auch auf Clodomiro Siller wurde in diesem Sinne Druck ausgeübt, der aus derselben Diözese stammt. Ohne die beiden wäre CENAMI praktisch führungslos und theologisch mundtot gemacht. Für Clodomiro Siller aber ist dies nicht die größte Sorge: »Was im Moment mit Eleazar, mit mir und einigen Bischöfen geschieht, die sich in den Dienst an den Indígenas und den ursprünglichen Völkern gestellt haben, ist nichts im Vergleich zu der Bedrohung ihrer Territorien, der Umwelt, des Wassers, ihrer Möglichkeiten für die Zukunft, Dinge, welche das herrschende System sich anzueignen versucht, um die Globalisierung, in der wir zurzeit leben, voranzutreiben«. Und damit zeigt Clodomiro eindringlich, dass es ihm weder um sich selber, noch um eine bestimmte Theologie, sondern um konkrete Menschen und Völker geht, mit denen er sich schon als kleines Kind identifiziert hat.

JOSEF ESTERMANN
Leiter des Romero-Hauses in Luzern, Schweiz; von 1998 bis 2003 Leiter des Missionswissenschaftlichen Instituts Missio e.V., Aachen