Antônio Aparecido da Silva

Foto: Josef Estermann

Theologie als Studium von Gott? – Das ist eine Anmaßung des Abendlandes. Gott kann man nicht studieren, sondern nur unsere Beziehung zu ihm und die Umstände, unter denen Glaube gelebt und gefeiert wird.«

Dieser provozierende Einwurf anlässlich eines Symposiums von deutschen, französischen und brasilianischen Theologinnen und Theologen ist typisch für den dunkelhäutigen und schmächtigen Antônio Aparecido da Silva, der von Freunden und Bekannten liebevoll »Toninho« (Antönchen) genannt wird. Die bescheidene und humorvolle Art, wie der Brasilianer seine Gedanken vorträgt, lassen beim Publikum die Dynamik und das Revolutionäre seiner Positionen oftmals unbeachtet. Wenn er mal in Fahrt kommt, braucht er weder Manuskript noch die Krücken wissenschaftlicher Akrobatik; dann genügt ihm die Leidenschaft für sein Volk und seine Religiosität, die Afro- BrasilianerInnen.

Gemessen an der Zahl der schwarzen EinwohnerInnen ist Brasilien – nach Nigeria – das zweitgrößte »afrikanische « Land. Im Zuge der Kolonialisierung wurden insgesamt 15 Millionen Sklavinnen und Sklaven aus Afrika gewaltsam nach Amerika verschifft, um in den Plantagen und bei der Rohstoffgewinnung die großen Reichtümer der Kolonialmächte zu erwirtschaften. In Brasilien wurde die Sklaverei erst 1888 abgeschafft. Ironischerweise war der Sklavenhandel Spaniens und Portugals eine indirekte Folge der Anerkennung der »Indios « als Menschen und damit als Zielgruppe der Evangelisierung; um den Wegfall dieser »Seelen« zu kompensieren, holten sich die Kolonialherren Arbeitskräfte aus Afrika. Heute leben rund 80 Millionen Schwarze und MulattInnen in Brasilien, die etwa 43 % der Gesamtbevölkerung ausmachen.

Trotz der unglaublichen Leidensgeschichte und der überall sichtbaren Präsenz sind die Afro-BrasilianerInnen in den Anfängen der Befreiungstheologie kaum wahrgenommen und schon gar nicht als theologische Subjekte ins Blickfeld geraten. Die typische Religiosität von Candomblé oder Umbanda wurde als afro-amerikanischer Synkretismus angesehen, der nicht viel mit dem Christentum und schon gar nichts mit den christlichen Basisgemeinden gemein hat. Doch mit der ethnischen und feministischen Auffächerung der lateinamerikanischen Befreiungstheologie in den neunziger Jahren geriet nicht nur die typisch afro-brasilianische Religiosität, sondern auch die theologische Reflexion und die Aufarbeitung einer schmerzhaften Geschichte ins Blickfeld von Kirchen und TheologInnen. In Nachfolge der südafrikanischen und nordamerikanischen Black Theology versuchten brasilianische Gelehrte, die zwei- oder dreifache Diskriminierung undMarginalisierung theologisch zu durchbrechen und den Schwarzen in Brasilien auch religiös eine Stimme zu geben.

Antônio Aparecido da Silva war praktisch seit der ersten Stunde an vordersten Front mit dabei und gilt heute als einer der herausragendsten und profiliertesten Vertreter der afro-brasilianischen Theologie. Schon in seiner Dissertation befasste er sich – lange vor dem »Hereinbrechen « der Indígenas und Schwarzen in den befreiungstheologischen Diskurs – mit der Frage einer genuin afroamerikanischen Theologie (Teologia Afroamericana: Interdisciplinariedade e Método, São Paulo 1979).Die Schwarzen gehören mit den Indígenas zu den Bevölkerungsgruppen, die nicht nur jahrhundertelang kulturell und bildungsmäßig marginalisiert wurden, sondern immer noch unter Bedingungen extremer Armut leben.

Biographische Daten

  • Geboren 1948 in Brasilien.
  • Wurde 1976 zum Priester geweiht.
  • Erlangte 1979 den Doktortitel in Theologie an der Gregoriana in Rom.
  • Pastoralarbeit unter afro-brasilianischen Gemeinschaften.
  • Von 1982–1995 Berater der Brasilianischen Bischofskonferenz.
  • Von 1983–1988 Rektor der Päpstlichen Theologischen Fakultät der Erzdiözese São Paulo.
  • Gründungsmitglied der brasilianischen TheologInnen-Vereinigung SOTER (1985).
  • Begründer und Präsident des Centro Atabaque de Cultura Negra e Teologia (1992).
  • Seit 1980 Professor an der Päpstlichen Theologischen Fakultät der Erzdiözese São Paulo.
  • Mitglied von EATWOT, der ökumenischen Vereinigung von Dritte-Welt-TheologInnen.
  • Mitglied der afro-theologischen Reflexionsgruppe der lateinamerikanischen Ordensgemeinschaften (CLAR).
  • Mitglied der südamerikanischen Vereinigung interkultureller Theologie und Philosophie (ASAFTI).

Eine Auswahl von Publikationen

  • Teología Afroamericana: Interdisciplinariedade e Método, São Paulo 1979.
  • Ministérios e teologia. Os ministérios nas epístolas pastorais, o papel da mulher como pessoa nos ministerios, São Paulo 1985.
  • La teología moral y la cuestión negra, in: Páginas, 13 (1988) 89– 94, H. 89–90, 67– 83.
  • Níveis de consciência na comunidade afro-brasileira. Reflexões ético-sociais, São Paulo 1989.
  • Jesus Cristo luz e libertador do povo Afro-Americano. Ensaio de cristologia experiencial, in: Revista Eclesiástica Brasileira, 56 (1996) 221–224, H. 223, 636–663.
  • Elementos e pressupostos da reflexão teológica a partir das comunidades negras no Brasil, in: Atabaque/ ASETT (Hrsg.), Teologia Afro-Americana. II Consulta Ecuménica de Teologia e Culturas Afro-Americana e Caribenha, São Paulo 1997.
  • Aparecido da Silva, Antonio; Frisotti, Heitor; Pires, José María, A presença afro no IX intereclesial, in: Revista Eclesiástica Brasileira, 57 (1997) 225–228, H. 228, 843– 856.
  • Existe um Pensar Teológico Negro?, São Paulo 1998.
  • Caminos y contextos de la teología afro en el panorama de la teología Latinoamericana, Navarra 2001.

Andererseits ist die afro-brasilianische Gemeinschaft durch eine sehr lebendige religiöse Ausdrucksform und einen großen kulturellen Reichtum gekennzeichnet, die beide unauslöschlich in die brasilianische Volksseele eingegangen sind. Die afro-amerikanische Theologie, die sich seit rund drei Jahrzehnten im Prozess der Artikulation und Ausarbeitung befindet, hat diesen doppelten Kontext als Hintergrund und hermeneutischen Bezugspunkt: die ökonomische Armut einerseits und der kulturelle Reichtum andererseits. Es handelt sich also um eine kontextualisierte Theologie, die aus der Pastoralarbeit mit der afrikanisch stämmigen Bevölkerung Brasiliens erwachsen ist und diese reflektierend begleiten soll. Mit der klassischen Befreiungstheologie hat sie die methodologischen und hermeneutischen Grundlagen gemein, unterscheidet sich aber in der inhaltlichen Schwerpunktsetzung. »Toninho« betrachtet sich als authentischen Vertreter der lateinamerikanischen Befreiungstheologie.

Zusammen mit der indigenen und feministischen Theologie bezeichnet Aparecido da Silva die afro-amerikanische Theologie Lateinamerikas und der Karibik als »interaktive Theologie«, die sich als Scharnier des interkulturellen und interreligiösen Austauschs versteht. Die ökonomische Armut und die kulturelle Marginalisierung der schwarzen Bevölkerung in Lateinamerika sind Ausgangspunkt und Ort des theologischen Nachdenkens. Die ursprüngliche Religiosität des afrikanischen Kontinents ging im Laufe der Zeit einen fruchtbaren Dialog mit der vorwiegend katholischen Frömmigkeit portugiesischen Ursprungs ein und brachte religiöse Symbolwelten hervor, die von den Wächtern der reinen Lehre oft als »Synkretismus« oder »Paganismus« bezeichnet wurden. »Toninho« hat als katholischer Theologe keine Berührungsängste mit der Volksseele und deren rituellem Ausdruck; durch seine Arbeit leistet er einen unabschätzbaren Beitrag bei der Inkulturation oder Inter-Kulturation der befreienden christlichen Botschaft.

Über Brasilien hinaus gilt Antônio Aparecido da Silva als treibende Kraft in der Vernetzung afro-amerikanischer theologischer Ansätze und eines noch zögerlichenDialogs mit den kontextuellen Theologien Schwarzafrikas. 1992 errichtete er deshalb – zusammen mitWeggefährtInnen – das Centro Atabaque de Cultura Negra e Teologia, das sich zum Ziel gesetzt hat, die afro-amerikanischen Theologinnen und Theologen in Lateinamerika und der Karibik, aber auch innerhalb von Brasilien zu vernetzen und damit zu einer unüberhörbaren Stimme in den christlichen Kirchen zu werden. Atabaque organisiert die Folgekonferenzen des erstmals 1985 in Rio de Janeiro stattgefundenen ökumenischen Konsultationstreffens von afro-amerikanischen und karibischen Theologien und Kulturen. Das zweite fand 1994 in São Paulo, und das dritte findet vom 20. bis 24. Oktober 2003 ebenfalls in São Paulo statt. Daneben gibt es inzwischen regelmäßige afro-amerikanische und karibische Pastoraltreffen (EPA); das neunte fand kürzlich in Peru statt.

Die afro-amerikanische Theologie hat bisher drei Phasen durchlaufen: In einer ersten Phase (achtziger Jahre) ging es um eine Theologie der Geschichte, um die Wiedergewinnung des historischen Gedächtnisses als Ausgangspunkt für Befreiung und Selbstbewusstsein. Dabei lehnte sich die theologische Reflexion eng an den befreiungstheologischen Diskurs an. In der zweiten Phase (neunziger Jahre) ging es primär um die Identitätsfrage und die Dekonstruktion der von außen auferlegten Bestimmungen. Die Auseinandersetzung mit der biblischen Tradition und afrikanischer Religiosität stand dabei im Mittelpunkt. In einer dritten Phase schließlich versucht die afro-amerikanische Theologie sich mit anderen kontextuellen Ansätzen zu verbinden und den interkulturellen und interreligiösen Dialog aufzunehmen. Nicht zuletzt tauchen dabei ernsthafte Anfragen an und Herausforderungen für die akademische Theologie abendländischer Prägung auf: Es handelt sich nicht um eine zerebrale oder konzeptuelle, sondern eine körperliche und symbolische Theologie. Also um ein Denken, das nicht Gott zum Gegenstand, sondern als Ausgangspunkt die gläubige afro-brasilianische Frau und den gläubigen afro-brasilianischen Mann hat, die unter Armut und Diskriminierung leiden und trotzdem die Hoffnung als Richtschnur für ihr Handeln und Feiern haben. Mit den Füßen und dem Bauch Theologie betreiben – eine afrobrasilianische Anmaßung?

JOSEF ESTERMANN
Leiter des Romero-Hauses in Luzern, Schweiz; von 1998 bis 2003 Leiter des Missionswissenschaftlichen Instituts Missio e.V., Aachen