Gemma Tuluz Cruz

Foto: privat

Eine gute Theologin hat die Bibel in der einen und die Tageszeitung in der anderen Hand. Dass Gemma Tulud Cruz diese Redensart gerne zitiert, sagt viel über ihr Theologieverständnis aus. Doch mit einer Tageszeitung käme die philippinische Theologin nicht aus. Aufmerksam verfolgt sie nicht nur die politischen Ereignisse in ihrer philippinischen Heimat, die sie vor einigen Jahren verließ, um in den Niederlanden den Doktorgrad in interkultureller Theologie zu erwerben. Als eine Wanderin zwischen den Welten ist sie zugleich eine scharfsichtige Beobachterin der kirchlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse in ihrer augenblicklichen Wahlheimat Europa. In einem Beitrag im National Catholic Reporter, für den sie regelmäßig schreibt, setzt sie sich in Anspielung auf das Gleichnis vom verlorenen Sohn mit »Europa: Dem verlorenen Kontinent« auseinander. Was bedeutet es, wenn das »christliche« Europa zunehmend zum Ziel von Missionarinnen und Missionaren aus den ehemals missionierten Ländern wird, wenn die Ordensgemeinschaften auf den Nachwuchs aus dem Süden angewiesen sind und die dynamischsten Impulse von den wachsenden Migrantenkirchen ausgehen? Geboren 1970 im Norden der Philippinen, beginnt Gemma Cruz früh, sich für Theologie zu interessieren. Wenn sie sich an die Anfänge ihrer theologischen Reise erinnert, hat sie das Bild einer staubigen, in der Regenzeit kaum passierbaren Straße vor Augen. Ihr Weg führt sie in einen abgelegenen Barrio zu einer Schule, wo sie neben ihrem Studium als Katechetin arbeitet. Hier sieht sie erstmals mit der erdrückenden Armut vor allem in den ländlichen Regionen ihrer Heimat konfrontiert. Sie erlebt die konfessionellen Spannungen und erfährt, dass Religion auch ausgrenzen und die Menschen einander entfremden kann. »Trotz dieser frühen Erfahrungen«, so sagt Cruz heute, »habe ich eine ganze Zeit gebraucht, um die tiefe Verbindung zwischen den Lebensumständen der Menschen und der Religion, zwischen der Armut und Ungerechtigkeit und dem Christentum zu erkennen.« Cruz ist dankbar für ihre qualifizierte theologische Ausbildung, die es ihr ermöglichte, diese Verbindung herzustellen und die bedrückende Lebenswirklichkeit so vieler Menschen auf den Philippinen im Licht des Evangeliums neu zu deuten. »Meine Professoren haben mir geholfen, das Christentum als eine Religion mit einem menschlichen Antlitz zu entdecken, eine Religion, die in einer Welt, in der Armut und Ungerechtigkeit die Menschheit an den Abgrund führt, einen Unterschied machen kann.« Wirklich lebendig aber sei die Theologie für sie erst geworden, als sie das Studierzimmer verlassen habe, um den Menschen auf der Straße, in den Fabriken, in den Gefängnissen zu begegnen. »Die Lebensbedingungen der Fischer und Slumbewohnerinnen, der Arbeiter und Bäuerinnen, der missbrauchten Frauen und Kinder werfen die Frage nach der fundamentalen Vision jeglicher Religion auf: Das Wohlergehen eines jeden Menschen. Die konkreten Erfahrungen dieser Menschen haben meine theologische Ausbildung bereichert. «Ihr soziales Engagement öffnet Gemma Cruz die Augen für die schwierige Lage der Frauen in ihrer Heimat und damit auch für die feministische Theologie, die sie bis heute prägt. Als Lehrerin entdeckt sie ihre Berufung, ihre Studentinnen zu ermutigen über die eigene kleine Welt hinaus zu wachsen und sensibel zu werden nicht nur für die eigenen Bedürfnisse, sondern für die Nöte der anderen. Wer ihr begegnet, versteht, warum sie während ihrer Tätigkeit als Dozentin am Assumption College in Makati City wiederholt als »hervorragende Lehrerin des Jahres« geehrt wurde.

Biographische Daten

  • geboren 1970 im Norden der Philippinen – Pädagogische und theologische Studien in Manila, Quezon City und Nijmegen
  • 1991–1993 Dozentin für Englisch an der Saint Mary’s Academy, Pasay City, Philippinen
  • 1993 – 2002 Dozentin für Religion am Assumption College, Makati City, Philippinen
  • 2001 MA in Theologie an der Maryhill School of Theology, Quezon City
  • 2002 – 2006 Doktorat an der Radboud Universität, Nijmegen, Niederlande
  • 2004 Gastdozentin Migration Theology Class an der Catholic Theological Union, Chicago, USA

Eine Auswahl von Publikationen

Auf Deutsch erschienen:

  • Befreiende Theologie: Gewalt gegen Frauen in der Ehe als Herausforderung für die christliche Theologie, in: Hyondok Choe und Annette Meuthrath (Hrsg.), Das Schweigen brechen: Asiatische Theologinnen ringen um die befreiende Dimension des Glaubens, Freiburg i. Br. [u. a.] 2005 (Theologie der Dritten Welt 33), 48–65.

Wichtigste Werke auf Englisch:

  • Our Bodies, Ourselves: Towards an Embodied Spirituality for Women, in: In God’s Image Vol. 22, No. 2 (June 2003) 3–6.
  • Beyond the Borders, Beyond the Margins: Filipino Migration and its Challenges to Doing Mission, World Mission (March 2004): 21–26. Also available at Link
  • Migration in the Asian Region: Retrospect and Prospects «, in: Raúl Fornet-Betancourt (Hrsg.), Migration and Interculturality: Theological and Philosophical Challenges, Aachen: 2004, 21–30. Also available at Link
  • The Power of Resistance: An Inquiry into the Power of the Power-less, in: CTC Bulletin (December 2004) 131–7.
  • Gendering the quest for global economic justice: The challenge of women labor migration to christian theological reflections, in: Voices from the third world 28 (2005) 128–146. Deutsch in: Sandra Lassak and Katja Strobel (Hrsg.), Von Priesterinnen, Riot Girls und Dienstmädchen. Stimmen für eine feministische Globalisierung von unten, Münster: 2005.
  • The Habit of Surviving: A Look at Migrant Women’s Spirituality, in: In God’s Image Vol. 24, No. 2 (June 2005): 13–20.
  • Migration as a New Frontier for Mission: The Filipino Experience, in: The Japan Mission Journal (Spring 2005): 58–66.
  • Response to Elisabeth Schüssler Fiorenza, in: Journal for Feminist Studies in Religion Vol. 21, No. 1 (Spring 2005) 141–46.

»Erziehung, vor allem theologische Erziehung, war und ist für mich immer Bewusstseinsbildung«, erklärt Cruz, die heute Mitglied des Bildungsausschusses der Frauen- und Genderkommission der Association of Major Religious Superiors of the Philippines ist. »Wenn Theo logie zu treiben bedeutet, sich mit den Zeichen der Zeit auseinander zu setzen, dann muss theologische Erziehung über abstrakte Diskussionen dogmatischer Fragen hinausgehen. Es geht darum Beziehungen aufzubauen und die Grundsätze unseres Glaubens kritisch im Licht der Realität zu analysieren. Wir müssen lernen, nicht nur über Metaphysik zu sprechen, sondern über die Ästhetik der Existenz.« Theologie dürfe darum, so Cruz durchaus selbstkritisch, nicht das Monopol von Priestern, Ordensleuten oder akademisch qualifizierten Laien bleiben. Lieder, Gedichte, Geschichten und Zeugnisse der kleinen Leute sind für sie der Stoff, aus dem eine inspirierende und prophetische Theologie gewebt werden muss. Theologie habe immer wieder darauf zu insistieren, dass die letzte christliche Erfahrung der göttlichen Heilsökonomie die Liebe und das Leben und nicht das Leiden und der Tod sind. Dieser Anspruch leitet auch ihre eigene Suche nach einer befreienden Spiritualität und Theologie. Cruz findet ihre Themen im Alltag ihrer Mitmenschen. Der Blick in die ausdruckslosen Gesichter der an Leib und Seele erschöpften Menschen, die sich in Makati City nach einem langen Arbeitstag in die überfüllten Kleinbusse drängen, um irgendwo etwas Ruhe zu finden, lässt sie nach den Merkmalen einer befreienden Spiritualität des Leibes suchen. Gegen die Körpervergessenheit der Theologie reklamiert sie als Ausgangspunkt ihres theologischen Nachdenkens, was Frauen weltweit und besonders in Asien am eigenen Leib erfahren. Tag für Tag werden die Körper asiatischer Frauen auf dem Altar der produktiven und reproduktiven Arbeit geopfert, schreibt Cruz. Wie und wo können wir in diesem langsamen Sterben die lebendige Gegenwart Gottes erfahren, wie dem Heiligen begegnen? Die Leidensgeschichten der misshandelten Ehefrauen, die in einem Krisenzentrum für Frauen auf den Philippinen Zuflucht suchen, begreift sie als Herausforderung der Transformation einer Theologie, die mit ihren Symbolen, Bildern, Metaphern, Strukturen und biblischen Traditionen der häuslichen Gewalt nichts entgegenzusetzen hat, sondern sie verstärkt.

2002 entschließt sich Cruz, ihre philippinische Heimat für einige Jahre zu verlassen, um ihre theologische Ausbildung in Europa fortzusetzen. Die Möglichkeit, im Rahmen ihrer Studien zu reisen und auf internationalen Konferenzen aufzutreten, empfindet sie als Geschenk und Chance, ihren eigenen Horizont zu erweitern und in der Auseinandersetzung vor allem mit Theologinnen aus anderen sozialen und kulturellen Kontexten ihre eigene theologische Perspektive zu schärfen. Unbehagen bereitet ihr die zunehmende Verquickung von Religion und Nationalismus, von der auch die philippinische Befreiungstheologie der 80er Jahre, die Theologie des Kampfes, nicht frei sei. Gegen die Versuchung, sich durch nationalistische Interessen vereinnahmen zu lassen, plädiert Cruz für eine interkulturelle Perspektive, die die Verschiedenheit und Heterogenität im theologischen Diskurs anerkennt und gleichzeitig die transnationale Organisation als einen Ort des Widerstands gegen die destruktiven Auswirkungen der Globalisierung versteht. Zu diesen Auswirkungen zählt gerade aus philippinischer Sicht das Phänomen der zunehmend feminisierten weltweiten Migration, das Cruz in den letzten Jahren in besonderem Maße beschäftigt hat. Domestic workers sind in den reichen Dienstleistungsgesellschaften dieser Welt zunehmend gefragt. Bezahlte Haushaltsarbeit fördert weltweite Wanderungsbewegungen. Überall dort, wo die Einkommensschere auseinander geht, entwickelt sich eine steigende Nachfrage nach Haushaltshilfe. Nahezu 10 % der philippinischen Bevölkerung leben derzeit außerhalb ihrer Heimat. Für Cruz muss die Arbeitsmigration von Frauen und der einträgliche Handel mit Hausmädchen die Theologie herausfordern, Position zu beziehen und sich kritisch mit ihren eigenen Grundannahmen auseinander zu setzen, die eine derartige Ausbeutung von Frauen zumindest begünstigt. Besonders in einer stark christlich geprägten Kultur wie der philippinischen trage das traditionelle Verständnis weiblicher Tugenden und der Berufung der Frau zur Mutter und Hausfrau dazu bei, Migrantinnen zu marginalisieren. Sich als Theologin mit dem Phänomen der Migration zu beschäftigen, bedeutet für Cruz jedoch vor allem, die Betroffenen nicht nur als Opfer von Ausbeutung, Diskriminierung und Isolation wahrzunehmen. Es gehe vielmehr darum, sich selbst von ihrer spirituellen Stärke und Glaubensgewissheit berühren und anfragen zu lassen. Die Spiritualität der Migrantinnen sei Ausdruck einer mutigen Hoffnung, eines kreativen Widerstands und eines unerschütterlichen Glaubens. »Ich bin davon überzeugt«, erklärt sie, »dass die Migrantinnen uns lehren können, was ›Leben in Fülle‹ heute bedeutet und wie wir zu unserer eigenen Menschlichkeit finden können.« Entfaltet hat Cruz diese Überlegungen in ihrer Dissertation, die nach einem dreijährigen Studienaufenthalt an der Radboud Universität in Nijmegen kurz vor dem Abschluss steht. Im Zentrum der Arbeit steht die theologische Reflexion der Situation der Frauen, die ihre Familien auf den Philippinen verlassen haben, um in Hongkong als Hausangestellte zu arbeiten. Für ihren Artikel: »Ein Brot, ein Leib, ein Volk. Die theologischen Herausforderungen der Migration« erhielt sie 2005 den renommierten Preis der Amerikanischen Katholisch-Theologischen Gesellschaft für den besten theologischen Artikel des Jahres. Die klassische Definition der Theologie lautet »Glaube, der das Verstehen sucht«. Nach Ansicht von Gemma Cruz brauchen wir heute eine prophetischere Haltung. Theologie ist für sie faith seeking empowering understanding – Glaube, der das Verstehen sucht, das Menschen ermächtigt, so zu handeln, wie es der göttlichen Heilsökonomie der Liebe entspricht.

KATJA HEIDEMANNS
Abteilungsleiterin Spendenkommunikation bei missio Aachen