Léon Diouf

Foto: Léon Diouf

Als junger Priester und Dozent am Priesterseminar von Dakar nimmt Léon Diouf im Juli 1968 an der 4. Theologischen Woche von Kinshasa teil, die sich der Frage nach einer »Afrikanischen Theologie« widmet – ein Thema, das Léon Diouf fortan ins Zentrum seines Lehrens, Forschens und Arbeitens rückt. Ein zentraler Begriff dabei ist die »Inkulturation«, die Ausbildung eines afrikanischen Christentums, was Léon Diouf mit der Frage nach Armutsbekämpfung und Entwicklung sowie mit der Öffnung für andere Religionen und Kulturen verknüpft.

In diesem Sinne hatte das kurz zuvor beendete Zweite Vatikanische Konzil Türen geöffnet. In seiner Rezeption ging es für die afrikanischen Ortskirchen darum, die europäische Prägung durch Kolonisierung und Mission zu überwinden und »afrikanisch« zu werden, aus afrikanischen Wurzeln zu leben und eigene Antworten auf die sich in ihrem jeweiligen Kontext stellenden Fragen und Herausforderungen zu finden.

Léon Diouf ist in dieser Zeit Seelsorger an der Kathedrale von Dakar, Generalvikar der Erzdiözese und Professor und später Rektor am dortigen Priesterseminar Libermann. Er gründet eine Gruppe »Recherche africaine de théologie«, die sich regelmäßig trifft und zu Themen wie schwarzafrikanische Werte, traditionelle religiöse Riten, die neue gesellschaftliche Ordnung im Senegal, Zusammenarbeit mit der muslimischen Gemeinschaft oder das Heilige, Eros und Gewalt in Schwarzafrika arbeitet. Entstanden ist ein zweibändiges Werk, das leider nie veröffentlicht wurde.

Nach einer kurzen Pastoralerfahrung in Mbour, wo er verschiedene Selbsthilfeprojekte für ländliche und urbane Bevölkerungsgruppen unterstützt, wird Léon Diouf Rektor am »Institut Catholique de l’Afrique de l’Ouest« in Abidjan, das von der Vereinigung der frankophonen westafrikanischen Bischofskonferenzen CERAO (zu der 10 Länder gehören) unterhalten wird. Auch hier lassen ihn die Fragen nach Armut und Entwicklung, nach materieller Ausstattung der Universität und einer Neugestaltung der Nord-Süd- sowie der Süd-Süd-Beziehungen nicht los.

So geht er nach Ende seines Rektormandats nach Indien, wo er zunächst in Shillong die traditionelle indische Kultur der Munda kennen lernt und dann bei Michael Amaladoss SJ am Vidyajyoti College in Delhi promoviert. In seiner Doktorarbeit mit dem Titel »Eglise locale et crise africaine« betrachtet Léon Diouf die Theorie der Inkulturation vor dem Hintergrund der Realität in seinem Heimatland Senegal. Er stellt fest, dass es den Ortskirchen in Afrika offensichtlich nicht gelungen ist, Wege aus der andauernden Krise in Afrika zu weisen. Sein Land Senegal mit den bekannten statistischen Daten (Lebenserwartung, Kindersterblichkeit, Analphabetenrate, Pro-Kopf-Einkommen, Verarmung) ist dabei ein Beispiel für diese Krise, auch wenn es afrikanische Länder gibt, denen es noch wesentlich schlechter geht. Die Herausforderung für die Kirche im Senegal und in Afrika im Allgemeinen sieht Diouf darin, ein tieferes Verständnis von Inkulturation zu entwickeln, mit dem die Kirche ihren Beitrag zum »Redressement«, zum Aufrichten Afrikas leisten kann – im Sinne der Heilung der gekrümmten Frau am Sabbat (Lk 13,10–13), die »sich aufrichtete und Gott pries« (Lk 10,13).

Für einen solchen Beitrag muss die Kirche im Senegal, die nach Léon Diouf »zur gleichen Zeit wie die afrikanische Krise geboren ist«, eine Hermeneutik der Inkulturation entwerfen, die sowohl von der Botschaft des Evangeliums als auch von der afrikanischen Krise ausgeht. Entscheidend dabei ist, Antworten auf die sich aus dem Kontext ergebenden Fragen zu finden, was natürlich eine differenzierte Wahrnehmung dieses Kontextes, von Diouf als afrikanische Krise bezeichnet, erfordert.

Biographische Daten

  • geboren 1934 in Fadiouth, Senegal
  • Schulausbildung in Fadiouth und Dakar
  • Studium der Philosophie und Theologie im Priesterseminar Libermann in Sébikhotane
  • 1962– 65: Theologiestudium in Rom, Lizentiat
  • 1964: Priester der Erzdiözese Dakar
  • 1966 –69: Pastorale Tätigkeit an der Kathedrale von Dakar
  • 1969 –72: Generalvikar der Erzdiözese Dakar
  • 1972–80: Dozent und Vize-Rektor am Priesterseminar Libermann in Sébikhotane
  • 1980 –92: Rektor am Priesterseminar Liberman in Sébikhotane
  • 1993– 94: Pfarrer an Ste. Marthe in M’bour
  • 1994– 97: Rektor des »Institut Catholique de l’Afrique de l’Ouest« in Abidjan, Côte d’Ivoire
  • 1997–2000: Promotionsstudium in Theologie bei Michael Amaladoss SJ am Vidyajyoti College in Delhi, Indien, Promotion in Theologie mit einer Arbeit über »Eglise locale et crise africaine: Dakar. Contribution aux stratégies de sortie de la crise«, Delhi 2000
  • seitdem in der Erzdiözese Dakar u. a. verantwortlich für das »Secrétariat Episcopal de Pastorale sociale et religieuse« (SEP) und die Umsetzung der pastoralen Leitlinien (»Directives et Orientations Pastorales«).

Eine Auswahl von Publikationen

Auf Französisch erschienen:

  • De l’inculturation ou de l’incarnation de l’évangile?, in: La Voix (1986) No. 1, 10–16.
  • Passion du Christ dans les peuples de l’Afrique, in: Revue de l’Institut Catholique de l’Afrique de l’Ouest (1996) No. 14–15, 11–14.
  • Deuxième réponse à la présentation de Mgr. Sarah, in: Pro dialogo (1997) No. 96, 60– 64.
  • De Dakar à Delhi. Une expérience de dialogue Sud-Sud, in: Jahrbuch für kontextuelle Theologien 7 (1999) 31–65.
  • Église locale et crise africaine. Le diocèse de Dakar, Editions Karthala (Paris 2001).
  • Mesures pour construire la paix dans une société traditionelle africaine, in: Ressources for peace in traditional religions, Acts of the Colloquium, Rome, 12–15 January 2005, Pontifical Council for Interreligious Dialogue (Vatican 2006) 59 –80.

Auf Englisch erschienen:

  • Globalization and its cultural underpinnings, in: Globalization as and its victims as seen by the victims, ed. Michael Amaladoss SJ, ISPCK (Delhi 1999) 104–121.
  • Don’t uproot the wheat along with the weeds, in: Sevartham 24 (1999) 87– 96.
  • The local church in a developing country: Dakar. Her contribution to the ways of emerging from the African crisis, in: Sevartham 25 (2000) 51–58.

Und was wird »inkulturiert«? Nicht das kulturlose Evangelium (das es nicht gibt – es ist immer kulturell vermittelt), nicht die universale Kirche, die es nur in der gelebten Communio der Ortskirchen geben kann, sondern das Kerygma des Todes und der Auferstehung Jesu Christi, und zwar als die Verkündigung einer befreienden Botschaft an eine marginalisierte und niedergedrückte Gemeinschaft. In diesem Sinne sind die Seligpreisungen (Mt 5, 3–12) genuine Missionstexte: »Selig, die arm sind vor Gott, denn ihnen gehört das Himmelreich. Selig die Trauernden, denn sie werden getröstet werden.… Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, denn sie werden satt werden.«

Die erforderliche Antwort auf die Herausforderungen des Kontexts gibt es nicht im Vorhinein, vielmehr erwächst sie erst aus den Hoffnungen von Afrikanerinnen und Afrikanern auf ein besseres Morgen, auf ein Reich Gottes, dem sich die Kirche im Dienst an der Begegnung Gottes mit der Welt verpflichtet weiß. Bei diesem im Sinne der Konzilskonstitution Gaudium et spes dialogisch ausgerichteten Verhältnis von Kirche und Welt sind gerade die religiösen Kräfte Afrikas zur Meisterung der Krise zu mobilisieren. Evangelisierung bedeutet, das Heil in Jesus Christus zu verkünden, »das sich auch in der Befreiung der Armen und im Dialog mit allen, die Gott suchen, ereignet.«

Beeindruckt von der Tatsache, dass Indien stolz auf seine Kultur ist und sich trotz Kolonisierung und Ausbeutung nicht von seinen kulturellen und religiösen Wurzeln trennen ließ, plädiert Diouf für einen interreligiösen Dialog zwischen dem Christentum und den traditionellen afrikanischen Religionen, deren Erbe im Herzen jeder Afrikanerin und jedes Afrikaners lebendig ist. Nur mithilfe eines solchen Dialogs lässt sich das Aufeinanderprallen zwischen Tradition und Moderne, das Gesellschaft, Politik und Kirche im Senegal bestimmt, konstruktiv gestalten. Ein Beispiel für eine solche Herausforderung wäre im Sinne von Eboussi Boulaga eine »refondation du politique«, eine Neubestimmung des Politischen etwa durch eine afrikanische Form der Demokratie. Denn die senegalesische Republik nach französischem Vorbild ist zwar gekennzeichnet durch eine relative politische Stabilität, aber auch durch eine nach wie vor große Abhängigkeit von der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich und eine hohe Disparität in der Verteilung des Wohlstands auf Stadt und Land.

Diouf schreibt: »Jenseits der wirtschaftlichen und politischen Widersprüche und Zwänge scheint mir der beste Weg zur Überwindung der geistigen Kolonisierung, die wir Afrikaner selber aufrechterhalten, die Begegnung der Kulturen zu sein, insbesondere die Begegnung zwischen der afrikanischen Tradition und der Moderne… Der Ausweg aus der afrikanischen Krise liegt darin, die traditionellen afrikanischen Werte in den modernen Institutionen zur Geltung zu bringen.«

Eine weitere Herausforderung ist der muslimischchristliche Dialog, der im Senegal in vielen Bereichen, etwa im Einsatz gegen HIV und Aids, ohne große Konflikte auf der Ebene des »Dialog des Lebens« möglich ist. So ist Diouf kirchlicher Berater des Sida-Service, der erfolgreich mit muslimischen Organisationen im Bereich von HIV-Prävention zusammenarbeitet.Theologische Voraussetzung ist hier eine Theologie des religiösen Pluralismus, die die Rolle der nichtchristlichen Religionen in der Heilsgeschichte und damit im Streben nach dem Reich Gottes positiv bewertet. Nach Rückkehr in seine Ortskirche übernimmt Diouf das »Secrétariat Episcopal de Pastorale sociale et religieuse« (SEP), wo er für die Ausbildung der in der Kirche tätigen Laien zuständig ist, sowie die Leitung der Kommission für Evangelisierung und Inkulturation, der es im Sinne einer Kirche als Familie Gottes um die Umsetzung der Resolutionen der Ersten Afrikasynode über die Evangelisierung zu tun ist.

Auf der Ebene der CERAO arbeitete er zusammen mit Viktor Ndiaye im »Observatoire des conflits«, wo es um Lösungsstrategien angesichts der Konflikte in der Casamance sowie zwischen Senegal und den Nachbarländern Mauretanien und Guinea-Bissau ging.

Ebenfalls auf der Ebene der CERAO entwickelte er gemeinsam mit deren Generalsekretär Barthélémy Adoukonou einen Pastoralplan (»Plan d’Action Pastoral Stratégique«) für die Mitgliedkirchen, dessen Umsetzung er in verschiedenen Diözesen begleitete. Von den vier Zielen: Gemeinschaft, Liturgie, Zeugnis und Dienst, liegt ein Schwerpunkt auf dem letzteren, der Diakonia, die eng mit der Frage der finanziellen Mittel und Eigenständigkeit einer Ortskirche zusammenhängt. Hier ist für Léon Diouf klar, dass eine Kirche in einem armen Land notwendigerweise auch in materieller Hinsicht das Schicksal ihres Landes teilt. Wenn sie sich auf die Seite der Armen stellt, wird diese Armut ihr eigen sein.

Dies soll und wird sie natürlich nicht davon abhalten, weiterhin Fortschritte in der Entwicklung des Landes und seiner Menschen anzustreben. Léon Dioufs jüngste Aufgabe hat wieder damit zu tun: In der Nähe von Ziguinchor soll er die senegalesische Universitätseinheit der »Université Catholique de l’Afrique de l’Ouest« mit einer Fakultät für Wirtschaftswissenschaften aufbauen.

Im Dialog mit Menschen anderer Glaubensüberzeugungen ist die Ortskirche in Afrika und anderswo aufgerufen, die »Verkrümmten« aufzurichten, sie aus jedweder unmenschlichen Situation herauszuführen und ihnen konkrete Wege des Lebensbewältigung mithilfe der ihnen eigenen Kräften zu weisen, – ein Auftrag, dem sich Léon Diouf seit mehr als 40 Jahren verpflichtet weiß.

MARCO MOERSCHBACHER
Dr. theol., Afrikareferent am Missionswissenschaftlichen Institut Missio e.V., Aachen