»Wir schwarzen Afrikaner hatten das Land, die Weißen die Bibel. Der weiße Mann sagte uns: ›Lasst uns beten!‹ Nachdem wir die Augen zum Gebet geschlossen hatten, war es umgekehrt: Die Weißen hatten das Land, wir die Bibel.« Für Musa Dube, Aktivistin und Theologin aus Botswana, bringt diese populäre afrikanische Redensart aus der Zeit der Unabhängigkeitskämpfe und Befreiungsbewegungen die Problematik auf den Punkt. Die renommierte Bibelwissenschaftlerin und international gefragte Referentin kann die Bibel nicht von der Funktion trennen, die sie für die europäische Kolonialpolitik und ihre Machtinteressen in Afrika hatte – auch wenn sie heute dank der Aneignung durch christliche Gemeinschaften in Afrika ein afrikanisches Buch sei. Für Dube steht fest: Imperien wurden und werden nicht nur durch Waffen aufgebaut und niedergerissen, sondern hauptsächlich durch Textpraktiken des Schreibens und Interpretierens. Interpretative Praktiken können eine Kolonisierung des Geistes bewirken, da die Kolonisierten ihrer Heimat und ihrer Kultur entfremdet werden und dadurch weitreichende Identitätskrisen erleiden. In diesem Sinne sei die Bibel als eine kanonische Schrift nicht nur ein befreiendes, sondern auch ein kolonisierendes Buch gewesen.
Geboren und aufgewachsen in einer Zeit, in der Botswana seine Unabhängigkeit von der britischen Kolonialmacht erlangte, ist Dube geprägt von der Erfahrung, sich als Christin gegenüber ihren politischen Mitstreiterinnen und Mitstreitern für ihren Glauben rechtfertigen zu müssen. »Ob an der Highschool oder in Befreiungsbewegungen, ständig wurden wir aufgefordert, die ethischen Grundlagen unserer Religion zu erklären und uns dafür zu rechtfertigen, den Glauben des Feindes zu teilen,« schreibt sie in ihrer 2000 erschienenen Doktorarbeit »Postcolonial feminist interpretation of the Bible«. Bis heute ist Dubes Arbeit mit biblischen Texten Ausdruck jenes Misstrauens, das die heute an den Claremont Colleges in den USA lehrende Professorin in einem zusammen mit Gerald West herausgegebenen Grundlagenwerk über die »Bibel in Afrika« als verbreitete Lesestrategie vieler afrikanischer Leserinnen und Leser bezeichnet. Dabei geht es Dube keinesfalls nur um die exegetisch geschulte Analyse biblischer Texte. Vielmehr interessieren die Wissenschaftlerin vor allem die »anderen Wege, die Bibel zu lesen«, wie der Titel eines von ihr herausgegebenen Buches über die Lese- und Interpretationspraktiken von Frauen in Afrika lautet. Was etwa bedeutet es, wenn Frauen in den Afrikanischen Unabhängigen Kirchen dem Hören des ungeschriebenen Wortes des Geistes Vorrang vor dem geschriebenen Wort der Bibel einräumen und auf diese Weise unterschiedliche religiöse Traditionen kreativ integrieren?
Musa Dubes Bemühen, die Stimmen von Frauen aus zahlreichen Traditionen wiederzugewinnen und neu zu interpretieren, stehen wie ihr gesamtes wissenschaftliches Werk in der Tradition postkolonialer Theoriebildung, nach der Imperialismus und Kolonialismus eine allgegenwärtige Wirklichkeit darstellen, der kein wissenschaftlicher Diskurs zu entkommen vermag. Ausgangs- und Bezugspunkt ihrer Analyse und Auslegung ist die Erfahrung der Landbesetzung bzw. des Landverlustes, sei es durch die koloniale Expansion vergangener Zeiten oder infolge ökonomischer Globalisierung und militärischer Intervention heutzutage. Das gewaltsame Eindringen in fremdes, bewohntes Land war und ist für Dube der unmittelbarste Ausdruck imperialer Macht. Konsequenterweise kreisen ihre Anleitungen zum Umgang mit Texten immer wieder um die Frage, wer die Kontrolle über das Land und seine Ressourcen ausübt. Für die Wissenschaftlerin darf sich der Anspruch einer postkolonialen Theologie nicht auf den Umgang mit Texten beschränken, sondern muss auf eine Veränderung konkreter Lebensverhältnisse zielen. Es gelte einen Weg zu suchen, die vorhandenen Beziehungen und Abhängigkeiten zwischen Geschlechtern, Ethnien, Nationen und Wirtschaftsformen in befreiender Weise zu gestalten.
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Seit dem Erscheinen ihrer Doktorarbeit, die innerhalb kürzester Zeit zu einem Grundlagenwerk postkolonialer feministischer Bibelinterpretation avancierte, hat Dube eine Vielzahl von Beiträgen veröffentlicht, in denen sie biblische Texte einer postkolonialen Relektüre unterzieht. Dubes kreative, ungewöhnliche und manches Mal irritierenden Textinterpretationen erwachsen oft aus der Zusammenschau von biblischen und nichtbiblischen Texten und Traditionen. Die begnadete Geschichtenerzählerin, Dichterin und Autorin zahlreicher Kurzgeschichten liest und interpretiert die biblischen Erzählungen im Licht oraler Überlieferungen, klassischer Erzählungen oder moderner Texte, um auf diese Weise den engen Umgang mit Schrifttexten zu überwinden und neue befreiende Perspektiven zu eröffnen.
Auch als Professorin an einer US-amerikanischen Universität ist Dube der theologischen Forschung auf dem afrikanischen Kontinent weiterhin eng verbunden. Besondere Bedeutung misst sie ihrem Engagement im Circle for Concerned African Women Theologians zu, in dem die Theologin für die bibelwissenschaftliche Sektion verantwortlich ist. Der 1989 in Ghana gegründete Zusammenschluss afrikanischer Theologinnen, dessen heute über 200 Mitglieder ihreWurzeln imIslam, Christentum, Judentum und in den traditionellen afrikanischen Religionen haben, hat es sich zur Aufgabe gemacht, die theologische Forschung sowie die Publikation theologischer Literatur von Frauen in Afrika zu fördern.
In Deutschland ist Dube vor allem durch ihr vielfältiges internationales Engagement im Hinblick auf HIV/AIDS bekannt geworden. 2000 von ihrem Studienaufenthalt in den USA zurückgekehrt, um ihre Lehrtätigkeit an der Theologischen Fakultät der Universität von Botswana aufzunehmen, erfährt Dube die Konfrontation mit der HIV/AIDS-Pandemie als radikale Anfrage an ihr Selbstverständnis als Wissenschaftlerin und Dozentin. »Ich begann mich zu fragen: Warum fahre ich fort, über den historischen Jesus zu sprechen, über Redaktionskritik und narrative Analyse etc. und umgehe dabei das zentrale Anliegen des Evangeliums und meines eigenen Kontexts: Die Frage von Krankheit und Heilung? Ich begann die Fragen zuzulassen, die auch meine Studierenden umtrieben. Was heißt es, heute über Jesu Heilungen nachzudenken, wie können wir die synoptischen Evangelien lesen, wenn HIV/AIDS überall um uns herum Todesangst, Stigmatisierung, Diskriminierung und Leiden hervorruft?« 2002 unterbrach die Bibelwissenschaftlerin ihre Lehrtätigkeit an der University of Botswana, um für zwei Jahre als theologische Beraterin des Ökumenischen Weltrats der Kirchen (ÖRK) zu arbeiten. Als Mitglied der HIV/AIDSInitiative des ÖRK ging es ihr vor allem darum, Kirchen und theologische Ausbildungsstätten in Afrika darin zu unterstützen, Lehrprogramme und Unterrichtsmaterial zu HIV/AIDS zu erarbeiten, damit die kommende Generation von Kirchen leitenden Persönlichkeiten besser auf das Engagement der Kirchen in HIV/AIDS-Fragen vorbereitet werden kann. Ungeachtet der großen Zahl staatlicher und privater Organisationen, die sich im Kampf gegen HIV/AIDS engagieren, haben die Kirchen und ihre Führung, davon ist Dube überzeugt, nicht nur eine besondere Verpflichtung, sondern auch ein großes Potential, sich für das Wohlergehen der Menschen, die mit HIV/AIDS leben, einzusetzen. Die Anerkennung der Gottebenbildlichkeit und Personenwürde jedes einzelnen Menschen sowie die starke Gemeinschaftsorientierung, die Nähe vieler kirchlicher Organisationen und Gemeinden zu den betroffenen Menschen und die enge Beziehung der Seelsorger zu Einzelnen und Familien ermöglichten es den Kirchen, wirksam gegen die Stigmatisierung und Diskriminierung der Betroffenen vorzugehen. Die Praxis sehe jedoch oft anders aus. Die große Mehrheit des kirchlichen Personals sei in ihrer Ausbildung nie auf diese Situation vorbereitet worden. Theologinnen und Theologen bräuchten eine qualifizierte Aus- und Weiterbildung, um den Menschen, die mit HIV/AIDS leben, angemessen begegnen zu können, erklärt Dube. Erste Schritt zur Integration der Problematik in theologische Ausbildungsprogramme sind inzwischen gemacht. Zu den Früchten von Dubes Tätigkeit im Auftrag des ÖRK gehört neben einer Veröffentlichung über Methoden, HIV/AIDS in den verschiedenen Bereichen der theologischen Ausbildung zu verankern, das ebenfalls von Dube herausgegebene Handbuch Africa Praying. A Handbook on HIV/AIDS Sensitive Sermon Guidelines and Liturgy. Mit seiner Vielzahl von Bibelarbeiten und konkreten Vorschlägen für Gottesdienst und Katechese ist es ein beeindruckendes Beispiel für das Engagement einer Theologin, die mit ihrer theologischen Arbeit dazu beitragen möchte, das christliche Heil als umfassende Heilung auch im Kontext von HIV/AIDS und wirtschaftlicher Globalisierung erfahrbar werden zu lassen.
KATJA HEIDEMANNS
Abteilungsleiterin Spendenkommunikation bei missio Aachen