Diego Irrarázaval

Foto: Josef Estermann

»Einfach an der Seite der einfachen Leute stehen«. – Trotz der vielen internationalen Kontakte und der Fülle theologischer Publikationen ist Diego Irrarázaval in all den Jahren pastoraler und theologischer Tätigkeit diesem Grundsatz treu geblieben. Die tatsächlich praktizierte »Option für die und mit den Armen« zieht sich wie ein roter Faden durch das Leben dieses humorvollen und sensiblen Theologen aus Chile.

Geboren 1942 in Santiago de Chile, in einer Familie baskischer Abstammung, ließ er sich schon in jungen Jahren durch die Lebensverhältnisse in den Slums der chilenischen Hauptstadt, die sozialen Ungerechtigkeiten und die politische Diktatur herausfordern. Er war eine Zeitlang Vorsitzender des Studentenrates der Päpstlichen Universität und gehörte der Bewegung »Christen für den Sozialismus« an, was Grund genug war, nach dem Staatsstreich von Augusto Pinochet 1973 das Land fluchtartig zu verlassen. Seither hat er sein Vaterland nur noch für Besuche betreten.

Mit 19 Jahren trat er in die Kongregation des Heiligen Kreuzes (C.S.C.) ein, die schon vor dem Vatikanum II eine recht fortschrittliche apostolische Tätigkeit entfaltet hatte. Nach den ordentlichen Philosophieund Theologiestudien in seiner Heimat und an der Notre Dame in den USA benutzte Diego Irrarázaval sein erzwungenes Exil zunächst dazu, in Chicago einen Master in Religionswissenschaft zu machen. Dann aber ließ er sich – ganz gemäss seinem Grundsatz – an der Seite der Armen und Marginalisierten in der peruanischen Hafenstadt Chimbote (rund 300 km nördlich von Lima) nieder. Schon in Chile war er in Kontakt mit wichtigen Vertretern der noch jungen Befreiungstheologie (Gutiérrez, Comblin, Muñoz) gekommen; in Peru verbindet er bis heute die wissenschaftliche Forschungs- und Lehrtätigkeit mit unmittelbarer pastoraler Basisarbeit.

In seiner theologischen Ausrichtung zeichnet sich in den ersten Jahren in Chimbote ein erster »Paradigmenwechsel « ab: Die sozio-politische Lektüre des Glaubens weicht immer mehr einer Analyse, bei der die Dialektik von Religion und Kultur im Zentrum steht. Gewiss gilt Irrarázaval als »Theologe der Befreiung«, aber zugleich setzt er sich auch kritisch und kreativ gegenüber der ersten Generation lateinamerikanischer Befreiungstheologen ab. Die so genannte »Volksreligiosität«, die von einigen engagierten Befreiungstheologen der ersten Stunde als »Opium des Volkes« verschmäht worden war, wurde für ihn zum Ausgangspunkt einer wegweisenden theologischen Reflexion. Nach Irrarázaval hat die Befreiungstheologie ihren Ursprung und ihre Raison d’être nicht in der (marxistisch orientierten) Sozialanalyse, sondern in Gottes vorrangiger Option für die Armen, oder – in seinen eigenen Worten – in einer »Politik der Barmherzigkeit«.

In seiner Arbeit in Chimbote und der Tätigkeit an den Instituten in Lima (Bartolomé de las Casas und Instituto de Estudios Peruanos) lernte Irrarázaval den ambivalenten Charakter der Volksfrömmigkeit kennen. Seine wegweisende Publikation aus dieser Zeit (Religión del pobre y liberación) betrachtet die religiös-spirituelle Dimension als erste Stufe zum befreienden sozialen Engagement. Diese Ansicht vertiefte sich in zunehmendem Maße, nachdem er 1981 den Sprung von der Pazifikküste in das Andenhochland Perus vollzogen hat. Die Aymara-Gemeinschaft von Chucuito, einer kleinen Gemeinde am Titicaca-See unweit der Stadt Puno, ist für Diego Irrarázaval in den letzten 20 Jahren Nährboden und Bezugspunkt all seiner theologischen Überlegungen geblieben.

Ein zweiter »Paradigmenwechsel« brach sich allmählich Bahn: von einer »Theologie des Volkes« hin zu einer indigenen Aymara-Theologie, bei der die weisheitliche und spirituelle Dimension im Vordergrund steht. Für diese in der lateinamerikanischen Befreiungstheologie insgesamt festzustellende Verschiebung in den 1980er Jahren waren die Beiträge von Irrarázaval nicht von unerheblicher Bedeutung. Seine Leitungstätigkeit am Instituto de Estudios Aymaras (IDEA) in Chucuito erlaubte es ihm, die Erarbeitung einer eigenständigen Teología india (indianischen Theologie) voranzutreiben und die verschiedenen Bemühungen in Lateinamerika dazu zu koordinieren. Irrarázaval war an den bisher drei Kontinentaltreffen zur »Indianischen Theologie« (1989 in Mexiko; 1993 in Panama: 1997 in Cochabamba) maßgeblich beteiligt. Im Anschluss an den rituellen Charakter der Aymara-Religiosität plädiert er für eine »irdische Spiritualität« im Sinne einer ökologischen Sorge um »Mutter Erde« und die kosmische Verbundenheit aller Wesen.

Biographische Daten

  • 1942 geboren in Santiago de Chile.
  • 1961 Eintritt in die Kongregation vom Heiligen Kreuz (C.S.C.).
  • 1960–1970 Studien der Philosophie und Theologie an der Pontificia Universidad Católica in Santiago und der Notre Dame University in Indiana, USA.
  • Bis 1973 politische Arbeit im Studentenrat und erste theologische Veröffentlichungen.
  • 1973 erzwungenes Exil wegen des Coups von Pinochet; 1973–1975 Studium der Religionswissenschaften und Abschluss M.A. in Chicago.
  • 1975–1981 pastorale Tätigkeit in der Hafenstadt Chimbote und im Centro de Estudios y Publicaciones (CEP) in Lima; Zusammenarbeit mit dem von Gustavo Gutiérrez geleiteten Zentrum Bartolomé de las Casas in Lima.
  • Ab 1981 pastorale und theologischen Tätigkeit in Chucuito, einer Aymara-Gemeinde an den Ufern des Titicaca-Sees im peruanischen Andenhochland.
  • Direktor des Forschungsinstituts Instituto de Estudios Aymaras (IDEA) in Chucuito.
  • 1996–2001 Vizepräsident von EATWOT (Ecumenical Association of Third World Theologians).
  • Ab 2001 Präsident von EATWOT.

Eine Auswahl von Publikationen

Auf Deutsch erschienen:

  • Das indianische Antlitz Gottes. Zur Kultur der Aymara in Peru, in: Dietschy, Beat (Hrsg.), Ist unser Gott auch euer Gott? Gespräche über Kolonialismus und Befreiung, Luzern 1992, 147–162.
  • Aymara-Theologie: Ihre Bedeutung für die interkulturelle Theologie, in: Fornet-Betancourt, Raúl(Hrsg.), Theologien in der Sozial- und Kulturgeschichte Lateinamerikas. Die Perspektive der Armen, Eichstätt 1992, 100 –131.
  • Büker, Markus, Befreiende Inkulturation – Paradigma christlicher Praxis: Die Konzeptionen von Paulo Suess und Diego Irarrázaval im Kontext indigener Aufbrüche in Lateinamerika, Fribourg 1999.

Auf Spanisch erschienen:

  • Aymara theology. Implications for other theologies, in: Voices from the third world, 16 <1993> H. 2, 184–201.
  • Cultura y fe Latinoamericanas, Santiago de Chile 1994.
  • Trenzado de religiones en una iglesia, in: Ein Glaube in vielen Kulturen. Theologische und soziopastorale Perspektiven für ein neues Miteinander von Kirche und Gesellschaft in der einen Welt, Frankfurt a. M. 1996, 249–268.
  • La fiesta – símbolo de libertad, Lima 1998.
  • Inculturación: Amanecer eclesial en América Latina, Lima 1998. Die englische Ausgabe lautet: Inculturation: New dawn and the church in Latin America, Maryknoll 2000.
  • Teología en la fe del Pueblo, San José 1999.

Auf Englisch erschienen:

  • How is theology done in Latin America?, in: Voices from the third world, 18 <1995>, H. 1, 59–78.
  • To share life – the theological challenge of inculturation: Interview with Diego Irrarázaval, Peru, in: Jahrbuch für kontextuelle Theologien 2000, Frankfurt a. M. 2000, 7–25.

Die Begegnung mit der indigenen Religiosität führte Irrarázaval auch zu einer fundamentalen Kritik des androzentrischen Charakters westlicher Theologie. Zusammen mit den verschiedenen Strömungen der feministischen Theologie in Lateinamerika (Bingemer, Támez, Gebara) versteht er sich immer mehr als Anwalt einer Theologie, welche die Komplementarität von Weiblichem und Männlichem in allen Bereichen des Religiösen durchbuchstabieren sollte. Gender ist für ihn nicht eine exklusive Angelegenheit von Frauen, sondern müsste zu einer radikalen Infragestellung des Männerbildes durch die Männer selber führen. Irrarázaval hat (neben Boff) als einer der ersten männlichen Theologen in Lateinamerika erkannt, welchen epistemologischen Bruch die feministische Theologie für das Theologietreiben überhaupt darstellt.

Trotz seiner konkreten kulturellen und sozialen Verortung und Einwurzelung in der Aymara-Gemeinde in den peruanischen Hochanden hat sich Irrarázaval stets um ein weltweites Netzwerk von Theologinnen und Theologen bemüht, denen die Inkulturation des Glaubens im Kontext von Armut, Ungerechtigkeit und Globalisierung ein wichtiges Anliegen ist. Seitdem er Vizepräsident der ›Ökumenischen Vereinigung von Dritte-Welt-TheologInnen‹ (EATWOT) ist, hat er sich auch eine profunde Kenntnis der Entwicklungen in Asien und Afrika angeeignet und sich nicht gescheut, den Dialog mit der herkömmlichen Universitätstheologie in Europa und den USA aufzunehmen. Für die nächsten fünf Jahre (bis 2006) steht Diego Irrarázaval gar an der Spitze der größten und traditionsreichsten Vereinigung von Dritte-Welt–TheologInnen.

Diego Irrarázaval beschreitet sowohl methodisch wie inhaltlich neue Wege in der theologischen Arbeit. Im Moment beschäftigt er sich zum Beispiel mit dem Thema »Freude und Humor«, wie es vor allem in der Praxis von Jesus, aber auch im Glaubensleben seiner Aymara-Freunde zentral steht. Wer die Gelegenheit hatte, diesen witzigen Chilenen aus dem peruanischen Hochland kennen zu lernen, wird auch verstehen, dass er damit sich selber meint: Glauben heißt, das Leben zu teilen.

JOSEF ESTERMANN
Leiter des RomeroHauses in Luzern, Schweiz; von 1998 bis 2003 Leiter des Missionswissenschaftlichen Instituts Missio e.V. in Aachen