Es ziemt sich, eine Darstellung der Karibischen Theologie mit der Vorstellung einer Theologin zu beginnen. Denn es sind die Frauen, die die karibische Kultur tragen und prägen. Oft alleinstehend (denn viele Männer weichen den starken karibischen Frauen aus), erziehen sie die Kinder, führen den Haushalt und erwirtschaften das Einkommen, während ein Gutteil der Männer sich seiner Lieblingsbeschäftigung hingibt, dem – ein typisch karibisches Wort – liming: an der Ecke stehen, mit anderen Männern reden und den Frauen nachpfeifen. »Viele Frauen«, so schreibt Diane Jagdeo in Women’s Contribution in Transforming the Caribbean Church, »leiden nicht nur an der Untreue ihrer Partner und daran, auf sich gestellt für die Kinder sorgen zu müssen.« Sie erleiden Prügel, Missbrauch und jede Form von Gewalt. Wieder und wieder wird durch ihre Lebensbedingungen »ihre Freiheit beschnitten. Doch so sehr ihre Freiheit auch beschnitten werden mag, sie wird nicht ausgelöscht.«
In seiner Dissertation The Faces of Jesus Christ in the Literary Works of Caribbean Preachers and Theologians: Towards a Constructive Christology for the Caribbean hat Don Chambers eine Kontroverse zwischen Diane Jagdeo und dem karibischen Theologen Gerald Boodoo über dessen Theorie des »Theologie Treiben in erzwungenen Kontexten« nachgezeichnet. Boodoo bezieht sich darauf, wie Muster der Sklaverei noch anderthalb Jahrhunderte nach deren Aufhebung 1834/1838 in den Seelen weiterwirken. Diane Jagdeo wehrt sich dagegen, die Frauen vor allem als Opfer zu sehen. Vielmehr besteht sie darauf, dass gerade Frauen in den »erzwungenen Kontexten« Auswege fanden. Sie fordern Gott heraus: »Schaffe mir Recht gegen meinen Feind!« (Lk 18,3) Diane Jagdeo: »Sie schreien zu Gott, ihre Tränen öffnen den Himmel, Gott muss Stellung beziehen. Wenn du eine karibische Frau in ihrem Gotteszorn siehst, dann wage bloß nicht, sie mit süßem Gerede und frommen Plattitüden bequatschen zu wollen. Die Kraft ihres Weinens schiebt die Bollwerke ›erzwungener Kontexte‹ beiseite.« In Jagdeos Theologie, so ihre Mitstreiterin Anne Perkins, werden die abschätzigen Bezeichnungen der Männer für die Frauen (von »verführerisch« am einen Ende bis »Hausfrau« am anderen) zu Metaphern des Göttlichen Wortes. Sie enthüllen, wie verarmt unsere Kirche ist, die von solcher Gottesrede nicht mehr weiß.Jene Stärke der karibischen Frauen, die Diane Jagdeo bewundert und in Erinnerung ruft, zeichnet auch sie selbst aus. Als Marlene Jagdeo wurde sie am 19. Oktober 1944 in Port of Spain, der Hauptstadt der damaligen britischen Kolonie Trinidad, in eine Familie von sieben Kindern geboren. Ihr Vater, Buchhalter von Beruf, war indischer Abstammung, Nachkomme der von den Briten aus Indien nach Westindien verbrachten »Kontraktarbeiter «, die nach der Aufhebung der Sklaverei die verwaisten Plantagen zu bestellen hatten. Er ließ seine Tochter anglikanisch taufen. Doch seine Tochter Marlene fand als Gymnasiastin eine andere geistliche Heimat: 17-jährig konvertierte sie zur katholischen Kirche. Nach dem Abitur studierte sie am Lehrerseminar ihrer Heimatstadt. Was sie in ihrer Freizeit anzog, war das Stundengebet im nahe gelegenen Holy Name Convent der Dominican Sisters of St. Catherine of Siena of Etrepagny, einer in Étrépagny (Normandie) entstandenen Gemeinschaft, die 1868 zum Dienst an den Leprakranken nach Trinidad gekommen war. 1964 bat Marlene Jagdeo um Aufnahme in die Kongregation, 1967 legte sie die Gelübde ab und nahm den Ordensnamen Mary Diane an. Sie wurde Lehrerin an einer Ordensschule und studierte »nebenbei« am Priesterseminar Theologie. Nach ihrem vorzüglichen Examen bat sie der Rektor, zu bleiben und Theologie zu lehren. Ihre Oberin stimmte zu. So wurde Sr. Diane 1974 Dozentin – als erste Frau an einem der Priesterseminare in der Karibik überhaupt.
Auf Englisch erschienen:
Sekundärliteratur zur Theologie von Diane Jagdeo OP
In einem Sabbatjahr 1977/1978 an der Yale University erwarb sie den Master in Sacred Theology (STM). Nach einem zweiten Sabbatjahr wurde sie 1986 im Fach Philosophie an der Catholic University of America in Washington promoviert. Wiederum zehn Jahre später nutzte sie ein drittes Sabbatjahr für das Studium der Kommunikationswissenschaft an der Gregoriana in Rom. In der Karibik unterwegs war sie als stellvertretende Präsidentin der Conference of Religious of the Antilles (CRA), weltweit als Vertreterin der Caribbean Association of Theological Schools (CATS) in der World Conference of Associations of Theological Institutions (WOCATI).
33 Jahre lang lehrte Sr. Diane am Seminar in Tunapuna bei Port of Spain Systematische Theologie, am liebsten Christologie, Pneumatologie und Trinitätslehre – bis eine Krebserkrankung sie 2007 zwang aufzuhören. Zwar nahm sie Gastprofessuren in Nordamerika und Europa wahr und unterrichtete in Kenia, doch die ihr in der »ErstenWelt« angetragenen Professuren lehnte sie ab. Sie mochte sich nicht von ihren karibischen Wurzeln lösen, sie blieb ihrer Hochschule treu. Denn zu einer Theologischen Hochschule hatte sich das Seminar St. John Vianney and The Uganda Martyrs entwickelt, seit es schrittweise auch Ordensfrauen, Laien und – im Zuge der Affiliation mit der University of theWest Indies (UWI) – auch nicht-katholische Studenten aufnahm. Katholischerseits wurde das eher kleine Seminar zum wichtigsten Zentrum der Entfaltung der Karibischen Theologie.
Die Karibische Theologie ist eine der ältesten Ausprägungen einer »kontextuellen Theologie«. Ihre Leitfrage lautete: »Wie kann das Evangelium in unserer karibischen Kultur auf eine inkulturierte Weise verkündet werden, so dass es diese Kultur auf das Reich Gottes hin verändern kann?« Antworten auf diese Frage zu finden, war das Anliegen des Antilles Pastoral Institute (API), eines gemeinsamen Sommerkurses der Pastoral der Pastoralzentren der Bistümer, die die Antilles Episcopal Conference (AEC) bilden, aller englisch-, französisch- und niederländischsprachigen Länder und Territorien der Karibik mit Ausnahme von Haiti. Der 1973 vom API herausgegebene Band Issues in Caribbean Theology bot eine Zwischenbilanz. Parallel dazu, vor allem aus protestantischer Warte, erschien im selben Jahr das von Idris Hamid, presbyterianischer Theologe in Trinidad, herausgegebene Buch Troubling of the Waters. Wie die Karibische Theologie die Inkulturation betrieb, weckte Ängste. 1974 schlossen die Bischöfe das API auf Druck von oben. Michel de Verteuil, der Rektor des Priesterseminars, musste sich 1976 in Rom für seine Ermutigung der Inkulturation verantworten.
Diane Jagdeo ermutigte die Bischöfe derAEC, denen zu vertrauen, die Wege des theologischen Heimischwerdens der Kirche in der Karibik suchen, auch wenn das zuweilen in der Sackgasse endete. Nicht zu suchen erschien ihr weit gefährlicher. Als ich sie im Februar 1995 besuchte, zitierte sie den Generalmagister der Dominikaner, Damian Byrne OP (1929–1996), der davor gewarnt hatte, in die Haltung der »Kriecherei des Gehorsams« zu verfallen. Die Bischöfe der AEC folgten ihrem Rat, nachdem (genauer: gerade weil) sie dem Schritt der Schließung des API nicht hatten ausweichen können. Seit 1994 findet alljährlich, seit 2005 alle zwei Jahre eine Studienwoche zur Karibischen Theologie statt, jeweils zu einem Thema: Volksfrömmigkeit, Die Geisterwelt, Riten und Rituale, Das karibische Antlitz Jesu (wie Christus erfahren und verehrt wird, sei es von den Rastafaris in Jamaika, sei es unter den indianischen Völkern Guyanas), Die Unkultur der Gewalt, Karibische Ekklesiologie usw. Diese Studienwochen sind außerordentlich fruchtbar, denn sie bringen theologische Lehrer und Seelsorger von Jamaika bis Surinam zusammen und überwinden deren imWortsinn insulare Isolation, die so lange den intellektuellen Austausch zwischen den karibischen Inseln behinderte. Diane Jagdeo war eine der leidenschaftlichsten Diskutantinnen bei diesen ohnehin lebhaften Tagungen, »eine Stierkämpferin«, wie sie ihr Schüler Fr. Martin Sirju nannte: »Uns Männer packte sie frontal. Das Messer, mit dem sie theologische Pseudo-Gründe schlachtete, hatte sie stets parat.« Unnachgiebig war sie, wenn es um theologische Methode, um die Genauigkeit des Argumentes ging.
Theologie als Gespräch
Weniger als in Büchern entfaltet sich die Karibische Theologie in Seminaren und Vorträgen, in Rede und Gegenrede. Denn die karibische Kultur ist eine Kultur der Mündlichkeit, der Lust am Erzählen. Es ist bezeichnend, wie viele Beiträge zur Karibischen Theologie die karibische Literatur oder die calypsos, die volkstümlichen munter-hintersinnigen Lieder, zum Ausgangspunkt nehmen. Auch Diane Jagdeo war nie an Textproduktion gelegen, an einer imponierend langen Liste von Veröffentlichungen. Wichtiger als zu schreiben war ihr, anzuregen. Deshalb ist es die Liste ihrer mit Dissertationen zu Themen der Karibischen Theologie hervorgetretenen Schüler, die beeindruckt. »Contemplata aliis tradere«, das in der Betrachtung Gewonnene anderen weitergeben: diesen Leitsatz ihres Mit-Dominikaners Thomas von Aquin lebte sie. Jene »anderen« waren nicht nur ihre Studenten. Diane Jagdeo schulte ihre Theologie in seelsorglichen Gesprächen mit »einfachen« Leuten. Die Lehrerin lernte in der School of Continuing Studies, den Kursen zur Ausbildung der Katecheten. »Ich muss das Skript des Alltags der Menschen lesen. Sie sind es, die die Relevanz oder Irrelevanz meiner Theologie auf die Probe stellen.…In meiner Theologie geht es nicht darum, den Glauben auszulegen, sondern im Dialog die theologische Einbildungskraft der Menschen zu wecken, deren theologische Berufung zu stärken. Ich glaube, dass jeder Gottsucher Theologe ist.« Als »kontemplative Wanderin« (contemplative itinerant) bezeichnete sie sich selbst. »Was immer wir tun, kann zu Theologie werden, ob wir lehren, Kranke pflegen, für Kinder sorgen oder Blumen gießen… Die Aufgabe des ausgebildeten Theologen ist es, sie dazu anzustiften, zu bestätigen, Rat zu geben.…DieWeisheit ist das Feuer. Dem Theologen ist aufgegeben, es zu schüren.…Die Weisheit geht durch die Straßen, sitzt im Marktplatz und plaudert an der Ecke (limes on the block). Sie tanzt in der Diskothek und zum Ton der Steel Pan.«
Theologie als Pastoral
Die Weisheit, so Diane Jagdeo, verlange 1) aufmerksam zu hören, 2) die richtigen Fragen zu stellen, 3) die Vorstellungskraft einzusetzen und 4) wahrhaftig zu handeln. Die Wahrhaftigkeit ihres eigenen Handelns zeigte sich in der Gründung von »Catherine’s Well«, eines Hauses zur geistlichen Erneuerung, und in ihrer hingebungsvollen Arbeit in Einrichtungen ihres Ordens für benachteiligte Kinder. »Ich lebe unter ›Armen‹. Doch wenn ich ›den Armen‹ mit Namen kenne, verschwindet die Vorstellung ›des Armen‹. Sie werden Freunde und Nachbarn. Nicht, dass ich die Armut, ihre Ursachen und Folgen übersehe. Doch wenn Freundschaft entsteht, ist das der Grund dafür, dass wir gemeinsam dafür kämpfen, dass eine Wasserleitung gelegt wird, und nicht, ›etwas für die Armen zu tun‹.« Diane Jagdeo wollte »schwanger sein mit Gott«. Ihre tödliche Krebserkrankung kümmerte sie wenig, weil sie glaubte, dass auch Gott Größeres vorhabe: »Gott ist mehr darum besorgt, was in mir geistlich wächst, als daran, was in meinem Darm wuchert.« Sr. Diane Jagdeo starb am 18. März 2008 in ihrer Heimatstadt.
MICHAEL HUHN
Historiker und Länderreferent bei Adveniat, Essen