Bischof Erwin Kräutler

Angesichts der »sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten ist die Kirche aufgerufen Anwältin der Gerechtigkeit und der Armen zu sein« (DA 395). Das Schlussdokument der 5. Generalversammlung des Episkopats von Lateinamerika und der Karibik, die 2007 am brasilianischen Wallfahrtsort Aparecida stattfand, hat die Lebensaufgabe von Erwin Kräutler auf den Punkt gebracht. So klar war dies dem Neupriester der Kongregation der Missionare vom Kostbaren Blut Christi sicher noch nicht, der 1965 vom Wind des II. Vatikanischen Konzils getrieben, von Salzburg in die Amazonasregion Brasiliens verschlagen wurde. Seine jugendliche Biographie ist die eines lebenslustigen Fegers, die sich dann im Laufe eines nicht immer ganz einfachen Noviziats zu einer Ordenslaufbahn mausert, in die er noch als 70-jähriger seine Jovialität einzubringen weiß. Zur Ordenslaufbahn gehört auch die Berufung zum Bischof der Prälatur vom Xingu, einem Nebenfluss des Amazonas, wo er 1981 seinen Onkel Eurico Kräutler ablöste. Das Hirtenamt hat dann alle erbaulich-missionarischen Klischees durchkreuzt und ihn zum Zeugen und Anwalt derer gemacht, »die aus der großen Drangsal kommen« (Offb 7,14).

Seit 1983 wurde Erwin Kräutler viermal zum Präsidenten des brasilianischen Eingeborenenmissionsrates gewählt (Cimi). Als ob seine Amazonasprälatur von 365.000 km2 nicht groß genug gewesen wäre, wurde ihm immer wieder die pastorale Verantwortung für die indigenen Völker ganz Brasiliens auferlegt. An dieser Aufgabe ist Dom Erwin gewachsen, obwohl sie innerkirchlich einen Karrierebruch signalisiert. Wer Präsident von Cimi wird, begibt sich in ein politisches Minenfeld. Als Anwalt der Indios wird er im Handumdrehen zur Zielscheibe politisch einflussreicher Sektoren und zum Störfaktor zwischen Nuntiatur und Regierungspalast. In der Brasilianischen Bischofskonferenz hat sich niemand um sein Amt gerissen, weil dieser Cimi, seit seiner Gründung (1972), die Indigenas nicht nur verteidigt, sondern auch organisiert; verteidigt gegen Entrechtung und Neukolonialisierung; organisiert als Subjekte im Kampf um soziale Gerechtigkeit (vgl. DA 385) und pastorale Verantwortung (vgl. DA 398). Das war pastorale Umsetzung von Vatikanum II. und das Ende einer kolonialisierenden Mission. In seiner Amazonasprälatur erfährt Kräutler ganz konkret, was es heißt, Missionar vom Kostbaren Blut Christi zu sein.

Die samaritanische Kirche

Am 1. Juni 1983 fährt Bischof Erwin mit 39 Grad Fieber zum Km 94 der Transamazonica-Straße, um dort seine Solidarität mit den Zuckerrohrpflanzern zu bezeugen. Über neun Monate wurden ihnen die Bezahlung der Ernte und die Arbeitslöhne verweigert, bis sie nun endlich beschlossen die Transamazonica zu blockieren. Nun saßen sie ausgehungert auf der Straße, die sie mit Lastwagen abgeriegelt hatten. Dom Erwin setzt sich zu der Gruppe von etwa 200 Kindern, Frauen und Männern. Es herrscht eine drückende Stille. Da nähert sich ein Polizeibataillon. Die Gruppe gibt sich die Hände. Da werfen die Polizisten die ersten Schreckschussgranaten. Dann folgt eine Salve von Tränengasbomben. Alle schreien und taumeln, umhüllt von einer Wolke von Tränengas. Der Bischof kriecht zu einem Wassertank. Dann stürzt sich ein wütender Polizist auf ihn, tritt ihn zu Boden und führt ihn ab. Am 7. Juni erfolgt schließlich die Bezahlung der Zuckerrohrpflanzer und Fabrikarbeiter. Warum so spät? Die Option für die Subjektwerdung der Armen wird immer wieder auf die Probe gestellt.

Während der Verfassunggebenden Nationalversammlung, im Jahr 1987, als es darum ging, die Anerkennung derMenschenwürde und die Rechte der Indios in die Magna Carta Brasiliens hineinzuschreiben, wurde Erwin Kräutler Opfer eines von seinen Gegnern inszenierten Verkehrsunfalls an der Transamazonicirca. Von einem gepanzerten Kleinlastwagen, der in Gegenrichtung direkt auf ihn zusteuerte, sollte er zermalmt werden. Jedoch er kam mit dem Leben davon. Pater Salvatore Deiana, von der Gesellschaft des hl. Franz Xaver für auswärtige Missionen (SX), der neben ihm saß, hat das Attentat nicht überlebt. Viele Wochen lag Kräutler im Krankenhaus, eine Operation nach der anderen. Sein Leiden war nicht vergeblich.

Biographische Daten

  • Geboren in Koblach, Vorarlberg, Österreich, am 12. Juli 1939
  • Seit 1958/1995 gehört er zur Kongregation der Missionare vom Kostbaren Blut Christi (CPPS)
  • In Salzburg studierte er Philosophie und Theologie
  • Unmittelbar nach der Priesterweihe (1965) entschloss er sich als Missionar nach Altamira, in die Amazonasregion Brasiliens, zu gehen
  • Seit 1981 ist er Ortsbischof der Prälatur vom Xingu, mit Sitz in Altamira. Die Prälatur umfasst einen geographischen Raum von 365.000 km2, auf dem etwa 600.000 Menschen leben, darunter eine Vielzahl indigener Völker

Eine Auswahl von Publikationen

Auf Deutsch ist erschienen:

  • Die Nacht ist noch nicht vorüber: Der Bischof vom Amazonas als Anwalt der Menschen. Herderbücherei 1781, Freiburg im Breisgau / Basel / Wien 1994.
  • Mein Leben ist wie der Amazonas: Aus dem Tagebuch eines Bischofs. [1981–1992], Herderbücherei 8815, Freiburg im Breisgau / Basel / Wien 1994.
  • Rot wie Blut die Blumen: Ein Bischof zwischen Tod und Leben. [Autobiografie 1965–2009], Müller, Salzburg / Wien 2009.
  • Kämpfen, glauben, hoffen: Mein Leben als Bischof am Amazonas. Vier-Türme-Verlag, Münsterschwarzach 2011.

Einige der Auszeichnungen Erwin Kräutlers

  • Ehrendoktorate der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck (1992), der Theologischen Fakultät Luzern (1992), der Fakultät Katholische Theologie der Otto-Friedrich-Universität Bamberg (1993), der Theologischen Fakultät der Paris-Lodron-Universität, Salzburg (2009).
  • Ehrenbürger von Altamira (1992) und Koblach (2010).
  • 1993: Bruno Kreisky Preis für Verdienste um die Menschenrechte (Bruno Kreisky Stiftung).
  • 2002: Konrad-Lorenz-Preis für den Einsatz für das Unwiederbringliche in der Natur und in der Umwelt.
  • 2005: Viktor-Frankl-Preis, Stadt Wien (Viktor-Frankl-Fonds).
  • 2006: José-Carlos-Castro-Preis für die Verteidigung der Menschenrechte und das Leben in Amazonien der Brasilianischen Rechtsanwaltskammer – Sektion Pará (Brasilien).
  • 2009: Großes Goldenes Ehrenzeichen mit dem Stern für Verdienste um die Republik Österreich.
  • 2010: Right Livelihood Award (Alternativer Nobelpreis), Stockholm.

 

Langsam wird Dom Erwin zu einem wichtigen Sprachrohr der Indigenas in der Zivilgesellschaft und in der Bischofskonferenz (CNBB). Er wird nicht müde, dort die Solidarität der Ortskirchen mit den indigenen Völkern einzuklagen. Und er wird im Bischofskollegium gehört und geschätzt. Es wählt ihn als Delegierten zur 4. Generalversammlung des Lateinamerikanischen Episkopats nach Santo Domingo (1992), zu jener angstbesetzten Kirchenversammlung, bei der das 500-jährige Bündnis zwischen Evangelisierung und Kolonisation zur Sprache kommen sollte. Dom Erwin war bereit, am Fuße des Denkmals von Antonio Montesino, dem Verteidiger der Indios der ersten Stunde der Conquista, einen Bußgottesdienst zu feiern. Von der Leitung der Konferenz war diese Messe schon im Vorfeld für unangebracht erklärt worden. Wenn es um die Sache der Indios ging, konnte Erwin Kräutler auch einmal bischöflichen Korpsgeist gegen den Strich bürsten. Im Schlussdokument von Santo Domingo, wo es um Inkulturation geht, finden sich deutliche Spuren seiner Präsenz. Auch auf der Bischofssynode für Amerika, die 1997 in Rom stattfand, und in Aparecida (2007) war er Vertreter der Brasilianischen Bischofskonferenz.

Im Jahr 2006 denunziert Bischof Kräutler im Fernsehen eine Verbrechensserie von sexuellem Missbrauch an Minderjährigen. In nächtlichen Nikodemusgesprächen wurde der Bischof von diesen Vorgängen unterrichtet. Bildmaterial der Orgien wurde in Altamira zum Kauf angeboten. Die beschuldigten Sexualverbrecher verbündeten sich gegen den Bischof mit den Feinden der Indigenas und den Nutznießern der Umweltzerstörung. Zu letzteren gehören all jene, die sich vom Bau des Wasserkraftwerks »Belo Monte« große Geschäfte versprechen. Die Regierung signalisiert Wachstumsbeschleunigung, nicht für Amazonien, sondern für die Industriezentren. Die Lüge vom Fortschritt, der ohne solche Wasserkraftwerke nicht zu garantieren sei, wird über Rundfunk und Fernsehen so oft verbreitet, dass daraus im Bewusstsein vieler Leute eine unantastbare Wahrheit wird. Seit 1989 leisten Indios aktiven Widerstand. Teile ihres Landes werden dem Staudammprojekt zum Opfer fallen. Eine riesige ökologische Katastrophe ist vorhersehbar. Die Proteste der Indios erregen die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit. Die Bevölkerung ist gespalten. Die einen erwarten sich eine Belebung ihrer Geschäfte, die anderen lehnen das Projekt strikt ab und eine dritte Gruppe meint, da sei doch nichts mehr dagegen zu tun, also optiert sie für größtmögliche finanzielle Abfindung durch die Regierung. Da werden dann Berge von Geld versprochen, da werden Verantwortliche bestochen, da blühen die Lügen der Propaganda.

Selbstverständlich musste da der Ortsbischof auch Stellung nehmen. Er brauchte nur das Dokument von Aparecida aufzuschlagen, um in diesem Konflikt klar zu entscheiden: »Von den Entscheidungen über die Reichtümer der Artenvielfalt und der Natur sind die traditionalen Bevölkerungen praktisch ausgeschlossen worden. […] Die Wasserreserven werden behandelt, als seien sie eine Geschäftsware der Unternehmen« (DA 84, vgl. 473). Von nun an gehören Morddrohungen zur Tagesordnung von Erwin Kräutler und ganz offen wird sein Kopfpreis verhandelt. Durch die so oft vergessenen kleinen Leute, die zu ihrem Bischof in der Not stehen, hält Gott seine schützende Hand über dem Hirten. Dass die Lämmer den Hirten (um beim biblischen Bild zu bleiben) vor den Wölfen schützen, das verstehen staatliche Behörden und Politiker nicht. Aus wahltaktischen Gründen können sie es sich nicht leisten, dass ein Bischof in ihrem Distrikt öffentlich zum Todeskandidaten erklärt und dann tatsächlich ermordet wird. So verordnen sie Kräutler rund um die Uhr zwei Polizisten zur Bewachung. Wer sich aufgrund der Rechtsunsicherheit auf die Seite der Opfer von Gewalt stellt, wird nun selbst zum Gefangenen der ihn schützenden Polizei, die ihn auf Schritt und Tritt bewacht.

Bischof Kräutler musste immer wieder zusehen, wie anderen, aus seiner nächsten Umgebung, das Leben genommen wurde. 1987 war es Pater Salvatore Deiana. 1995 wurde Kräutlers Ordensbruder Hubert Mattle am Bischofssitz Altamira ermordet. In seiner Dankesrede in Stockholm, wo er 2010 den Alternativen Nobelpreis erhalten hat, nannte Erwin Kräutler stellvertretend zwei Menschen, deren Tod ihn besonders getroffen hat: Ademir Alfeu Federicci, der »Dema« genannt wurde, und Schwester Dorothy Stang. Dema war Leiter einer kleinen Basisgemeinde im Landesinnern. Am 23. August 2001 verfasste er ein Dokument, das es der Bundespolizei erleichtern sollte, die Landräuber der Gegend dingfest zu machen. Zwei Tage später wurde er selbst ermordet. Im Jahr 2005 wurde Dorothy Stang, die sich 23 Jahre lang für die Rechte der Kleinbauern an der Transamazonica-Straße eingesetzt hatte, ebenfalls umgebracht. Als Kräutler sie zum ersten Mal traf, sagte sie ihm: »Ich möchte unter den Ärmsten der Armen arbeiten«. Im letzten Interview, das sie einem Journalisten gab, versicherte sie: »Ich weiß, dass man mich umbringen will, aber ich werde nicht fliehen«.

Nicht nur Gefahr, auch das Rettende wächst auf den Wegen Kräutlers. Sein jugendliches Charisma und eine wachsende Schar von Freunden haben ihn nie verlassen. Er ist Ehrenbürger von Altamira und Koblach, Ehrendoktor von Innsbruck, Luzern, Bamberg und Salzburg. Beim Ad-Limina-Besuch in Rom bot er einst Papst Johannes Paul II eine Brise Schnupftabak an, und, bei ganz besonderen Anlässen (in A hard day’s night) kann man ihn dazu bewegen, in perfekter Performance die Gitarre zu Elvis-Presley-Songs zu schlagen. Heute steht er wie ein fest verwurzelter Baum – treuer Zeuge und inkulturierter Weltbürger – am Ufer des Xingu und blickt auf das, was der Fluss einst geschenkt hat und nun mitzureißen droht. Aber er schaut auch ahnend voraus auf all das, was noch aussteht und möglich ist. Mit seinem Bischofsstab pocht er nicht auf Privilegien, sondern klopft an die eigene Brust und an Türen, die den Opfern verschlossen sind. Auch in turbulenten Zeiten steht Erwin Kräutler für die Glaubwürdigkeit einer samaritanischen Kirche als Zeuge, Anwalt und Hirte.

PAULO SUESS
Theologe, Professor für Missionswissenschaft am Instituto Sao Paulo de Estudos Superiore, Brasilien