Elena Lasida

Im Februar 2002 lernte ich sie in Paris kennen. Bei einem von der französischen Kirche organisierten Studientag für diejenigen, die nach einem langjährigen Engagement in Lateinamerika Fremde in Frankreich geworden waren, stellte Elena Lasida eine Analyse der Situation weltweiter wirtschaftlicher Verflechtungen vor, nicht ohne sich selbst als Grenzgängerin zwischen Lateinamerika und Europa vorzustellen.

Elena Lasida ist in Montevideo geboren, in einer Familie, deren Vorfahren aus Italien nach Uruguay einwanderten. Als sie Wirtschaftswissenschaft studierte, zog sie für Jahre in ein Armenviertel von Montevideo und engagierte sich dort in einer Basisgemeinde. Gleichzeitig nahm sie zusammen mit anderen politisch und kirchlich engagierten Sozialwissenschaftlern an den regelmäßigen Gesprächen teil, in denen Juan Luis Segundo in Montevideo seine Theologie entwickelte. Der Widerspruch zwischen der Lebensrealität, die Elena Lasida mit den Menschen in der Basisgemeinde teilte, und dem, was sie in ihrem Wirtschaftsstudium lernte, wurde für sie so unerträglich, dass sie ihr Studium aufgeben wollte. Juan Luis Segundo war es, der sie zu einer positiven Sicht ihrer Erfahrungen als Grenzgängerin ermutigte. Er machte Elena Lasida klar, dass gerade ihr Wirtschaftsstudium nicht nur nicht unvereinbar mit ihrem christlichen Engagement sein musste, sondern eine Chance dafür sein konnte.

Das theologische Denken von Juan Luis Segundo verband Elena Lasida und mich. Aus unserer ersten Begegnung im Februar 2002 erwuchs die Zusammenarbeit beim deutsch-französisch-brasilianischen Symposion 2003 in Belo Horizonte und bei den daraus folgenden jährlichen Treffen zu einem deutsch-französisch- brasilianischen Austausch zwischen Theologie, Ökonomie und Biologie. Dabei erlebte ich oft, wie anregend ihre Bezugnahme auf die Theologie für ihr Denken als Wirtschaftswissenschaftlerin und für unser theologisches Nachdenken war.

Dabei ist Elena Lasida keine Theologin, sie ist Wirtschaftswissenschaftlerin – aber eine, die Bezug nimmt auf die Theologie, um besser von der Ökonomie sprechen zu können. Bei ihrer Bezugnahme auf »die Theologie « steht die Arbeitsweise von Juan Luis Segundo im Hintergrund, die eine Schlüsselerfahrung für sie ist. Bei den wöchentlichen Treffen in Montevideo teilte Juan Luis Segundo keine Ergebnisse mit, sondern sein unfertiges theologisches Arbeiten, seine Zweifel und Entdeckungen, seiner Widersprüche und offenen Fragen. Das Gespräch mit den anderen erlaubte ihm, theologisch weiter zu gehen. Diese Theologie wirkte befreiend. Elena Lasida lernte ihren Glauben mit ihren eigenen Worten zu sagen und die Unterschiedlichkeit der Glaubenserfahrungen in den Lebensgeschichten eines jeden anzuerkennen. Zugleich lernte sie, dass die Theologie der Befreiung vom intensiven Kontakt zu den Sozialwissenschaften geprägt war, dass dabei aber das Gespräch mit der Ökonomie weit weniger fruchtbar war als das Gespräch mit der Soziologie und der Politikwissenschaft.

Diese Entdeckung wurde zur bleibenden Herausforderung für ihre Arbeit in der Wirtschaftswissenschaft. Elena Lasida erkennt in Theologie und Ökonomie zwei Weisen, die Welt zu denken beziehungsweise in ihr präsent zu sein, die in einem unauflöslichen Widerspruch zueinander stehen. Aber gerade in seiner Unauflöslichkeit kann der Widerspruch wissenschaftliches Arbeiten beleben. Davon ist Elena Lasida überzeugt, umso mehr, als sie sich durch Juan Luis Segundo zum eigenen Denken anstiften ließ. Seine Theologie hatte sie ermutigt, selber ihren Glauben zu durchdenken und davon zu schreiben. Mehr denn je galt ihr intellektuelles Arbeiten dem Bereich der Ökonomie, aber es profitierte davon, »dass es durch ein Meer an Theologie hindurchging«.Nicht nur der Gegenstandsbereich, auch die Arbeitsweise der Theologie beinhaltet Anfragen an die Wirtschaftswissenschaftlerin. Anders als sie es im Ökonomiestudium erlebte, ging es in der Theologie bei Juan Luis Segundo nicht darum, feststehende Wahrheiten zu lehren, sondern darum, Menschen Instrumente an die Hand zu geben, mit deren Hilfe sie zu entdecken und auszusprechen vermögen, was ihrer alltäglichen Existenz Sinn gibt.

Biographische Daten

  • Geboren 1959 in Montevideo, Uruguay
  • Schulausbildung in Montevideo und dort auch Studium der Ökonomie
  • 1982: Diplom in Ökonomie
  • 1982–1991: Arbeit an einem Forschungsinstitut der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät in Montevideo und als Wirtschaftsprüferin
  • 1977–1991: Teilnahme am Theologischen Seminar von Juan Luis Segundo SJ in Montevideo
  • 1991: Ankunft in Paris: Dort macht sie ihr DEA (Diplôme des Études Approfondies) und schließt das Promotionsstudium an.
  • 1999: Promotion in Sozial- und Wirtschaftswissenschaften mit einer Arbeit über »Figures économiques de la transcendance – Étude sur la logique du marché et la logique du sacré«.
  • Seitdem Lehrveranstaltungen an der Fakultät für Sozialund Wirtschaftswissenschaften (FASSE) des Institut Catholique, Paris (ICP)
  • 1996: Mitarbeit und Vorsitz im »Réseau chrétien immigrés«
  • 1999: Referentin der Bischöflichen Kommission »Justice et paix« für den Bereich »nachhaltige Entwicklung« und »neue Solidaritäten zwischen Nord und Süd in Verbindung mit Ordensgemeinschaften«. In ihrer Verantwortung entstehen zu diesen Themen mehrere gemeinschaftlich geschriebene Veröffentlichungen.
  • 2001: Professorin an der FASSE, ICP
  • 2007: Schaffung und Leitung des Master-Studiengangs »Economie solidaire et logique de marché« an der FASSE, ICP
  • 2009: Stellvertretende Leiterin der Forschungsabteilung an der FASSE. Forschungsprojekt zu »Indicateurs de qualité de vie en milieu urbain«, in Kooperation mit einem multinationalen Unternehmen und zwei anderen Universitäten

Eine Auswahl von Publikationen

Auf Französisch erschienen:

  • La pauvreté: une approche socio-économique, Transversalités n° 111, juin–juillet 2009, ICP, DDB, 35–47
  • Finance et bien commun, Revue de Sciences Humanes/ Ethique/Société (REHES), Paris (Ed. Le Manuscrit), 2009, 123–131
  • L’économie solidaire, un nouveau regard, Nouvelles solidarités, nouvelle société, Bayard, coll. »Semaines Sociales de France«, 2010, 293 –300
  • Le développement durable: un nouveau style de vie, Transversalités n° 109, ICP, DDB, janvier-mars 2009, 9–17
  • Oser un nouveau développement. Au-delà de la croissance et la décroissance, Juistice et Paix, Paris (Bayard) 2010
  • Le goût de l’autre. La crise, une chance pour réinventer le lien, Paris (Albin Michel) 2011
  • Auf deutsch wird ein Artikel in Concilium 5/2011 zum Themenschwerpunkt »Wirtschaft und Religion« (Hrsg. Luiz Carlos Susin, Eric Borgmann) erscheinen.

Wie für Juan Luis Segundo die Befreiungstheologie zuallererst die Theologie aus ihren Verstrickungen in Situationen der Unterdrückung zu befreien hat, so geht es Elena Lasida um eine Befreiung der Wirtschaftswissenschaft aus einer dogmatischen Festschreibung von Unrechtverhältnissen. So wie für Juan Luis Segundo die Option für die Armen bedeutet, deren Standpunkt einzunehmen und von ihnen aus zu erkennen, dass es gerade auch um die Befreiung der Theologie geht, so ist für Elena Lasida diese Option in erster Linie nicht der Inhalt, sondern die Perspektive ihrer Arbeiten, mit denen sie ökonomische Theorien aus ihren ideologischen Verhärtungen zu befreien sucht.

Die immer intensivere Beschäftigung mit der Beziehung zwischen Ökonomie und Theologie brachte Elena Lasida dazu, einen Ort zu suchen, wo sie Theologie studieren und wissenschaftlich an einer Antwort auf die Spannung zwischen den Disziplinen weiterarbeiten konnte. Der Ort war Paris. Die wissenschaftlichen Forschungen in Gestalt einer Doktorarbeit wurden zu eine entscheidenden Zeit der Selbstvergewisserung. Immer deutlicher erkennt Elena Lasida die Spannungen, die zu ihrer Biographie gehören, als belebende Quelle ihres Arbeitens an. Dazu gehört der Unterschied zwischen dem kleinen südamerikanischen Land ihrer Herkunft und ihrer gegenwärtigen Heimat im Herzen Europas; dazu gehört der Abgrund zwischen ökonomischer Theorie und ökonomischer Realität, wie sie diese in den Armenvierteln von Montevideo erlebte; dazu gehört vor allem und unauflöslich der Widerspruch zwischen Ökonomie und Theologie und die Herausforderung, zwischen ihnen eine Beziehung herzustellen, in der neue Einsichten auftauchen können.

Das Gespräch zwischen Ökonomie und Theologie kann erst auf der Ebene einer Fragerichtung fruchtbar werden, die in beiden Disziplinen eine offene Suche erlaubt. Die wechselseitig behaupteten beziehungsweise unterstellten Werte der beiden Disziplinen lassen eine solche Suche nicht zu. Es kommt nur zu jenem fruchtlosen Schlagabtausch, wie er Elena Lasida am Gespräch zwischen Befreiungstheologie und Wirtschaftswissenschaft aufgefallen war: das Interesse des Einzelnen gegen das Interesse der Allgemeinheit, Egoismus gegen Solidarität, Individualismus gegen Gemeinschaftsbewusstsein. Dagegen macht Elena Lasida eine methodologische Vorgabe geltend: Sie verlegt das Gespräch von der Ebene des »was« auf die Ebene des »wie«. Sie sucht in beiden Disziplinen nach ihrer Art und Weise, die Wirklichkeit zu denken, und findet, in der Theologie sowie in der Ökonomie, die Bezugnahme auf eine »Transzendenz« im Sinn einer Dimension, die sich dem Zugriff des Einzelnen entzieht. Auch hier interessiert Elena Lasida nicht die inhaltliche Vorstellung von dieser Transzendenz sondern die Funktion ihrer Bezugnahme. In beiden Disziplinen taucht die Bezugnahme auf eine »Transzendenz« dann auf, wenn die Theorie an ihre Grenzen kommt. Sie kaschiert die Grenze aber nicht. Ihre Untersuchungen zeigen Elena Lasida: Die »Transzendenz« verschließt nicht eine offene Stelle im System, sondern stört den Anschein eines geschlossenen Systems; sie wirkt wie eine Öffnung, in der etwas völlig Neues auftauchen kann.

Die Gestalten der Transzendenz, die Elena in der Ökonomie mit Hilfe eines Durchgangs durch verschiedene theologische Denkwege herausarbeitet, erlauben ihr, gerade in der Grenze eine Kraft zu entdecken, die Menschen in Bewegung bringt; sie erlauben ihr, die herrschende Vorstellung von der Wirtschaft durch eine andere Vorstellung herauszufordern, die sich auf paradoxe Erfahrungen beruft: Wenn etwa Schwäche Festigkeit verleihen und Ungewissheit kreativ machen kann, dann kann die Wirtschaft innerhalb der menschlichen Gesellschaft eine andere als die ihr von Freunden und Feinden zugeschriebene Funktion haben. Dann geht es in ihr weniger um die Verwaltung begrenzter Mittel als um die Einladung an Menschen, sich durch erfahrene Grenzen zur Bewegung herausfordern zu lassen. Sie zielt weniger auf die Deckung menschlicher Bedürfnisse, als auf die Entwicklung schöpferischer Fähigkeiten bei den Menschen. Sie hat weniger damit zu tun, dass Menschen an Güter kommen, als damit, dass Menschen zueinander kommen. Sie dient weniger der persönlichen Bereicherung der Einzelnen als dem Aufbau von Gemeinschaft. Sie entspringt weniger der Angst vor Verlusten als dem Vertrauen, vom anderen etwas gewinnen zu können. Bei aller notwendigen Planung und Kontrolle lässt sie Raum für überraschende Entdeckungen.

Diese veränderte Wahrnehmung der Ökonomie bestimmt die Arbeit von Elena Lasida an der sozialwissenschaftlichen Fakultät des Institut Catholique in Paris, an der sie Wirtschaftswissenschaft lehrt, und in der Bischöflichen Kommission Justitia et Pax, in der sie für die Themen nachhaltige Entwicklung und solidarische Wirtschaft zuständig ist. Der Kontakt mit Kleinbauern, deren Lebensweise scheinbar keine Zukunft hat, und mit Schwesterngemeinschaften, die um ihr Überleben kämpfen, inspiriert sie bei ihrer Arbeit an der Theorie eines anderen Stils von Wirtschaft. Umgekehrt lässt diese intellektuelle Arbeit sie die Wirklichkeit anders wahrnehmen. Sie achtet auf die eigentümliche Kraft des Widerspruchs in ihrem Leben und im Leben anderer: etwa wenn gerade solche Menschen zu einer Quelle von Leben werden, die in der Entfaltung ihrer Lebensmöglichkeiten eingeschränkt sind. Biblische Erzählungen erlauben ihr schließlich, aus den Erfahrungen herauszutreten und sie von außen zu betrachten.

Dank ihrer Kunst, immer wieder sehr unterschiedliche Fäden zu verknüpfen, ist Elena Lasida für die vielfältigsten Gruppierungen in der französischen Kirche zur Gesprächspartnerin geworden und zur gefragten Teilnehmerin an interdisziplinären Debatten und Kongressen sozialer Bewegungen. Vor kurzer Zeit ist ihre aus der Spannung zwischen Ökonomie und Theologie heraus entwickelte andere Sicht der Wirtschaft als einer breiten Leserschaft zugängliches Buch erschienen. Darin sagt sie einleitend: »Ich würde gern die Wahrnehmung der Ökonomie verändern, so dass es möglich wird, sie als einen Ort von Leben zu sehen, einen Ort, der zum Leben einlädt. Zum Leben nicht nur im materiellen, sondern in einem existentiellen Sinn; zum Leben nicht nur im physischen Sinn, sondern zu einem Leben, das Lust auf Leben macht.« Nicht Theologin ist Elena Lasida, sondern Wirtschaftswissenschaftlerin, aber eine, für die die Ökonomie ein theologaler Ort ist. »Verachtet von den einen und angebetet von den anderen, enthüllt uns die Ökonomie mehr noch als jeder andere Bereich menschlichen Lebens all sein Elend und seine Wunder. Sie zeigt den Menschen in seinem Ringen um Leben. Das ist es, was mich an der Ökonomie fasziniert.«

HADWIG MÜLLER
Dr. theol., war Referentin des Missionswissenschaftlichen Instituts Missio e.V., Aachen, und Mitglied des Beirats der Konferenz der deutschsprachigen Pastoraltheologen und Pastoraltheologinnen e.V. Sie ist eine gefragte Referentin und Gesprächspartnerin in Fragen internationaler pastoraler Lernprozesse in Bildung und Pastoral