Zehn Jahre war er Gemeindepfarrer in Tembisa, einer der größten Townships Südafrikas in der Nähe von Pretoria. Heute ist Tinyiko Sam Maluleke Dekan der theologischen Fakultät an der Universität von Südafrika UNISA in Pretoria und gilt als die wichtigste theologische Stimme im Südafrika der Post-Apartheid. Der renommierte Professor für Afrikanische und Schwarze Theologie ist ein international gefragter Gastdozent und theologischer Berater unter anderem des Ökumenischen Rates der Kirchen. Seine Mitwirkung an verschiedenen Tagungen, ein Lehrauftrag in Hamburg sowie jüngst sein Auftreten auf dem Ökumenischen Kirchentag in Berlin haben den Missionswissenschaftler auch in Deutschland bekannt gemacht.
Die akademische Laufbahn wurde dem 40jährigen Familienvater nicht in die Wiege gelegt. Und doch trägt Theologie, davon ist Tinyiko Maluleke überzeugt, immer auch biographische und kontextuelle Züge: Das südafrikanische Unrechtssystem hinterließ früh seine Spuren in der Biographie Malulekes. Kaum drei Jahre alt verliert der Sohn eines Wanderarbeiters seine junge Mutter, die auf dem zehn Kilometer langen Rückweg von der örtlichen Maismühle zusammenbricht – beladen mit Mais und mit dem Jüngsten der vier Kinder auf dem Rücken. Der kleine Tinyiko wächst zunächst bei der Großmutter in der von Schweizer Missionaren geführten Missionsstation Valdezia auf – der Frau, die in seinem Dorf beschuldigt wird, durch einen Fluch den frühen Tod ihrer Schwiegertochter herbeigeführt zu haben und die deshalb fortan sozial und wirtschaftlich geächtet wird. Malulekes Fragen zum Tod der Mutter weisen in eine andere Richtung: »Warum muss eine Frau Anfang zwanzig auf diese Weise sterben? Eine weiße Frau ihres Alters wäre in eine Klinik gebracht worden, ja sie wäre nie in die Situation gekommen, allein auf dem Land um das Überleben der Familie zu kämpfen, während der Mann, den sie liebt, allenfalls für zwei Wochen im Jahr nach Hause kommt, weil das südafrikanische Apartheidsystem die Männer zwingt, als Wanderarbeiter ihre Familien zu verlassen. Meine Mutter war eben nicht nur eine Frau, sie war eine schwarze, auf dem Land lebende, des Lesens und Schreibens kaum mächtige Frau, deren Leben nicht viel zählte in dieser Gesellschaft.«
Die Beschäftigung mit dem Leben der Mutter und Großmutter hat den Theologen Maluleke für die Situation vor allem der schwarzen Frauen in der südafrikanischen Gesellschaft und für die unterdrückenden Elemente seiner Kultur sensibilisiert. Maluleke ist einer der wenigen männlichen Theologen, die sich auch inhaltlich mit der Arbeit afrikanischer Theologinnen auseinandersetzen. In der Theologie von Frauen finde er die Kreativität, Innovativität und Qualität, die die Arbeit männlicher Kollegen gegenwärtig eher vermissen lasse. Müde sei sie geworden, diese christliche malestream Theologie in Afrika, die längst ihren prophetischen Biss verloren hätte. Ihr Unvermögen, auf die Herausforderungen der »neuen Weltordnung« zu antworten, kaschiere sie mit einer selbstverliebten Suche nach immer neuen theologischen Metaphern und Labels, ohne tiefergehende methodologische Fragen anzugehen. Dieses ernüchternde Urteil steht im krassen Gegensatz zu der Bedeutung, die die Theologie im Leben des streitbaren Theologen spielt. Nachdem er als Gemeindepfarrer in der Township über Jahre versucht hatte, den brutalen Praktiken des Apartheidregimes etwas entgegenzusetzen, war er Ende der 80er Jahre an einem Punkt angelangt, an dem er sich hilflos und ausgebrannt fühlte. Maluleke entschied sich, an der Universität sein theologisches Wissen zu vertiefen. »In dieser Sinnkrise war die Theologie meine Rettung, sie eröffnete mir die Perspektive, wirklich etwas zur Überwindung des rassistischen Systems beitragen zu können, gab mir meine Handlungsfähigkeit zurück.«
Malulekes theologische Heimat ist die christliche Schwarze Theologie, die sich seit 1970 im Kontext des politischen und kulturellen Widerstands gegen die Apartheid und den ökonomischen Rassismus entwickelt hat. Die Einsicht, dass Theologie öffentlich und politisch sein muss, hat ihre Wurzeln in den Erfahrungen, die der Theologe 1976 im Soweto des Schüleraufstands machte: »Es ist schlechterdings nicht möglich, als schwarzer Jugendlicher in Soweto aufzuwachsen, wo man ständig an die eigene Minderwertigkeit erinnert wird, ohne die politische Dimension dieser Situation zu erfassen. In der theologischen Arbeit fand ich einen Weg, diese politischen Probleme zu bearbeiten und die Vision einer gerechterenWelt zu artikulieren«.
Schwarze Theologie habe sich angesichts des sozialen Wandels in Südafrika verändern und weiterentwickeln müssen, sie habe heute neben dem Rassenkonflikt auch andere Probleme zu bearbeiten, die mit den Transformationsprozessen einhergehen: die Frage der Landverteilung, des Bildungs- und Gesundheitssystems etc. Zudem sehe sich Schwarze Theologie durch neue Gesprächspartner wie die Afrikanischen Unabhängigen Kirchen und die Traditionellen Afrikanischen Religionen herausgefordert. Als Befreiungstheologie überholt, wie immer wieder zu hören, sei sie jedoch auch im Südafrika der Post-Apartheid nicht. Ihr vordringliches Anliegen, so Maluleke, sei die Solidarität mit den Armen und nicht die Solidarität mit einer Regierung, möge diese auch noch so demokratisch und wohlwollend sein. Wie notwendig diese Solidarität gerade in Zeiten des gesellschaftlichen Wiederaufbaus ist, zeigt die aktuelle politische und wirtschaftliche Entwicklung Südafrikas, die immer mehr zu Lasten der benachteiligten Mehrheit verläuft. Für Maluleke ein Grund mehr, das Befreiungs-Paradigma nicht zugunsten von anderen theologischen Leitkategorien wie z. B. der Versöhnung aufzugeben.
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Dass es hier um mehr als nur um einen akademischen Streit theologischer Schulen geht, zeigt Malulekes kritische, von den Opfern und Überlebenden ausgehende Sicht der Wahrheits- und Versöhnungskommission (TRC). Angesichts der Versöhnungstheologie ihres Vorsitzenden Bischof Desmond Tutu warnte Maluleke eindringlich davor, den in der Übergangsphase politisch unabwendbaren Kompromiss, dem sich die TRC verdankt, mittels einer religiös gefärbten Versöhnungsrhetorik zu überhöhen. Wenn immer wieder an die Vergebungsbereitschaft der Opfer und Überlebenden appelliert werde und die Leidenserfahrungen der Menschen sowie ihr Recht auf Entschädigung dem Anliegen der »Versöhnung« untergeordnet würden, so diene dies letztlich den Interessen der Täter. Seit ihren Anfängen ging es der südafrikanischen Schwarzen Theologie darum, zur Wiederherstellung der Würde des schwarzen Menschen beizutragen. Das Schweigen bzw. die Abwesenheit dieser und anderer Schwarzer Denktraditionen in einem theologischen Diskurs, der beanspruche, dem Projekt eines neuen Südafrika die Richtung zu weisen, hält Maluleke für symptomatisch für einen Prozess, in dem den Schwarzen zwar die Rolle »menschlicher Textbücher« zugewiesen, die strukturelle Problematik des fortgesetzten Rassismus jedoch nicht thematisiert wurde.
Der Wissenschaftler Maluleke hat einen hohen Anspruch an sich selbst. Sein Ideal ist das des engagierten Intellektuellen, der durch Forschung und Veröffentlichungen dazu beitragen möchte, eine bessere und gerechte Gesellschaft zu schaffen. »Wir müssen unsere Theologie ernstnehmen,« erklärt er, »anerkennen, welche Macht die Lehren und Theologien über Menschen haben«. Dies gilt heute besonders in Bezug auf die HIV/ AIDS-Pandemie, die der Theologe als neuen Kairos für die Kirche weltweit und vor allem in Afrika betrachtet. »Wir mögen in der Kirche nicht alle infiziert sein, aber zumindest könnte es jeden oder jede von uns treffen. Und sobald auch nur ein Glied des Leibes infiziert ist, geht es zweifellos uns alle an.« Bislang allerdings habe sich die Kirche theologisch als weitgehend impotent erwiesen, unfähig oder auch unwillig, sich den immensen Herausforderungen zu stellen, die uns mit genau den Aspekten konfrontieren, die wir sonst gerne verdrängen: Sexualität und Tod, ungerechte Beziehung zwischen den Geschlechtern, die Zerbrechlichkeit menschlichen Lebens. Wenn aber schon die Theologie schweigt, wie soll dann die HIV/AIDS-Problematik in der theologischen Ausbildung verankert werden, was dringend notwendig wäre, um die Seelsorgerinnen und Seelsorger nicht länger allein zu lassen? Ein HIV/AIDS-Curriculum für die theologische Ausbildung müsste nach Auffassung des engagierten Theologieprofessors sowohl die Lernenden als auch die Lehrenden anleiten, sich kritisch und ohne falsche Rücksichten mit den theologischen und kulturellen Traditionen und Dogmen auseinander zu setzen, die unsere Wahrnehmung der Welt, unser Selbstbild und unsere Gottesvorstellungen prägen.
Maluleke, der sich als schwarzer afrikanischer Missionswissenschaftler gern als Widerspruch in sich bezeichnet, hat in der bisherigen Zeit seines akademischen Wirkens eine beeindruckende Fülle theologischer Beiträge verfasst. Viele davon drehen sich um die Frage nach einem zeitgemäßen Paradigma afrikanisch-christlicher Theologie und darum, wie Afrikas ambivalente, bis heute von der schmerzhaften Vergangenheit der kolonialen Christianisierung geprägte Beziehung zum Christentum geheilt werden kann. Die abgegriffenen Metaphern der politischen Befreiung und die Idee einer panafrikanischen Identität haben nach Malulekes Einschätzung ihre Kraft verloren – ein Umstand, der bei ihm ein intensives Gefühl der spirituellen und intellektuellen Einsamkeit hervorruft, noch dazu, wo viele der alten Generation südafrikanischer Theologen dem Ruf in die Politik und Verwaltung gefolgt sind. Er selbst setzt auf die Handlungsfähigkeit der kleinen Leute, ihre Kreativität und Innovativität, die sie inmitten der afrikanischen Tragödie Mittel und Wege finden lassen, in Würde zu überleben. Die Theologie habe die einzigartige Rolle, den alltäglichen Kampf afrikanischer Christinnen und Christen gegen die kulturellen, religiösen und wirtschaftlichen Mächte des Todes anzuerkennen und wertzuschätzen, zu deuten und zu stärken. Wenn Maluleke von der Handlungsfähigkeit der Marginalisierten spricht, hat dies nichts Glorifizierendes oder Romantisierendes. Darin unterscheidet er sich von anderen afrikanischen Theologen, die ebenfalls die Kraft des alltäglichenWiderstands und der populären religiösen Bewegungen entdeckt haben. Maluleke ist jede Art von Glorifizierung suspekt, sei es des südafrikanischen Versöhnungsprozesses, sei es des alltäglichen Überlebenskampfs seiner Landsleute. »Wir leben in einer Gesellschaft, in der der Tod eine Art zu leben geworden ist. Im Südafrika von heute ist der Tod der Stoff, aus dem das Leben ist. Das Leben wird immer mehr zu einem kurzlebigen Spiel des Tötens und Sterbens.« Christen aber, die in der Nachfolge dessen lebten, der in die Welt gekommen ist, damit alle Menschen das Leben in Fülle haben, dürften den Tod nicht glorifizieren. »Obwohl er am Kreuz starb, hat Jesus niemals den Tod verherrlicht, nicht einmal seinen eigenen.«
Seine klaren Worte und sein differenzierter Blick, die theologische Kreativität und die Bereitschaft, sich immer wieder anfragen zu lassen, machen Maluleke zu einem weltweit geschätzten Gesprächspartner, der sich als Verfechter einer radikal kontextuellen Theologie nicht scheut, über den Tellerrand seines eigenen Kontextes zu schauen. In einem Essay über die Bedeutung des 11. Septembers aus südafrikanischer Sicht schreibt er: »Vielleicht größer noch als die Gefahr des Terrorismus ist die Perversion des menschlichenWertes und der menschlichen Identität, Perversionen, die allzu oft durch die Kategorien von Nationalität, Geschlecht, Klasse und ›Rasse‹ vermittelt worden sind.«
KATJA HEIDEMANNS
Abteilungsleiterin Spendenkommunikation bei missio Aachen