Manche Begebenheiten beginnen ganz harmlos – und entwickeln sich zu einem wichtigen Faden im Leben eines Menschen. Mir erging es mit einem Interview so, das eines Tages auf meinem Bibliotheksplatz an der Universität in Fribourg lag. Ich studierte Theologie und interessierte mich für Befreiungstheologie und feministische Theologie, kannte aber kaum Ansätze, die diese beiden Richtungen miteinander verbanden. Bis ich eben jenes Interview mit Sr. Mary John Mananzan zu Gesicht bekam. Auch die von ihr gelebte Verbindung von politischem Engagement und Spiritualität faszinierte mich. Ich wollte diese Frau kennenlernen – auch wenn sie »am anderen Ende der Welt« auf den Philippinen lebte. Aus der ersten Begegnung eineinhalb Jahre später erwuchs eine tiefe Verbundenheit und Freundschaft, auch mit den Philippinen, die noch heute mein Leben prägt.
Werdegang und Feuertaufe
Mary John Mananzan stammt aus der philippinischen Mittelklasse und tritt mit 19 Jahren in den Orden der deutschen Missionsbenediktinerinnen ein. Nach Jahren des Unterrichts in der Provinz wird sie von ihren Oberen nach dem Zweiten Vatikanum zum Theologie- und Philosophiestudium nach Deutschland geschickt. Später schreibt sie an der Gregoriana in Rom ihre Dissertation über Wittgenstein. Zurückgekehrt auf die Philippinen erlebt sie 1975 in den ersten Jahren des Kriegsrechts unter Marcos ihre »Feuertaufe«: Sie folgt einem Aufruf an Ordensleute und Priester, die Streikenden einer Weinkellerei durch ihre Präsenz vor der staatlichen Gewalt zu schützen. Der Versuch misslingt und sie erfährt die Brutalität des Militärs an den Arbeitenden und die eigene Hilflosigkeit. Aus dieser Erfahrung und in der Analyse von Kirche und Gesellschaft wachsen politisches Bewusstsein und eine tiefe Verbundenheit mit dem Befreiungskampf des Volkes. Ihre Werte verschieben sich: »Eindrücklich war für mich, dass wir im Befreiungskampf mit dem Volk selbst befreit wurden von absoluten Gesetzen und Ordnungen. Wir erkannten: Nur das Leben ist absolut.« In der wachsenden Solidarität mit dem Volk lernt sie zivilen und kirchlichen Ungehorsam praktizieren. Wichtige Voraussetzung dafür ist die innere Freiheit: die Freiheit der Selbsterkenntnis, das Sich-selbst-kennen und -Annehmen auch in der Erfahrung des Scheiterns; die Freiheit von Angst, die darin besteht, trotz begründeter Furcht zu handeln, die Freiheit von Gesetzlichkeit oder Versklavung durch absolute Wertvorstellungen und die Freiheit von Bitterkeit und Ressentiments.
Feministische Theologie in Asien
Als Sr. Mary John Mananzan 1977 vom Ökumenischen Weltkirchenrat gebeten wird, zum Thema »Frauen und Menschenrechte auf den Philippinen zu sprechen, erkennt sie die häufig tabuisierten Unterdrückungsformen von Frauen wie Diskriminierung, Vergewaltigung, Inzest, Frauenhandel etc. Sie gründet daraufhin mit anderen Frauen »Filipina«, die erste feministische Frauenorganisation in den Philippinen, und ist auch 1984 beteiligt an der Gründung von GABRIELA, dem noch immer grössten Frauendachverband des Landes, deren Vorsitzende Mary John Mananzan seit mehr als zehn Jahren ist. »Wer erkennt, dass es eine Unterdrückung von Frauen aufgrund des Geschlechts gibt und gegen dieses System ankämpft, ist Feministin.«- lautet die einfache Definition. Seither analysiert Sr. Mary John die Rolle von Kirche und Theologie bezüglich der Unterdrückung von Frauen und setzt sich für die Rechte von Frauen ein. Sie hält unzählige Vorträge zu Prostitution, Frauenhandel und andere Formen der Gewalt gegen Frauen, analysiert die gesellschaftlichen und religiösen Wurzeln der Frauenverachtung. Besonders zu erwähnen ist ihre Studie zur gesellschaftlichen Stellung der mujer indigena vor, während und nach der Conquista. Hier zeigt sie auf, wie die Frauen in der vorkolonialen Zeit auf den Philippinen einen egalitären Status hatten, der sich vor allem im Erbrecht und in der Religion entfaltet hatte. Frauen waren die Priesterinnen und konnten auch Leitungsfunktionen übernehmen. Als die Missionare ankamen, waren sie überrascht von den Freiheiten der Filippina. Sie unterdrückten die Priesterinnen, die ihre Stellung am meisten gefährdeten, diffamierten sie öffentlich und untergruben ihren Einfluss. Sie versuchten über Religion und Erziehung die Frauen auf Küche, Kirche und Kinder festzulegen und durch den Wert der Jungfräulichkeit ihren öffentlichen Handlungs- und Bewegungsraum einzuschränken – entsprechend dem Frauenbild des iberischen goldenen Zeitalters. Mary John Mananzan zeigt auf, wie gewisse Texte der Bibel und die Schriften der Kirchenväter und Lehrer Verachtung und Unterordnung von Frauen unter die Herrschaft des Mannes begünstigen und damit Gewalt gegen Frauen legitimieren. Sie weist darauf hin, dass Frauen durch gewisse Konzepte zu einer Opfermentalität erzogen werden und stellt dem eine Spiritualität für das Leben gegenüber, die Frauen ermutigt, sich selbstbewusst für die eigenen Rechte und für das Leben einzusetzen.
Auf Deutsch erschienen:
Dissertation:
Erziehung und Bildung von Frauen
ist ein roter Faden im Engagement von Sr. Mary John. Neben ihrer Tätigkeit als Lehrerin, Dekanin und nun Leiterin von St. Scholastica, einer der größten Mädchenschulen in Manila ist Ende der achziger Jahre auf ihre Initiative hin das Institut für Frauenstudien in Manila gebaut worden, dem sie als Direktorin vorsteht. Hier werden verschiedene Lehrgänge und Bildungsangebote für Frauen aus den Philippinen und Asien durchgeführt: ein Training für Basisfrauen, ein dreimonatiger Lehrgang in interkulturellen Frauenstudien, ein feministisch- theologischer Studiengang mit akademischem Abschluss. Mitte der neunziger Jahre entstanden ein ökofeministischer Bauernhof und das Schulungszentrum in Tagaytay, außerhalb von Manila. Hier werden seit neuestem auch verschiedene Kurse in Ökofeminsmus und ganzheitlicher Heilung angeboten.
Asiatisch-feministische Frauenspiritualität
Sr. Mary John Mananzan hat in den letzten Jahren die Arbeit von EATWOT (Vereinigung von Dritte-Welt- Theologinnen und Theologen) wesentlich mitgeprägt. In den 90er Jahren gingen von deren Frauenkommission wichtige Impulse aus, die in einem mehrjährigen Zyklus zur Gewalt gegen Frauen und den Ansätzen einer Spiritualität für das Leben kulminierten. Die aufbrechende Spiritualität von Frauen in Asien nährt sich aus den Erfahrungen von Gewalt und Leiden und ihrem schöpferischen Widerstand dagegen. Sie benennen Spiritualität als etwas, das zur eigenen innersten Mitte führt und Menschen ermutigt, ihre innersten Kraftquellen zu verwirklichen. Die allgemeine Tendenz dieser Spiritualität ist die Suche nach menschlicher Würde und Selbstbestimmung im Hinblick auf eine ganzheitliche Befreiung. Gemeinsam mit anderen asiatisch-feministischen Theologinnen hat Mary John Mananzan Charakteristiken einer befreienden Frauenspiritualität zusammengetragen, die sie selber konsequent in ihrer vielfältigen Kurs- und Vortragstätigkeit umzusetzen versucht. In den letzten Jahren hat Sr. Mary John Mananzan mehrere Male auf Einladung des katholischen Hilfswerks Fastenopfer in der Schweiz Kurse zu Shibashi angeboten, einer Bewegungsmeditation, die in den Philippinen und mittlerweile auch in der Schweiz weit verbreitet ist.
BARBARA LEHNER
freischaffende feministische Theologin mit den Schwerpunkten Shibashi - Meditation in Bewegung sowie Trauerbegleitung