Mitte der achtziger Jahre las ich »Der Gott der Christen« (»El Dios de los Cristianos«) von Ronaldo Muñoz. Dieses Buch ist der zweite Band in der Reihe Teologia de Libertação, Petropolis 1986. Damals lebte ich am Stadtrand von São Paulo, Brasilien, und teilte die Mühen, Kämpfe, aber auch Freuden der Menschen dort. Das Buch war wie eine Annäherung an eine Quelle, die unsichtbar unter unserem bewegten Leben floss und es nährte, ohne dass wir darauf Acht hatten. Ronaldos Buch sprach von Gott und von den Armen. Dieses »und« war von einer Dichte, die mich nicht mehr los ließ. Gott, und zwar »der Gott der Christen« gehört zu den von ungerechten Strukturen Unterdrückten, und diese gehören zu ihm: das war die Mitte nicht einer theologischen Abhandlung, sondern eines in Hoffnung und Liebe gelebten Glaubens und zugleich einer aus der Gottesnähe lebenden Nachbarschaft mit denen, die von der Gesellschaft ihres Landes ausgeschlossen werden. Ich staunte über eine Theologie, die nicht nur mein Denken anregte, sondern auch eine Herausforderung für mein damaliges Leben war und mir einen anderen Blick für die Menschen gab, deren Freundschaft ich dieses Leben verdankte.
Für Muñoz ist der erste Ort lateinamerikanischer Theologie – so sagt er in einem Interview der »Solidaridad « vom Mai/Juni 2000 – die lebendigen, sich wandelnden und äußerst vielgestaltigen Solidargemeinschaften der verarmten und unterdrückten Bevölkerung. Deswegen sei es übrigens unmöglich, von außen, von Europa aus, über den wirklichen Zustand der Theologie der Befreiung zu urteilen. Ein solches Urteil treffe nur das Bild, dass sich viele in Europa nach der Produktion von Schriften zur Befreiungstheologie in den siebziger Jahren gemacht hatten. Um mit diesen Klischees zu brechen, spricht Ronaldo Muñoz lieber von lateinamerikanischer Theologie mit einer Option für die Armen. Und er lebt das, wovon er spricht.
Für ihn als Ordensmann und Priester sei grundlegend, in aller Einfachheit ein Nachbar zu sein, Mit- Bewohner der Hüttensiedlung, Mit-Mensch und Freund der dort ihr Leben erkämpfenden und verschenkenden Menschen. Damit antwortet Ronaldo auf die Frage nach der Rolle des Priesters, die ihm als Referenten zum Thema »Laien in Gemeindeleitung« beim Katholikentag in Mainz gestellt wurde. Seine differenzierte Beobachtung der Gemeinden der gesellschaftlich Ausgeschlossenen entspringt seiner engagierten und selbstlosen Beteiligung an ihrem Leben. Tragend – so betonte er in Mainz – sei die geschwisterliche Zusammenkunft, das Miteinander-Teilen des Lebens. Die Beteiligung der Laien nehme in allen Bereichen und auf allen Ebenen zu. Ein einflussreicher Teil der kirchlichen Hierarchie halte allerdings die Laien nicht für erwachsene Christen und nehme auch nicht wahr, dass das Wachstum von Gemeinden mit Eigenleben für die Hoffnung der Menschheit wichtiger ist als die unmittelbare »Effizienz« der Dienste des Pfarrers.
Sein Glaube an Gott, der als Gott des Lebens gerade bei denen ist, denen das Leben geraubt wird, und sein Glaube an die solchermaßen Beraubten und Betrogenen, die aus dem Vertrauen und der Hoffnung auf einen unbeirrbar nahen Gott leben, sind bei Ronaldo Muñoz zu einem einzigen Glauben unauflöslich verbunden. Dieser Glaube prägt seine theologischen Ausführungen und richtet sie beharrlich auf eine Kirche aus, die als Volk Gottes und Netz solidarischer Gemeinschaften auf dem Weg ist.
Auf Deutsch ist erschienen:
Wichtigste Werke auf Spanisch:
Wie ein roter Faden zieht sich durch seine Schriften von Anfang an das Thema der Kirche. Die vom ganzen Gottesvolk ersehnte Kirche lebt geschwisterlich und gemeinschaftlich gemäß dem Evangelium und den Beschlüssen der Konzilien und Konferenzen von Medellin, Puebla und Santo Domingo. Sie hört auf das, was der Geist ihr heute sagt. Ihre »Amtsträger« zeichnen sich durch den einfachen und demütigen Dienst an den Geschwistern aus und sind in erster Linie Gottsucher mit den anderen Christen. Diese Kirche zeigt sich schon in den Gemeinden, in denen Arme aus der Quelle des dreieinigen Gottes Kraft zu einem Leben in Würde schöpfen. Sie ist dort gegenwärtig, wo die von ungerechter Not Bedrückten den Gott der Bibel erkennen, der sie in die Freiheit ruft und der zugleich die Mühen und Leiden ihres Weges teilt.
Die gesuchte und im gemeinschaftlichen Leben der Armen schon zu findende Kirche bestimmt die Lebensoption von Ronaldo Muñoz. Seit dreißig Jahren teilt er die Leiden und auch Freuden der armen Bevölkerung und dient den Ausgegrenzten als Pfarrer. Zugleich arbeitet er in anderen Teilen des Landes als Theologe und begleitet Reflexions- und Ausbildungsprozesse vor allem von Laien. In dieser Funktion hat er zusammen mit anderen eine »theologische Kommunität des Südens « ins Leben gerufen, um die Isolation Chiles auf nationaler, kultureller und kirchlicher Ebene zu durchbrechen und die chilenische Kirche aus der Abgeschlossenheit, in der sie sich selber genügt, herauszuholen.
In der Form seines theologischen Schreibens findet diese doppelte Lebensoption auch ihren Ausdruck: Neben Büchern und Artikeln nehmen bei Ronaldo Texte in freien Versen zu. Eine ganze Sammlung solcher Texte, die zwischen 1982 und 1997 entstanden sind, liegen in dem kleinen Band vor: »Pobres – Evangelio – Poder «, Santiago 1998. Er ist im Geist des Magnifikat geschrieben und den Armen der christlichen Gemeinden in Santiago gewidmet, von denen Ronaldo anschließend aufbricht, um in den Süden Chiles zu gehen.
Muñoz bekennt sich dazu, ein Lehrling des Christlichen bei und mit den Armen zu sein. DerWeg der Umkehr zum Gott des Lebens führt für ihn nur durch die Annäherung an die realen Armen – eine Annäherung, die wiederum einer geduldigen Anstrengung der Einfügung (incerción) in die Orte und Lebensweisen der Armen bedarf, in ihre Kämpfe und Freuden, ihre Entbehrungen und Schwächen, ihr Fühlen und Denken, Hoffen, Beten und Feiern. Zu solcher Annäherung gehört auch das klare Bewusstsein, dass eine völlige Identifikation nicht möglich ist, dass aber gerade die Unterschiede auch einen neuen Sinn bekommen, indem sie Solidarität, Dialog und Dienst ermöglichen.
HADWIG MÜLLER
Dr. theol., war Referentin des Missionswissenschaftlichen Instituts Missio e.V., Aachen, und Mitglied des Beirats der Konferenz der deutschsprachigen Pastoraltheologen und Pastoraltheologinnen e.V. Sie ist eine gefragte Referentin und Gesprächspartnerin in Fragen internationaler pastoraler Lernprozesse in Bildung und Pastoral