Albert Nolan OP

Der Dominikaner Albert Nolan ist der bekannteste katholische Theologe Südafrikas; sein Jesusbuch: »Jesus Before Christianity«, 1976 in Kapstadt veröffentlicht, wurde in zehn Sprachen übersetzt und ist mit über 200.000 verkauften Exemplaren das erfolgreichste theologische Buch des Landes. Über den Theologen Nolan zu schreiben, bedeutet, ein Stück Kirchen- und Theologiegeschichte Südafrikas zu schreiben, besonders der 80er und 90er Jahre, die er wie kaum ein anderer geprägt hat.

In Südafrika ist sein Name fast synonym mit der Bezeichnung »Kontextuelle Theologie« (Contextual Theology), jener Gestalt südafrikanischer Befreiungstheologie, die im südafrikanischen KAIROS-Dokument vom September 1985 seine größte Verdichtung fand, und die Albert Nolan in seinem zweiten wichtigen Buch »God in South Africa« 1988 systematisch auf den Begriff gebracht hat.

Was treibt diesen rastlos tätigen, äußerlich unscheinbaren, bescheidenen Mann mit asketischen Zügen, mit wachen Augen und lebhaften Handbewegungen, der nacheinander Dozent an der ordenseigenen Hochschule, Studentenpfarrer und Nationalkaplan der YCS (Young Christian Students), dann theologischer Mitarbeiter des Instituts für Kontextuelle Theologie, schließlich Herausgeber und Chefredakteur des Kirchenmagazins Challenge war und seit 2000 wieder Provinzial der südafrikanischen Provinz der Dominikaner ist, ein Amt, das er schon in den heißen Jahren der Apartheid, von 1976–1984 innehatte? Es ist eine einzige große Leidenschaft, die sich konsequent und geradlinig durch sein Leben zieht, und identisch mit dem ist, was das Charisma des Dominikanerordens ist: »Preaching the gospel« oder, was für Albert Nolan dasselbe ist: »Doing theology«.

Es ist entscheidend zu verstehen, was Nolan mit »gospel « meint. Es ist das »lebendige Evangelium«, Gottes Stimme, hier und jetzt, oder: christologisch gewendet, der Anruf des Geistes des auferstandenen Christus, an mich, an uns, an die Kirche in der jeweiligen konkreten Lebenssituation. Dieses lebendige Evangelium zu »verkünden « bedeutet für Nolan, wie für die ganze befreiungstheologische Bewegung, zunächst einenOrtswechsel zu vollziehen, nämlich sich dorthin zu begeben, wo dieses lebendige Evangelium besonders deutlich zu hören ist: bei den Armen, Gedemütigten, Entrechteten; bei denen, die sich wehren und widersetzen und ihr eigenes Leben riskieren im Einsatz für andere; dort im »struggle«, im Kampf der schwarzen, unterdrücktenMehrheit gegen die Apartheid, für Menschenwürde, geschieht »Gnade«. Dort, wo immerMenschen Gottes »compassion«, Gottes leidenschaftliche Parteinahme für die Kleinen, zu ihrer eigenen machen, wird Gott greifbar, spürbar.

»Theologie treiben« bedeutet dann immer zuerst, selbst Partei zu ergreifen, dann zu hören und erst dann zu reden, zu predigen und zu schreiben. Das hat Nolan sein Leben lang getan, auch wenn er als Weißer in der vierten Generation einer Familie von britischen Einwanderern einen schwierigen Weg zurücklegen musste, um an den rechten Ort für sein theologisches Tun zu gelangen; dafür musste er seinen Platz im Widerstand gegen das völkerrechtswidrige Regime der Apartheid finden.

Bewegt von dem Aufbruch, den das 2. Vatikanische Konzil für ihn bedeutete, fand er besonders als langjähriger Nationalkaplan der Young Christian Students, über schwarze Studenten seinenWeg in den demokratischenWiderstand. Er sagte oft: »Ich habe mehr von den jungen Menschen in den Townships gelernt, was es heißt, Christ zu sein, als aus allen meinen Büchern.« Für Albert Nolan bedeutete dies auch, dass er es durchsetzte, dass seine kleine Dominikanergemeinschaft auch physisch aus einem rein weißen Vorort von Johannesburg nach Mayfair umsiedelte, in ein etwas heruntergekommenes Haus in einem Arbeiterviertel, in dem es möglich war, dass sich dort die vorwiegend schwarzen Mitglieder der Leitungsteams von YCS und YCW (Young Christian Workers, CAJ) aufhalten konnten.

Das Besondere am südafrikanischen Freiheitskampf war die Tatsache, dass er seit Ende der sechziger Jahre bis zum Ende der siebziger Jahre hauptsächlich von SchülerInnen und Studierenden getragen wurde. Dort entstand auch, mitten heraus aus der schwarzen Bewusstseinsbewegung, die »schwarze Theologie«, welche Schwarzen mit einem neuen Selbstbewusstsein zugleich neue kritische Fragen aufgab, die sich an eine von Weißen dominierte Kirche wandte, die aus den kolonialen Siedlerkirchen herausgewachsen war. Dies galt besonders für die katholische Kirche, die bis Ende der achtziger Jahre, bei einerMitgliedschaft von etwa 80 % Schwarzen, zu 80 % von weißen Bischöfen, Priestern und Ordensleuten und einer von diesen mehrheitlich vertretenen vor-vatikanischen Theologie bestimmt wurde.

Aus seiner seelsorgerlichen Praxis in der YCS hat Albert Nolan die entscheidenden Impulse empfangen und weitergegeben, die zur Herausbildung der südafrikanischen »Contextual Theology« geführt haben. Der Begriff bezeichnet den bewussten Gebrauch des politischen, sozialen und wirtschaftlichen Kontextes der Unterdrückung als »locus theologicus«, als privilegierten Ort von Gottes lebendiger Gegenwart.

Diese Gegenwart inmitten des täglichen Lebens von jungenMenschen, SchülerInnen, Studierenden und Arbeitenden, inmitten der Boykott- und Protestaktionen, mitten in Haft und Folter, mitten in Studium und Arbeit unter menschenverachtenden Bedingungen zu entdecken, ermöglichte die von der katholischen Arbeiterjugend (YCW) übernommene Methode des »Sehens, Urteilens, Handelns«. Diese hat Albert Nolan zusammen mit anderen, und innerhalb der katholischen Kirche mit aktiver Förderung vom Erzbischof Denis Hurley, des langjährigen Vorsitzenden der Katholischen Bischofskonferenz, systematisch zur »Aktions-Reflexionsmethode « fortentwickelt und Hunderten von jungen Menschen vermittelt.

Biographische Daten

  • geboren 1934 in Kapstadt
  • 1955 Eintritt in den Dominikanerorden
  • theologische Studien an der Ordenshochschule der Dominikaner in Stellenbosch
  • 1961 zum Priester geweiht
  • Doktorat in Theologie am Angelicum in Rom
  • von 1963–1969 Dozent für Theologie an der Ordenshochschule in Stellenbosch
  • von 1970–1984 als Studentenpfarrer und zugleich als Kaplan der YCS (Young Christian Students) tätig
  • 1977 Dozent für Theologie in Hammanskraal
  • von 1976–1984 und wiederum seit 2000 Provinzial der Dominikaner
  • von 1984–1991 imInstitute for Contextual Theology in Johannesburg tätig
  • von 1991–1998 Herausgeber der Zeitschrift Challenge
  • zahlreiche Vorträge im In- und Ausland

Eine Auswahl von Publikationen

Auf Deutsch erschienen:

  • Müssen Christen immer Friedensstifter sein?, Deutsche Kommission Justitia et Pax, Bonn 1985;
  • Der Dienst an den Armen und geistliches Wachstum, Deutsche Kommission Justitia et Pax, Bonn 1986;

Auf Englisch erschienen:

  • Jesus before Christianity; Cape Town 1976, 156 S.; deutsche Übersetzung: Jesus vor dem Christentum: Das Evangelium der Befreiung, Luzern 1993, 208 S.;
  • South Africa: Social Analysis, Part I: The Dominant Ideology in South Africa Today in Grace and Truth, 3/1, 1982, S. 33–46;
  • South Africa: Social Analysis, Part II: Resistance to the Dominant Ideology, in Grace and Truth, 3//2, 1982, S. 84–93;
  • The Political and Social Context, in A. Prior (Hrsg.): Catholics in Apartheid Society, Cape Town 1982, S. 1–21;
  • Evangelisation and Human liberation, in Grace and Truth, 5/4, 1984, S. 158–166;
  • Theology in a Prophetic Mode, in B. Tlhagale and I. Mosala (Hrsg): Hammering Swords into Plugshares, Essays in Honor of ArchbishopMpilo Desmond Tutu,Michigan 1986, S. 131–140;
  • Lectures On the Theology Of Liberation, in Albert Nolan, Richard Broderick (Hrsg.): To Nourish our faith: The theology of liberation in South Africa, Hilton 1987, 118 S.;
  • The eschatology of the KAIROS Document, in Sedos: Bulletin, 1987, H. 9; S. 285–292;
  • God in South Africa: The challenge of the Gospel; Cape Town 1988, 241 S.; deutsche Übersetzung: Gott in Südafrika: Die Herausforderung des Evangeliums, Fribourg 1989, 270 S.;
  • Doing theology in South Africa, in Sedos: Bulletin, 1989, H. 4; S. 123–126;
  • The People as a Theological Concept in Grace and Truth, 10/2, 1990, S. 66–74;
  • The Paradigm Shift in Grace and Truth 10/2, 1990, S. 97–103;
  • Speckmann, T. and Kaufmann, L. (Hrsg.): Towards An Agenda for Contextual Theology, Essays in Honour of Albert Nolan, Pietermaritzburg 2001.

Dies war der entscheidende theologische Beitrag, den Albert Nolan beigesteuert hat; daraus sind seine Schriften und Bücher erwachsen.

Die aus der katholischen Theologie und Praxis von YCW und YCS in Südafrika weit über den Raum der katholischen Kirche hinaus gewachsene Gestalt kontextueller Theologie Nolanscher Prägung stellte auch die Gottesfrage neu. Wer war dieser Gott, den christliche Gruppen und Kirchen aller ideologischen Spektren Südafrikas für sich beanspruchten? Damit wurde Südafrika zu einem »Testfall des christlichen Gewissens« und zu einer einzigartigen ökumenischen Lernerfahrung unter Christen weltweit.

Diese Testfrage steht hinter dem wichtigsten Dokument südafrikanischer Befreiungstheologie, dem KAIROS- Dokument vom September 1985, an dessen Formulierung Albert Nolan maßgeblichen Anteil hat. »Das Dokument ist ein Akt leidenschaftlichen Glaubens derer, die sich weigern, dass der Gott ihres Glaubens identifiziert wird mit dem falschen Gott von Südafrikas unterdrückerischem Monstrum« (Malusi Mpulwana im Vorwort zu Nolans »God in South Africa«).

Obwohl Albert Nolan nicht zum ursprünglichen Kreis der zumeist schwarzen Pastoren aus Soweto gehörte, welche den Anstoß zum Prozess gaben, der dann zum KAIROS-Dokument führte, war er als Mitarbeiter des Instituts für Kontextuelle Theologie, an dem er von 1984 –1991 »Theologie trieb«, verantwortlich für die Koordinierung des Prozesses und die letzte Redaktion des Textes. Hier, wie auch bei seinen Tausenden von Vorträgen und Predigten, die er landauf landab gehalten hat, konnte er die große Fähigkeit einbringen, die wir alle an ihm bewunderten und bewundern: die Klarheit und entwaffnende Einfachheit seiner Sprache. Geschult durch die klassische thomistische Begrifflichkeit und neo-marxistische Sozialanalyse in der Tradition Gramscis und Althussers gelingt es ihm immer wieder, komplexe Sachverhalte begrifflich zu klären und verständlich darzustellen, sodass er den theologischen Diskurs in Südafrika wie kein(e) andere( r) auch sprachlich geprägt hat.

Die strukturelle Analyse der drei Kirchen (der staatstragenden, der liberalen und der prophetischen), eine Gliederung, die sich quer durch die mehr als 4.000 christlichen Kirchen Südafrikas zieht, ist eine bestechend klare Antwort, wo der Gott des Jesus von Nazareth zu finden ist: an der Seite derer, die arm und unterdrückt sind: »in dieser Situation des strukturellen Konflikts heißt der einzige Weg, alle zu lieben, sich auf die Seite der Armen und Unterdrückten zu stellen,… und zwar um der Armen wie auch der ReichenWillen«. Damit wird auch Kirche zu einem »site of struggle«, zu einem umkämpften Terrain.

Das KAIROS-Dokument, das wie kaum ein anderes theologisches Zeugnis ein weltweites Echo fand, war Ausdruck einer Grundüberzeugung von Albert Nolan, die in den berühmten Anfangsworten anklingt: »Die Zeit ist da. Südafrika wird bis in die Grundfesten von einer Krise erschüttert …«. Der Zeitbegriff einer prophetischen Theologie, wie Albert Nolan sie vertritt, lebt von der Erwartung des unvorhersehbaren Wortes und Eingreifens des Gottes, der Sklaven befreit.

Dieses Eingreifen Gottes schafft privilegierte Geschichtsmomente, welche das Dokument »KAIROSMomente « nennt. Dieser von Gott her eröffnete KAIROS ist »Herausforderung« (»Challenge« – wohl das Lieblingswort Nolans) an die Kirchen, die gegenwärtige Krise als Chance eindeutiger Parteinahme für die Unterdrückten zu ergreifen, in Stellvertretung des Gottes, an den Jesus von Nazareth glaubte und den er verkörperte, wie Albert Nolan in seinem aufregenden Jesus- Buch so plastisch dargestellt hat.

Für Albert Nolan war die Zuspitzung der Krise in Apartheid-Südafrika in der Mitte der achtziger Jahre ein einzigartiger KAIROS-Moment für die Glaubwürdigkeit des Evangeliums – und deshalb, je nach Antwort, eine Stunde der Gnade, oder des Gerichts, für die Kirchen in Südafrika, und für kirchliche Partner weltweit. Albert sprach von einer Zeit der göttlichen »Visitation«, im ursprünglichen Sinne des deutschen Wortes »Heim-Suchung«. Daher auch der Titel seines zweiten großen Buches: »Gott in Südafrika«. Dies war auch der Grund, warum er, als er 1983 auf dem Generalkapitel zum Generalmeister des weltweiten Dominikanerordens gewählt worden war, darum bat, von dieser Wahl entbunden zu werden, da sein Platz in dieser kritischen Zeit in Südafrika sei.

Seit der demokratischen Wende im April 1994 ist es etwas stiller um Albert Nolan geworden. Der KAIROS ist weitergezogen. Südafrikas Befreiung geht durch die Wüste. Albert Nolan hatte für die Übergangszeit als neue Losung für die Kirchen das Stichwort »kritische Solidarität« mit der neuen Regierung ausgegeben. Diese Zeit scheint vorbei zu sein. Zunehmend sind Südafrikas Regierungsvertreter Wortführer Afrikas im Zeichen einer konzerngesteuerten Globalisierung, welche sie auch im Lande selbst, ungeachtet der gravierenden Konsequenzen für die nach wie vor benachteiligte Mehrheit von Südafrikas Menschen, konsequent umsetzen. Zeit für die Kirchen, aus einer eindeutigen »Solidarität « mit den Verlierern der gegenwärtigen weltweit vorangetriebenen makro-ökonomischen Strukturpolitik zugunsten der global players, sich kritisch mit dieser Politik auseinander zu setzen. Von »critical solidarity« mit der demokratischen Regierung zum »critical engagement « im Interesse der Armen, ein neuer KAIROS?

Derweil plant Albert Nolan, inmitten seiner Arbeit als Provinzial, sein nächstes Buch mit dem Arbeitstitel: »Kontemplation, Aktion und die neue Kosmologie«. Wir dürfen gespannt sein, wo Albert Nolan diesmal seine theologischen Pflöcke einschlägt und welche Wegmarken er setzen wird.

THEO KNEIFEL
Theologe, über viele Jahre in Südafrika tätig gewesen, Leiter der Kirchlichen Arbeitsstelle Südliches Afrika in Heidelberg