Am 4. Oktober 2002 fand in der ehrwürdigen City Hall der katholischen Universität von Leuven (Belgien) die Verteidigung einer Doktorarbeit statt, die in die Annalen der theologischen Fakultät einging: zwischen zwei Laptops und einer mittelalterlich bekleideten Jury führte ein Filipino-Student eine beeindruckende multimediale Präsentation seiner Forschungsergebnisse vor und bekam die seit der Trennung der französisch- und der flämischsprechenden Fakultäten noch nie vergebene Höchstnote!
Dem damals 41-jährigen war es gelungen, in einfachen Worten die Substanz seiner Reflexion – ausgehend von der Theorie des französischen Sozialwissenschaftlers Pierre Bourdieu – an ein breit gefächertes Publikum zu vermitteln. Die Relevanz dieser Theologie für seine heimatliche Kirche lag auf der Hand (und auf dem Bildschirm): den in Europa illegal eingereisten Filipinos sowie den Studenten aus anderen südlichen Kontexten war sofort klar, was Bourdieu mit den »Müll-Menschen« der Megalopole Manila zu tun haben könnte.
Ein Jahr später erhielt seine Doktorarbeit »Back to the Rough Ground of Praxis« den Preis für Geisteswissenschaft der Leuven Academic Foundation, der den besten Beitrag dieser Art in ganz Belgien für die Jahre 2000 –2003 prämierte. Diese Fähigkeit, einfache Leute anzusprechen und gleichzeitig theoretisch kreativ zu arbeiten, ist ein Merkmal dieses noch jungen Theologen, der einer der besten auf den Philippinen werden könnte.
In einem Vortrag vom Januar 2005 erläutert er sein Verständnis einer Theologie, die am Rande der Gesellschaft und der Kirche entsteht. Er betont die doppelte Bedeutung des »Randes«: der Rand ist zunächst einmal der Freiraum, um dem Geschriebenen auf einem Blatt Papier, der die nötige Distanz schafft, um den Text besser unterstreichen zu können. Der Rand dient der Fokussierung auf die Mitte: in diesem Sinne ist er eine sinnvolle Begrenzung, die dem Kern eine innere Strukturierung verleiht. Der Rand ist aber zum zweiten eine Grenze, die durch ihr bloßes Dasein auf die »Außenwelt « hinweist: er signalisiert, dass es auch eine äußere Realität gibt, die wahrgenommen werden muss.
Beide Aspekte – Begrenzung und Grenze (limit and frontier) – lassen sich sehr leicht auf Theologie und Kirche anwenden. Die Begrenzung hebt den Kern der Botschaft hervor und gleichzeitig öffnet sie Raum für Kommentar und Interpretation, wie mittelalterliche Mönche Randnotizen und Verzierungen in ihre Manuskripte eingefügt haben. Dadurch steht der Kern in einer gewissen Spannung zu seinem Rand und bemüht sich, die Kontrolle über ihn zu behalten, wie man es am Schicksal verschiedener theologischer Vorreiter öfter ablesen kann! Die Grenze ihrerseits besagt das Dynamische der Situation, die Stärke des Lebens, den endlosen Horizont des noch nicht Entdeckten, das noch Unbekannte, das Unerwartete, das zu einer Änderung der Selbstwahrnehmung führen könnte.
Pilario positioniert sich bewusst am Rande und versucht, aus diesem Kontext heraus Theologie zu betreiben. Dies führt ihn dazu, die viel gepriesene »Option für die Armen« zu kritisieren, da sie eine Verankerung in der (wohlhabenden) Mitte der Gesellschaft und der Kirche voraussetzt, zugunsten einer Reflexion über eine »Kirche der Armen«.
Konsequent hat er in seiner Funktion als Dekan der St. Vincent School of Theology diese Grundüberzeugung zum Strukturierungsprinzip der Ausbildung und des Lehrangebots erhoben. So hat er zum Beispiel mit seinen Studenten Weihnachten 2004 in von einem Taifun verwüsteten und abgelegenen Dörfern verbracht und die Erfahrung dieser beiden Wochen im Nachhinein theologisch aufgearbeitet: Was bedeutet die tiefste Sehnsucht einer Frau, die, obwohl sie alles verloren hatte, vor allem ihrem gestorbenen und noch verschütteten Mann eine würdevolle Ruhestätte geben wollte? Wie lassen sich die zuerst neu errichtete Ersatzkapelle mit den flüchtig gesehenen Schnellschussgewehren zusammen deuten?
Rückblickend lässt sich die Sorge Pilarios um eine untrennbare Beziehung zwischen den konkreten Lebensbedingungen der Menschen und ihren tiefsten Sehnsüchten auf seine frühe Kindheit zurückführen. Aufgewachsen in Oslob, einer Stadt auf Cebu, der neuntgrößten und der ersten von den Spaniern kolonisierten und christianisierten Insel der Philippinen, hat er mit seinen zehn Geschwistern in einem populären Viertel (barrio) namens Hagdan gelebt. Obwohl sein Vater Grundschullehrer war und im Vergleich zu den mehrheitlich armen Menschen von Hagdan eher als wohlhabend galt, musste er ihm – als ältestes Kind – auf dem Feld und beim nächtlichen Fischen helfen, um das Einkommen der Familie aufzubessern. Entscheidend aus der Erfahrung dieser Zeit ist für ihn die zentrale Rolle der Praktiken im Alltag, wofür er später im Werk des Pierre Bourdieus ein theoretisches Gerüst fand. In dem barrio war Gott allerdings keine spekulative Größe, sondern ganz im Gegenteil eine konkrete erfahrbare Dimension des alltäglichen Lebens!
Als er 1979 nach Manila ging, um dort Philosophie zu studieren, erlebte das Land den Zenit der Diktatur Marcos. Während seiner Ausbildung wurde er aufgrund der damals herrschenden Repression und Ungerechtigkeit besonders von den Grundanliegen des Marxismus beeindruckt. Diese Theorie, die natürlich verboten war und unter dem Deckmantel der »Continental Philosophy« gelehrt wurde, hat ihn für die Entwürfe der Befreiungstheologie geöffnet. Theologie am Rande betreiben heißt biblisch »ich habe den Schrei deiner Kinder gehört«, eine grundsätzliche Entscheidung, von der kritisch betrachteten Wirklichkeit auszugehen.
In dieser Zeit waren Protestaktionen und Demonstrationen gegen das Regime nicht selten. Die Studenten konnten sich dem Druck kaum entziehen, sich unter das eine oder andere ideologische Banner zu stellen. Pilario aber widersetzte sich diesem mainstream, da er kein letztendlich überzeugendes theoretisches Gerüst finden konnte.
Sein theologisches Grundstudium absolvierte er an der päpstlichen Universität Santo Tomas in Manila, die ganz unter dem Zeichen des Thomismus und in den Händen von spanischen Professoren stand. Pilario gesteht, mehr Zeit in der Bibliothek als in den Vorlesungen verbracht zu haben! In dieser Zeit war er bereits der Kongregation von St. Vincent de Paul beigetreten und fand in dessen Spiritualität eine tiefe Begründung der Option für die Armen. 1994 veröffentlichte er in einem ersten Buch seine Interpretation des Charismas St. Vinzents, um anhand von Gadamer eine Methodologie zu entwickeln, die erlaubt, sowohl pastoral als auch theologisch die Grundintention des Gründers in dem heutigen filipino Kontext zu buchstabieren.
Erst in Leuven aber wurden ihm während seines Aufbaustudiums (M.A. danach Doktorat) die Zeit und die intellektuellen Ressourcen gegeben, aus seinen bisherigen pastoralen und theoretischen Erkenntnissen eine Art philosophisch-theologische Synthese zu entwickeln. In der Auseinandersetzung mit dem Werk von Raymond William lernte er, »Kultur« in dem Kontext von wirtschaftlichen Produktionsprozessen zu verstehen und dadurch das meistens zu idealistische Verständnis von Inkulturation in der Theologie zu hinterfragen. Unter dem bereits erwähnten Einfluss von Pierre Bourdieu wagte er eine kritische Betrachtung der Theologie der Befreiung (Clodovis Boff) und der so genannten radikalen Orthodoxie (John Milbank). Erst dann sah er sich in der Lage zu verstehen, warum es dem Volk der barrios gelang, »Widerstand zu leisten und die Unterdrückung der spanischen Kolonisation, die US-amerikanische Invasion und die Gräueltaten der Japaner, die Gewalt der lokalen Landlords und politischen Warlords, die negative Auswirkung von zwanzig Jahren Diktatur und die unausweichliche wirtschaftliche und kulturelle globale Hegemonie zu überleben«. Dabei werden die alltäglichen Praktiken und Widerstandsstrategien des Volks nicht ohne Kritik betrachtet: wichtig aber ist die Beobachtung, dass die »Menschen auf dem Rand« selten frontal Widerstand leisten, sondern vielmehr einen »schrägen« Widerstand. Dadurch erzwingen sie eine Verschiebung von Theorie und Praxis der Herrschenden, die sich am Beispiel der Beichte unter den spanischen Missionaren feststellen läßt (in Tagalog bedeutet die Bitte um Vergebung »tawad« auch feilschen: dementsprechend benahmen sich die Beichtenden!).
In seiner persönlichen Entwicklung fühlt sich Pilario der ersten Generation einheimischer Theologen verpflichtet: Jose de Mesa, Edicio de la Torre, Catalino G. Arévalo usw. Er stellt aber fest, dass die bereits vorhandene große Vielfalt an Filipino-Theologien, obwohl alle in demselben Kontext verwurzelt, sich methodologisch auf unterschiedliche Kulturverständnisse zurückführen lassen. 2003 schreibt er in einem Artikel für Chakana: »Es ist meine Überzeugung, dass ein statisches Verständnis von Kultur zu einer theoretischen Sackgasse zwischen »Partikular« und »Universal« führt …«. Pilario betrachtet Kultur als einen offenen Prozess und sucht den Dialog mit Menschen, besonders denen, die leicht übersehen werden und uns zu neuen Praktiken herausfordern. Aus seinen weihnachtlichen Erlebnissen berichtet er: »Nach der Messe gingen wir zu den frischen Gräbern. Die Kreuze aus Holz. Aus dem Holz der Baumstämme, die das Dorf verwüstet hatten.«
RICHARD BROSSE
Referent der Stiftung Porticus