Er gehört jener zweiten Generation afrikanischer Theologen an, die heute die Lehrstühle in den theologischen Fakultäten innehaben, die für ein paar hundert Dollar pro Monat ein enormes Pensum an Vorlesungen, Seminaren, Prüfungen und Hilfestellungen bei wissenschaftlichen Arbeiten leisten, in verschiedenen Zeitschriften und Sammelwerken publizieren und doch in Europa wenig bekannt sind. Nathanaël Yaovi Soédé wird 1953 in Grand-Popo im damaligen Dahomey (heute Benin) geboren, absolviert die übliche Schulausbildung in Grundschule und Kleinem Seminar, studiert Philosophie und Theologie am Großen Seminar von Ouidah (Benin), wird 1981 zum Priester der Diözese Lokossa geweiht und 1986 von seinem Bischof Msgr. Robert Sastre zum Aufbaustudium an die Saint Paul University von Ottawa (Kanada) geschickt. Dort promoviert er 1991 mit einer Arbeit über afrikanische Ethik im Fach Moraltheologie zum Doktor der Theologie. Seitdem ist er in Abidjan (Côte d’Ivoire) Professor für Afrikanische Ethik und für Moraltheologie an der Katholischen Universität von Westafrika (Université Catholique de l’Afrique de l’Ouest / Unité Universitaire d’Abidjan = UCAO/UUA). Er spricht vier afrikanische Sprachen, dazu Englisch, Spanisch und natürlich Französisch. Die Liste seiner Publikationen ist beeindruckend. Dass er in Europa nur ausgesprochenen Fachleuten bekannt ist, mag als bezeichnend für den Kampf der afrikanischen Theologie um Selbstbehauptung und Anerkennung gesehen werden.
Im Jahre 2002 unternimmt die Vereinigung der afrikanischen Bischofskonferenzen (SECAM) in Zusammenarbeit mit dem Missionswissenschaftlichen Institut Missio ein Forschungsprojekt, in dem es um eine Neubestimmung inkulturierter Curricula in Philosophie und Theologie an den kirchlichen Hochschulen des Kontinents geht. Die UCAO/UUA schickt Nathanaël Soédé auf das entsprechende Symposium in Ghana, und dieser übernimmt mit seiner unaufdringlichen, aber zielstrebigen Art eine wichtige Rolle, entwirft die Curricula für die Theologie und gibt am Ende die Dokumentation des Forschungsprojektes mit heraus (Doing Theology and Philosophy in the African Context, vgl. Literaturliste). In seinen Vorschlägen für eine vertieft inkulturierte afrikanische Theologie unterscheidet er die Ebene der Personen von der der Institutionen. Und sein erster Vorschlag auf der Ebene der Personen geht dahin, dass die afrikanischen Theologen und Philosophen ihre Anstrengungen und Arbeiten wechselseitig wertschätzen sollen, einander persönlich und wissenschaftlich unterstützen und in ihren Veröffentlichungen stärker aufeinander Bezug nehmen sollen. In den Veröffentlichungen von Soédé fehlt es nicht an kritischer Wahrnehmung und Einschätzung der strukturellen Probleme Afrikas in der gegenwärtigen Weltwirtschaftsordnung und in der aktuellen Organisation der afrikanischen Staaten. Aber das persönliche Moment, das die Verantwortung, aber auch den Handlungsspielraum des und der Einzelnen hervorhebt, scheint mir ein Charakteristikum des Theologie- und Ethikverständnisses von Nathanaël Soédé zu sein. Sein Hauptwerk ist zweifellos das im Jahr 2005 erschienene Buch »Sens et enjeux de l’éthique. Inculturation de l’éthique chrétienne«, mit dem er die Problematik der Inkulturation der christlichen Botschaft in Afrika in eine relationale Ethik einordnet. In einem dynamischen Kulturverständnis kommt es insbesondere auf die Beziehungen, Anleihen und Ablehnungen zwischen verschieden geprägten Kulturkreisen an. So hebt Soédé zunächst die Bedeutung der ägyptisch-pharaonischen Kultur sowohl für die griechisch-römische Gedankenwelt als auch für die sogenannten traditionellen afrikanischen Kulturen hervor. Am Beispiel des Mythos von Isis und Osiris liest er eine »Ethik des Lebens-Sterbens- Lebens« ab, die auch für die afrikanischen Kulturen grundlegend ist. Dass er dabei die Kultur das alten Ägyptens als eine »schwarze Kultur« bezeichnet, gehört für den Autor in einer bis heute kontrovers geführten Diskussion wohl zum Proprium des »afrikanischen Theologen«, sollte meines Erachtens aber nicht von der wichtigeren Aussage ablenken, dass es in der Inkulturationsproblematik bis heute um ein Verhältnis der Kulturen zueinander geht, das lebensfördernd sein muss und die volle Entfaltung des heutigen konkreten Menschen – Soédé spricht vom Leben-Sein (l’étre-vie) des Menschen – in Afrika und anderswo zum Ziel haben muss.
Inkulturation ist keine Aufgabe unter anderen, die die Theologie zu erfüllen hätte, sondern ist Theologie, ist die Interpretation des Evangeliums von der Inkarnation her. »Inkulturation ist eine Verwurzelung des Evangeliums in den soziokulturellen Gegebenheiten und in den spezifischen Herausforderungen der menschlichen und kirchlichen Gruppen« (ebd. 145). Sie ist die gestaltende Kraft in allen Bereichen gesellschaftlichen und kirchlichen Lebens. Dabei ist das ethische Programm des Evangeliums in der Predigt Jesu in der Synagoge zu Kapharnaum (Lk 4) benannt: den Armen eine gute Nachricht zu bringen, den Gefangenen die Entlassung zu verkünden, die Zerschlagenen in Freiheit zu setzen… Wie Soédé ausführt, wird diese Ethik Jesu besonders deutlich in seinen Begegnungen mit anderen Menschen, etwa mit Nikodemus, Nathanaël oder auch Maria Magdalena, die er über ihre bisherigen Möglichkeiten hinaus zu wahrem Mensch- Sein, Leben-Sein für andere führt. Auch hier findet sich wieder das persönliche Moment, Aufruf und Befreiung des und der Einzelnen. Nathanaël Soédé versteht den Moraltheologen als einen »Botschafter Jesu mit der Mission, den Blick der Liebe auf das Leben der Frauen und Männer seiner Zeit zu empfangen und weiterzugeben« (ebd. 166). Jesus ist für Soédé der Nazarener, der inmitten seines Volkes lebt, der in das Leben seiner menschlichen Gemeinschaft integriert ist. Für den Jünger, der seinem Meister Jesus nachfolgt, ist dies die bleibende Aufgabe: seine jeweilige menschliche Gemeinschaft auf dem Weg der Humanisierung und Entwicklung voranzubringen. So setzt sich das Werk der Inkarnation Gottes in der Menschheit fort. »Die christliche Ethik ist ein Aufruf an den Getauften, seine Existenz in die Bewegung der Inkarnation einzubinden. Sie hilft ihm, die Werte des Reiches Gottes zu entdecken und sein Leben-Sein, das der anderen und sogar die weltlichen Wirklichkeiten, Projekte und kulturellen Weisheiten an diesen Werten auszurichten« (ebd. 261). Dieses theologische Selbstverständnis erklärt auch, warum Soédé mit seinen Artikeln so breit gefächerte Themen wie HIV/AIDS, Wahrheit und politische Kultur, die Laizität des Staates, feministische Theologie, das Ordensleben, Entwicklungspolitik und Hexerei abdeckt. Immer geht es um das Mensch-Sein in Afrika, das auf so vielfältige und brutale Weise unmöglich gemacht wird. Aber Soédé schiebt die Schuld dafür nicht allein auf die politischen, weltwirtschaftlichen oder militärischen Verhältnisse. Ein Leitmotiv seiner Artikel besonders in jüngerer Zeit ist das afrikanische Selbstverständnis mit seinen kulturellen Hintergründen, das seiner Meinung nach häufig einer positiven Entwicklung in Afrika im Weg steht. Dabei klagt er eine Kultur der »sozialen Einebnung« (»nivellement sociale«) an, die ein echtes Engagement zugunsten des Gemeinwohls im Keim ersticke. Keiner dürfe aus dem allgemeinen Elend herausragen, es entstehe eine Unkultur des Versteckens und Lügens, die in der Politik in Afrika gang und gäbe geworden sei und in dem großen Problem der »Hexerei« immer verheerendere Auswüchse erlebe. Dagegen fordert Soédé eine konstruktive Solidarität, die den Einzelnen zur Verantwortung befähige und auf dem Weg von Erziehung und Bildung in der Gesellschaft die Einsicht verankere, dass die Gesellschaft nur gemeinsam vorankommen kann. Dieser konstrukiven Solidarität müssten sich alle Kräfte im Norden wie im Süden anschließen, die die gegenwärtige Globalisierung im Sinne einer gerechten Weltwirtschaftsordnung zu überwinden trachten. Eine besondere Rolle misst Soédé dabei den Religionen zu, die sich auf einer Art Weltkonferenz zu einer gemeinsamen »Charta der Religionen für Entwicklung« zusammentun sollten. Hier ist vieles noch Wunschdenken, aber Nathanaël Soédé setzt seine Energie verstärkt im Sinne strategischer Netzwerkbildung ein. Zu seinem enormen Arbeitspensum gehört seit 2002 die hauptverantwortliche Herausgabe der Zeitschrift »Revue de l’Université Catholique de l’Ouest – RUCAO«. In Zusammenarbeit mit Kollegen der theologischen Fakultäten von Kinshasa und Yaoundé hat er im Februar 2007 eine große Konferenz anlässlich von 50 Jahren Afrikanische Theologie organsiert (1956 erschien das Werk »Les prêtres noirs s’interrogent«). Auf dieser Konferenz in Abidjan ging es unter anderem um die Wiederbelebung der in den 90er Jahren eingeschlafenen AOTA (Association Oecuménique des Théologiens Africains), was aber dort wegen verschiedener Uneinigkeiten nicht gelang. Seitdem verfolgt Soédé beharrlich eine neuerliche Vernetzung der afrikanischen Theologen (»Association des Théologiens Africains«) und baut in Zusammenarbeit mit der theologischen Kommission der gesamtafrikanischen Bischofskonferenzen SECAM ein Forschungsinstitut für Afrikanische Theologie (»Institut de Recherche en Théologie Africaine«) auf. Im November 2008 wird sich in diesem Rahmen eine internationale Konferenz in Kamerun mit der Zweiten Afrikasynode und dem Thema »Versöhnung, Gerechtigkeit und Frieden « befassen. »Das wahre Afrika«, schreibt Nathanaël Soédé in seinem jüngsten Artikel, »ist das der Realität und des Realitätssinns. Es besteht aus Menschen aller sozialen Kategorien und Klassen, die sich abmühen, ihr Leben zu verwirklichen, und in den sozialen Strukturen gegen alles kämpfen, was in ihnen selbst und um sie herum das Leben der Gemeinschaft zerstört.« Es geht um die Gemeinschaft und gerade darum um den Einzelnen. Es geht um den Einzelnen und die Einzelne und gerade darum um die Gemeinschaft. Die rechte Gewichtung dieser beiden Pole ist eine Herausforderung, vor der die Theologie sowohl in Afrika als auch in Europa steht. Nathanaël Soédé lädt zu einem kritischen, nicht immer einfachen Dialog ein.
MARCO MOERSCHBACHER
Dr. theol., Afrikareferent am Missionswissenschaftlichen Institut Missio e.V., Aachen