Kurz nach der Priesterweihe erhielt Paulo Suess vom Franziskanerbischof Florian Löwenau die Anfrage zur Mitarbeit in dessen brasilianischer Prälatur Obidos. Seine Aufgabe dort: als Priester in einer Pastoralequipe mit der indianischen Bevölkerung in der Amazonaspfarrei Jurutí im Bundesstaat Pará zu arbeiten. Die Zeit von 1966–1974 in der »Indianerpastoral« prägte Suess. Nach einer Weiterbildung in Belgien und dem Promotionsstudium in Deutschland bei J.B. Metz kehrte er 1977 nach Brasilien zurück. Er wurde theologischer Lehrer und arbeitete im Indianermissionsrat der katholischen Kirche Brasiliens (CIMI). Suess versteht sich als Mitarbeiter in der kirchlichen Arbeit Brasiliens an der Seite der indianischen Völker. Er ist den indianischen Bewegungen verbunden, die selber nur ein Teil von vielfältigen Widerstandsbewegungen gegen sozioökonomisch verursachte Armut und unterdrückte kulturelle Andersheit sind.
Verteidigung der indianischen Sache
Suess hatte erfahren, wie die indianischen Völker Brasiliens (und des ganzen Kontinents) seit ihrer Eroberung im 16. Jahrhundert bis heute, wenn auch auf unterschiedliche Weise, ausgebeutet, unterdrückt und ausgeschlossen werden. Die Hermeneutik der Eroberer im 16. Jahrhundert ließ weder Platz für die kulturelle und religiöse Verschiedenheit der Indígenas noch anerkannte sie deren Menschenwürde.
Im Umgang mit dieser Geschichte entscheidet sich für Suess schon viel: sind die katholische Kirche wie auch die europäischen Gesellschaften bereit, die bis heute andauernden Leiden der indianischen Völker zu erinnern, dementsprechend umzukehren und für deren Lebensprojekte einzutreten? Oder bestehen Kirche und europäische Gesellschaften darauf, sich zu rechtfertigen und allein auf die »Erfolge« ihrer Missionen hinzuweisen?
Indianische Völker sind fähig, für ihre Anliegen einzustehen. Widerstandspotenzial ortet Suess im durch die Jahrhunderte gewachsenen Volkskatholizismus. Überall in Lateinamerika haben sie ihre ureigene Religiosität mit der christlichen Religiosität der europäischen Missionare verbunden. In eigenen Bräuchen und Weltdeutungen finden sie bis heute Kraft zum Überleben.
Im Zeitalter der Globalisierung des neoliberalen Kapitalismus sind es die neuen »Missionare« der westlichen Lebens- und Wirtschaftsweise, die die Indígenas ausschließen. Es sind die zum System gewordenen Mechanismen des globalisierten Markts und nationalstaatliche Interessen, die indianische Völker heute bedrohen. In der Logik der repräsentativen Demokratien ist für Minderheiten wie indigene Völker kein Platz.
Die indigenen Völker können als Subjekte von Nationalstaaten gegen diese Bedrohung mobilisieren. Dazu geben ihnen die Nationalstaaten, die sie auch in ihrer sich wandelnden kulturellen Identität bedrohen, gleichzeitig formale Rechtsmittel in die Hand. Suess liegt an einer über sich selbst aufgeklärten Moderne, in der für die Andersheit der indigenen Völker Platz ist. »Die Verteidigung des Lebensprojekts der indigenen Völker kann Ressourcen der Moderne für sich geltend machen, sei es bei der Diskussion um universale Gerechtigkeit und Solidarität, Gleichheit und Freiheit, sei es aus der praktischen Erfahrung der Organisation der Campesinos, der Arbeiterbewegung oder von Befreiungsbewegungen der Dritten Welt«.
Befreiungstheologien im Plural
Suess’ Denken ist in der Befreiungstheologie verwurzelt, in der Methodik von Sehen – Urteilen – Handeln; der Option für die Armen; dem Vorrang der Praxis vor der Theorie; der Überzeugung von der Geschenkhaftigkeit der Befreiung. Befreiungstheologen und -theologinnen haben sehr bald erkannt, dass Armut verschiedene Gesichter hat: Frauen, Kinder, Bauern, Städterinnen, Obdachlose, Migrantinnen, Afroamerikaner, Indianer. Sie denken mit den jeweils betroffenen Gruppen von deren Realität her über christlichen Glauben und Befreiung nach. So sind in den letzten zwanzig Jahren verschiedene Theologien entstanden: Indianische Theologien, Afroamerikanische Theologien, Feministische Theologien etc.
Ein wesentlicher Beitrag von Paulo Suess liegt nun darin, dass er auf die hermeneutischen, gesellschaftlichen und kirchenstrukturellen Bedingungen dieser Vielfalt an Theologien hinweist. Heute Christsein, Christinsein heisst für Suess, jenseits von Marktlogik und Gewalt auf die Gratuität zu setzen, das heißt auf Frauen und Männer, die Solidarität, Gerechtigkeit, Versöhnung, Erlösung nicht als Ergebnis eines aufrechnenden Einsatzes sehen, sondern als Geschenk der sich selbst wagenden Liebe. Dabei wird er nicht müde, die Legitimität bzw. unausweichliche Notwendigkeit von verschiedenen Inkulturationen zu begründen und deren kirchenstrukturelle Anerkennung zu fordern.
Inkulturation als Aufgabe
Suess gehörte deshalb zu den ersten, die in Lateinamerika »Inkulturation« systematisch reflektierten. Inkulturation gelingt dann, wenn es die indianischen Völker selber sind, die befreienden christlichen Glauben aus ihrer jeweiligen Kultur heraus entwickeln. Theologisch gesprochen: Das Evangelium hat eine eigene Geschichte in jeder Kultur. Diese Geschichte gibt es auch schon vor und neben der expliziten Begegnung mit der im ganzen noch strukturell, semantisch und symbolisch europäisch geprägten Kolonialkirche. Suess plädiert für verschiedene Inkulturationen des christlichen Glaubens, die eben nicht an der europäisch- abendländischen Inkulturation gemessen werden dürfen, sondern gemäss der Vaterunser-Bitte an ihrem Beitrag zum Kommen des Reich Gottes.
Es geht also nicht länger darum, eine bestimmte, im europäisch-abendländischen Kontext gewachsene Gestalt des Christentums auf die jeweiligen Kulturen hin anzuwenden. Inkulturation ist insofern auch nicht zuerst Aufgabe der kirchlichen Pastoralkräfte oder Anpassung der christlichen Liturgie an indianische Bräuche.
Wesentlich für die gelingende Begegnung europäischer Kirche mit indianischen Völkern ist der interreligiöse Dialog, insofern deren religiöse Identität als Ausgangspunkt ihrer befreienden Geschichte ins Gespräch mit der religiösen Identität europäischer Christinnen und Christen zu bringen ist. Im Dialog gibt es dann gegenseitige Befragungen der jeweiligen Identität. Der Dialog kann beiden helfen, die »sündigen« Strukturen und Werte in unseren jeweiligen Kulturen in Frage zu stellen und sich im Hören auf den lebendigmachenden Geist Gottes befreien zu lassen.
Folgen für die Kirchenstrukturen Die armen Anderen stehen nicht nur am Rand ihrer Gesellschaften, sondern auch am Rand der katholischen Kirche. Suess setzt seine Hoffnung darauf, dass die Kirche insgesamt sich unter dem Druck der leidenden Menschheit bekehren wird. Denn um der Glaubwürdigkeit und inneren Kohärenz muss die Kirche endlich die strukturellen Konsequenzen ziehen: den Armen und Anderen als Subjekte nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in der Kirche Anteil an Ämtern und Entscheidungen zu geben. »Man kann ehrlicherweise nicht für Protagonismus in der Welt einstehen und dann kirchenintern nur die Adressaten neu aussortieren, ihnen aber das entscheidende Wort als Akteure verweigern. Arme und Arbeiter, Indios und Schwarz-Amerikaner, Frauen und Jugendliche sind nicht nur ›Berater‹ für eine in ihren vormodernen Strukturen erstarrte Kirche. Die innerkirchliche Partizipation der Armen wäre wie eine kopernikanische Wende, kein Eingriff in das Sonnensystem, sondern einfach die Anerkennung, dass die Sonnenbahn immer schon anders verlief.«
Vermittlung der Ergebnisse in den deutschsprachigen Raum
Durch seine Herkunft aus Deutschland, die verschiedenen Aufgaben in Brasilien bzw. Lateinamerika und die fortgesetzte inhaltliche Auseinandersetzung mit der deutschsprachigen Theologie ist Suess in der Lage, eine äußerst wichtige Brückenfunktion wahrzunehmen. Er profitiert, wie er selber sagt, davon, dass er die Naivität dem Eigenen wie dem Fremden gegenüber verloren hat. Er vermittelt die Anliegen der Armen und Anderen Lateinamerikas in den deutschsprachigen Raum hinein. Er mischt sich in das Leben der hiesigen Kirche und den akademischen Wissenschaftsbetrieb der Theologie mit Forderungen zur Gerechtigkeit im Nord-Süd-Konflikt wie zur Gerechtigkeit gegenüber den Fremden in Deutschland ein. Er provoziert, indem er deutsche Theologen und Theologinnen auf den seines Erachtens fehlenden Praxisbezug ihrer Theologie hinweist.
MARKUS BÜKER
Dr. theol., Grundsatzreferent bei MISEREOR, Aachen
Auf Deutsch erschienen:
Auf Portugiesisch erschienen:
Cálice e cuia. Crônicas de pastoral e política indigenista. Petrópolis 1985. 247 S.
Queimada e semeadura. Da conquista espiritual ao descobrimento de uma nova evangelização. Segunda semanade estudos teológicos – CNBB/CIMI. Petrópolis 1988.