Luiz Carlos Susin

Was ist eigentlich mit der Befreiungstheologie los? Man hört nichts mehr von ihr – hat sie keine Stimme mehr? Hat sie sich von Rom zum Schweigen bringen lassen? Solche Fragen kann man immer wieder hören. Frei Luiz Carlos Susin, 1949 in Südbrasilien als Nachfahre italienischer Einwanderer geboren, Mitglied des Kapuzinerordens, Pfarrer, Gründungsmitglied und langjähriger Präsident der brasilianischen Theologenvereinigung SOTER (Sociedade de Teologia e Ciências da Religião), Professor für Systematische Theologie an der Päpstlichen Universität von Porto Alegre und an der Hochschule für franziskanische Theologie und Spiritualität, Mitglied des Direktionskomitees der Internationalen Theologischen Zeitschrift Concilium, Sekretär des Forums »Theologie und Befreiung« im Zusammenhang der beiden letzten Treffen zum Weltsozialforum in Porto Alegre (2005) und Nairobi (2007), ein stiller, unbeirrbar weiter denkender und fragender Theologe – Susin kann die Befreiungstheologie aus dem prägenden Kontext seiner theologischen Arbeit nicht wegdenken und hat sie zugleich wie vielleicht kaum ein anderer weitergeführt, in kreativer Treue zu ihren Grundoptionen: der Option für die Armen und der Option für eine Theologie als zweiter Akt, der Praxis der solidarischen Liebe zu den Armen nachgeordnet und in ihrem Dienst. »Dienst« – ein eher altmodisch klingendes Wort – ist ein Markenzeichen der höchst modernen Theologie von Luiz Carlos Susin: Dienst am vielstimmigen theologischen Gespräch unter Partnerinnen und Partnern, die nicht nur aus Brasilien und Lateinamerika, nicht nur aus den Kerndisziplinen der Theologie und nicht nur aus der akademisch wissenschaftlichen Arbeit herkommen; Dienst an einer Forschung im Dialog, die aus dem Austausch vielfältiger Beiträge erwächst, Dienst an gemeinschaftlicher Erinnerungsarbeit und Dokumentation einer solchen Theologie im Plural. Zwischen 1999 und 2006 hat Susin fünf Bände herausgegeben, in denen die theologische Arbeit der von ihm organisierten großen Kongresse und weltweiten Foren dokumentiert ist. Unter ihnen haben ihm die Veröffentlichungen als Präsident von SOTER den »Prêmio Jaboti«, wichtigster Literaturpreis in Brasilien, eingebracht.

In den Einleitungen gelingt es Susin, in wenigen Schlüsselworten Akzente zu setzen, die zugleich sein theologisches Programm enthalten. So stellt er in dem Band, der den Kongress zu den Zukunftsperspektiven der Theologie in Lateinamerika dokumentiert, diese Theologie folgendermaßen vor: »Christliche Theologie in Lateinamerika ist Frucht des Denkens im radikalen Sinn des Wortes: »pensar« – Versorgen von Wunden. Es ist kein Denken, das vorgibt, nur objektiv zu sein, neutral… Es ist Sorge um Verletzungen, ›Verbinden von Wunden‹. Wunden können von Gewalt, aber auch von Liebe zeugen. Auf diesem an Schmerzen und Liebe reichen Kontinent lässt sich gute Theologie vom Hilferuf der von Gewalt Verletzten wach rufen und befruchten von der Leidenschaft derer, die mit dem Öl von Hoffnung und Widerstandskraft Wunden versorgen. Das ist gute Theologie, die sich dem Schmerz nicht verweigert und ganz nah am Leben denkt, die den Träumen und Utopien hilft, ihren Ort zu finden, wo sie geboren werden und wachsen können zu Gestalten, die das Geschenk des Lebens feiern, ganz im Sinn des heiligen Irenäus, der sagt: Die Herrlichkeit Gottes ist der Mensch, der lebt – oder in der schöpferischen und doch evangeliumsgemäßen Abwandlung von Oscar Romero: Die Herrlichkeit Gottes sind die Armen, die leben.« Susins theologisches Programm? Von seiner Familie her bringt er eine starke Religiosität mit, deren vorkonziliare Züge im Kleinen Seminar besonders gepflegt wurden. Intensiv erlebte er als Jugendlicher die Veränderungen durch das Konzil. Mit allen Fasern nahm er an den Prozessen nachkonziliarer Erneuerung teil. Prägend für ihn war eine Heideggers Denken hervorhebende Einführung in die Philosophie und zugleich seine eigene kritische Erfahrung mit diesem Denken, das ihm in der Solidarität mit den Ärmsten in seiner Umgebung nicht weiterhalf. Er entdeckte Levinas und gab diesem den Vorzug, weil ihm seine Kategorien ein originelleres und eher der archaischen Bedeutung von »pensar« – »Wunden versorgen« – entsprechendes Denken ermöglichten. Seine Magister- und seine Doktorarbeit schrieb er über Subjektivität und Alterität und über den messianischen Menschen bei Levinas. Theologisch steht Susin der »Nouvelle théologie« mit ihren drei Schwerpunkten, der kritischen Zuwendung zu den Schriften und zur Vätertheologie, der interdisziplinären Erforschung der Gegenwartskultur und des Engagements in der pastoralen Praxis nah. Bestimmend werden für ihn die Theologie der Befreiung und die davon nicht zu trennende Erfahrung in der pastoralen Arbeit mit Menschen in den Armenvierteln. Seit seinem ersten Seminar über die Theologie der Befreiung nach dem gleichnamigen Buch von Gustavo Gutierrez bleibt Susin ihr durch alle Wandlungen hindurch treu. Dabei ist es ihm wichtig, den Horizont über Lateinamerika hinaus offen zu halten, auch wenn die Herausforderungen für die Theologie dadurch komplexer werden. In dieser Linie ist sein Interesse an theologischer Forschung in internationalem Austausch zu sehen, sowie die Tatsache, dass er mehrere Jahre hindurch systematische Theologie in Porto Alegre und in Rom, an der Antoniana, und auch in Bogotá, am Theologischen Institut des CELAM, lehrte. Ich habe Luiz Carlos Susin 2001 in seiner Eigenschaft als Präsident von SOTER kennen gelernt, als ich in Brasilien die Vorüberlegungen zu einem internationalen Symposium vorstellte, das wir dann für 2003 in Belo Horizonte planten. Das Thema »In unseren Gesellschaften den Glauben riskieren«, das wir mit einem Austausch soziologischer und theologischer Beiträge aus dem deutsch- und französischsprachigen Europa und aus Brasilien vorbereiteten, motivierte Susin zu einer im Deutschen unter dem Titel »Gefährliches Leben und die schöpferische Kraft des Glaubens« erschienenen Arbeit. In ihr verknüpft Susin mehrere Linien, die sein Denken, seine Erfahrung und sein Handeln bestimmen, zu einem in seiner Originalität herausragenden Ansatz befreiungstheologischer Forschung. Das Stichwort von der »ecclesia ab Abel«, das Susin mehrfach aufnimmt, steht für die zentrale Linie seines theologischen Denkens, das zutiefst von der in seiner franziskanischen Spiritualität verwurzelten Liebe zu den Schwachen geprägt ist. Die Patristik kennt eine Kirche der Gerechten, die mit Abel beginnt. Mit dem hebräischen Namen »Abel« verbindet sich zugleich die Vorstellung von äußerster Schwäche, von Leere und Zerbrechlichkeit. Die Geschichte von Kain und Abel ist auch die Geschichte von der Parteinahme Gottes für den Schwächeren; und mit ihrem Bekenntnis zu einer von Abel her sich definierenden Kirche erkennt die patristische Tradition die universale Gültigkeit dieser Parteilichkeit Gottes.

Biographische Daten

  • 1949 geboren in Caxias do Sul, Rio Grande do Sul (RS), Brasilien
  • 1961 Eintritt ins Seminar der Kapuziner
  • 1968 Eintritt ins Noviziat der Kapuziner
  • 1969–1971 Philosophiestudium in Porto Alegre (RS). Theologiestudium in Porto Alegre (RS)
  • 1980–1981 Magisterarbeit in Theologie: »A subjetividade e alteridade em Emmanuel Levinas«
  • 1981–1983 Promotion in Theologie an der Gregoriana in Rom, mit einer Dissertation über »O homem messiânico em Emmanuel Levinas«
  • Seit 1984 Professor für Systematische Theologie an der Pontifícia Universidade Católica do Rio Grande do Sul (PUC-RS) und an der Hochschule für Theologie und franziskanische Spiritualität der Kapuziner (ESTEF) in Porto Alegre
  • 1998–2001 Präsident der brasilianischen Theologenvereinigung SOTER
  • Seit 2002 Mitglied im Direktionskomitee von CONCILIUM
  • 2005 und 2007 Generalsekretär des Forums »Teologia e libertação« beim Weltsozialforum

 

Eine Auswahl von Publikationen

Auf Deutsch erschienen:

  • Gefährliches Leben und die schöpferische Kraft des Glaubens. In: Hadwig Ana Maria Müller (Hrsg.), Neues erahnen. Lateinamerikanische und eropäische Kirchen im Gespräch, Ostfildern (Schwabenverlag) 2004, S. 25–40.
  • Von den Grenzen der Erde. In: Arnd Bünker, Ludger Weckel (Hrsg.), »… Ihr werdet meine Zeugen sein …« Rückfragen aus einer störrischen theologischen Disziplin, Freiburg (Herder) 2005, S. 75–100.

Auf Portugiesisch erschienen:

  • O homem messiânico no pensamento de Emmanuel Levinas. Porto Alegre (Vozes) 1984, 485 S.
  • O Negrinho do Pastoreio. Revista Eclesiástica Brasileira (REB, Petrópolis) 48 (1988) 189, S. 124–153.
  • Assim na terra como no céu: brevilóquio sobre Escatologia e Criação. Petrópolis (Vozes) 1995, 196 S.
  • Jesus, filho de Deus e filho de Maria. São Paulo (Paulinas) 1997, 200 S.
  • A ética é a ótica da experiência de Deus. In: Congresso SOTER »Sob o fogo do Espírito« (Belo Horizonte 1998).
  • Experiência Religiosa: Riscos ou aventura, São Paulo (Paulinas) 1998, S. 131–150.
  • O Espírito Santo e a graça santificante. In: Geraldo Luiz Borges Hackmann (Hrsg.), O Espírito Santo e a Teologia hoje. Porto Alegre 1998, S. 41–73.
  • Mysterium Creationis: um olhar interdisciplinar sobre o universo. São Paulo (Paulinas) 1999, 326 S.
  • O Pai e poeta da criação. In: Geraldo Luiz Borges Hackmann (Hrsg.), Deus Pai. Porto Alegre 1999, S. 39–74.
  • O mar se abriu: Trinta anos de Teologia na América Latina. São Paulo (Loyola) 2000, 294 S.
  • Sarça ardente. Teologia na América latina: prospectivas. São Paulo (Paulinas) 2000, 574 S.
  • O Espírito Criador. In: Heloísa Pedroso de Moraes Feltes e Urbano Zilles (Hrsg.), Filosofia: diálogo e horizontes- Festschrift em homenagem a Jayme Paviani. Porto Alegre / Caxias do Sul 2001, S. 473– 483.
  • Sine Proprium – ontologia e antropologias em conflito: conseqüências espirituais, culturais e teológicas. Perspectiva Teológica (Belo Horizonte) 33 (2001), 91, S. 391–406.
  • Terra prometida: movimento social, engajamento cristão e teologia. Petrópolis (Vozes) 2001, 379 S.
  • A Criação de Deus. Teologia da Criação. São Paulo (Paulinas) 2003.
  • Deus: Pai, Filho e Espírito Santo. São Paulo (Paulinas) 2003.
  • A dignidade da pessoa humana: um espelhamento entre cidadania e teologia. In: Conferência Nacional dos Bispos do Brasil / Instituto Nacional de Pastoral (Hrsg.), A dignidade da vida humana e as biotecnologias, Brasília (Ed. CNBB) 2005, S. 184–194.
  • Isto é meu corpo dado por vós. In: SOTER (Hrsg.), Corporeidade e Teologia, São Paulo (Paulinas) 2005, S. 231–262.
  • O absoluto nos fragmentos. In: Luiz Tomita, Marcelo Barros, José Maria Vigil (Hrsg.), Pluralismo e Libertação, São Paulo (Loyola) 2005, S. 125–143.
  • Teologia para outro mundo possível. São Paulo (Paulinas) 2006, 479 S.

Susins Vorliebe gilt der Theologie, die dieser Tradition treu ist. Er bezeichnet sie als Theologie der »kenosis «: sie versteht Personsein vom Leerwerden, vom Nicht-Festhalten an Eigenem her, wie es der Philipperhymnus (Phil 2,6 –11) von Christus singt. In der Theologiegeschichte wird jedoch bald die »hypostase« zum privilegierten Begriff – ein Terminus, mit dem sich der Besitz von Eigenem verbindet. Die Begriffe stehen fortan für zwei Pole, von denen es der Pol der »kenosis« ist, der radikal Neues auf uns zukommen lässt. Das zeigt sich bei Franz von Assisi, der die »expropriatio«, die Entblößung von jeglichem Besitz, zum Herzstück der Regel seiner Gemeinschaft machte. Dabei interessierte ihn die Armut nicht als Askese, sondern als die in nächster Nähe zu den Armen gelebte Solidarität. In diesem Sinn gelobte er ein Leben »sine proprium«. Im Gegensatz zu der in der Tradition vorherrschenden Definition des Personseins durch den Besitz von Eigenem, die »hypostase«, versteht Franziskus das Personsein von der »kenosis« her, dem Leerwerden um der Hingabe an den Anderen willen. In diesem Personverständnis erkennt Susin das Neue bei Franziskus, das philosophisch zu vertiefen ihm Levinas’ Denken erlaubt. In diesem Zusammenhang steht bei Susin die Auseinandersetzung mit westlicher Theologie, soweit sie im Sinne der »hypostase« von einer »Kultur der Aneignung, der Eroberung und Bereicherung« geprägt ist, und mit einer Kirche, aus der die Parteinahme für Menschen, die für nichts erachtet werden, auszieht, während die ihr als Institution innewohnenden Tendenzen der Ausgrenzung und Gewalt vorherrschend werden. Erst wer weggeht aus der Mitte einer Institution, wer bereit ist, auf den Schutz ihrer Ordnung zu verzichten und verletzlich zu werden, vermag sich den Schutzlosen und Schwachen zu nähern und Beziehungen zu ihnen herzustellen, durch die er oder sie selber einen neuen Ort bekommt. Als Beispiel dient Susin der Samariter, der als Fremder außerhalb seines Gebietes sich in einer ähnlich rechtlosen Position befindet wie der von Räubern halbtot geschlagene Mann. Seine eigene Verletzlichkeit befähigt den Samariter dazu, sich dem Verletzten zu nähern und ihm wieder einen Ort im Netz der Beziehungen zu geben; zugleich bekommt er selber dadurch einen Ort in neuen Beziehungen der Anerkennung. Nähe zum anderen herzustellen, setzt gerade einen Mangel voraus, der nicht radikal wäre, würde er nicht auch einen Bruch mit der Institution und ihrer Schutz und Sicherheit gebenden Ordnung bedeuten.

»Mystiker und Propheten sind ohne System, außerhalb einer Ordnung, die festen Stand verleiht, sie sind Waisen, verletzlich, Träumer.« Theologie und Kirche, die lebendig bleiben und sich erneuern wollen, können nicht anders, als sich diesen Außenseitern zuzuwenden. Man könnte meinen, dass dies eine gewisse Realitätsferne mit sich bringt – bei Susin ist das Gegenteil der Fall. Verbunden mit der solidarischen Liebe zu den Schwachen, in der ich die zentrale Linie seines theologischen Denkens erkenne, ist ein scharfsichtiger Realitätssinn. Sein liebendes Mit-fühlen mit denen, die in der brasilianischen Gesellschaft weitgehend unsichtbar gemacht werden, befähigt ihn zu einer Beschreibung ihrer Realität, die ihren Ambivalenzen gerecht wird: ihr Chaos ist tödliche Flut und zugleich Quelle von Leben. Untrennbar von seiner Annäherung an gesellschaftliche Realität, die sich von keiner Ideologie vereinnahmen lässt, ist bei Susin der Mut zu innovativer theologischer Forschung. Um der Dynamik gesellschaftlicher Veränderungen sowie der Unmöglichkeit Rechnung zu tragen, sich ihr mit alten Kategorien zu nähern, begibt sich Susin auf Wege, die einen neuen Horizont für die Befreiungstheologie eröffnen. Wenn das Chaos zur Metapher und zum Paradigma für den gegenwärtigen gesellschaftlichen Augenblick in Lateinamerika wird, so bringt das für die Theologie, die berufen ist, an dem Prozess teilzunehmen, in dem die schöpferischen, aufbauenden und heilenden Kräfte des Chaos befreit und gestärkt werden, eine neue Vision mit, die Susin als »Quanten- Theologie« andeutet: Das ist eine Theologie, die von der ursprünglichen Vorgegebenheit der Vielheit ausgeht; in ihr kann der Pluralismus gestaltet werden, weil er ein positives Paradigma wird. Quelle für eine solche Theologie ist die Praxis der Barmherzigkeit. Für Susin ist die Ethik das erste Denken, Versorgen von Wunden die erste Theologie. Und er selber stellt sich der Forderung dieser Praxis sowohl im Kleinen der Basisgemeinde in dem armen Viertel in Porto Alegre, in dem er trotz all seiner internationalen Verpflichtungen seit Jahren als Pfarrer arbeitet, als auch im Großen des Weltsozialforums und des Forums für Theologie und Befreiung, deren Sekretariatsdienst er in Porto Alegre 2005 und in Nairobi 2007 übernommen hat. Er praktiziert eine dienende Theologie, die den Aufbau eines eigenen Systems nicht als Priorität erachtet und den Mut hat, fragmentarisch, parteilich und angreifbar zu sein.

HADWIG MÜLLER
Dr. theol., war Referentin des Missionswissenschaftlichen Instituts Missio e.V., Aachen, und Mitglied des Beirats der Konferenz der deutschsprachigen Pastoraltheologen und Pastoraltheologinnen e.V. Sie ist eine gefragte Referentin und Gesprächspartnerin in Fragen internationaler pastoraler Lernprozesse in Bildung und Pastoral