Luis Antonio Tagle wurde am 21. Juni 1957 in Manila geboren. Nach Abschluss seiner Schulausbildung in der von belgischen Missionaren gegründeten St. Andrews School studierte er als Seminarist des San Jose Seminars Philosophie an der Ateneo de Manila Universität. 1982 erwarb er an der Loyola School of Theology in Manila den Magistergrad in Theologie. Nach seiner Priesterweihe 1982 war Luis Tagle kurze Zeit in einer Pfarrei in Mendez pastoral tätig. Doch schon bald wurde er mit theologischen Vorlesungen im St. Carlos Priesterseminar, an der Loyola School of Theology in Manila und in der theologischen Hochschule in Tagaytay betreut. Zugleich wurde er zum Rektor des Priesterseminars in Tagaytay ernannt.
Um sich weiter theologisch zu qualifizieren, wurde er 1988 in die USA geschickt, wo er an der Katholischen Universität in Washington zunächst ein Lizentiat, dann mit einem Stipendium des Missionswissenschaftlichen Instituts Missio eine Promotion in Theologie machte. Nach seiner Rückkehr in die Philippinen wurde er Rektor des Pastoralseminars in Tagaytay und nahm, jetzt besser qualifiziert, seine theologische Vorlesungstätigkeit in Tagaytay und in Manila wieder auf. 1997 wurde er in die Internationale Theologische Kommission des Vatikans berufen, deren Mitglied er bis 2003 blieb. Bei der Asiensynode in Rom 1998 war er theologischer Berater der philippinischen Bischöfe. 1998 wurde er zum Pfarrer an der Kathedrale in Imus ernannt, ein Amt, dass er bis zum Dezember 2001 ausübte, als er zum Bischof der Diözese Imus ernannt und von Kardinal Jaime Sin zum Bischof geweiht wurde.
Die Provinz Cavite, deren Hauptstadt Imus ist, spielt in der Geschichte der Philippinen eine große Rolle. 1571 landeten die ersten Spanier unter Legaspi auf der Halbinsel Cavite und damit begann die spanische Eroberung der Philippinen. Im Kampf gegen die spanische Kolonialherrschaft wurden 1872 in Cavite die drei katholischen Priester Gomez, Burgos and Zamora, die in die Erhebung verwickelt waren, hingerichtet. 1898 wurde von General Emilio Aguinaldo in Cavite die Unabhängigkeit der Philippinen verkündet. Die Diözese Imus dagegen ist jüngeren Datums und wurde erst 1961 aus der Erzdiözese Manila ausgegliedert und zu einer eigenständigen Diözese, die gegenwärtig 2,3 Millionen Gläubige hat. In diesem Jahr 2011 feiert sie ihr 50-jähriges Bestehen. Teil der seit langem vorbereiteten Feierlichkeiten war der 5. Asiatische Jugendtag, der vom 23.-27. November 2009 in Cavite stattfand. Bischof Luis Tagle ist der 4. Bischof der Diözese Imus und kann gleichfalls in diesem Jahr das 10-jährige Jubiläum seiner Amtseinführung feiern. Die soziale, wirtschaftliche und gesellschaftliche Situation der Diözese Imus hat sich in den letzten Jahren stark verändert. In Folge der Globalisierung entstanden viele neue Industrieanlagen, die sich die räumliche Nähe zum Großraum Manila und die niedrigen Lohnkosten zunutze machen. Die Küstenfischerei, die Jahrhunderte lang die Hauptbeschäftigung in der Region war, hat es immer schwerer, mit ihren kleinen Booten sich gegen die großen Fischereiflotten zu behaupten. Bischof Tagle hat zusammen mit seinen Priestern, pastoralen Mitarbeitern und Laien in fünfjähriger intensiver Vorarbeit einen Diözesanen Pastoralen Prioritäten-Plan erstellen lassen, der eine intensive Schulung von Laien vorsieht, damit sie aktiv in der Pastoral tätig werden können. Ziel des Pastoralplans ist es, die vorhandenen Charismen zu bündeln, um auf den Felder: Gott, Nachbar, Leben, Gesellschaft und Schöpfung eine höhere Effizienz in der Umsetzung bestimmter pastoraler Aufgaben zu erreichen.
In der philippinischen Bischofskonferenz wird Bischof Luis Tagle wegen seiner herausragenden theologischen Qualifikationen sehr geschätzt, was sich zum Beispiel darin zeigt, dass bei einem Festgottesdienst aus Anlass der Wahl von Josef Ratzinger zum Papst ihm die Aufgabe übertragen wurde, vor den versammelten Bischöfen und Honoratioren eine theologische Reflexion über das Papstamt zu halten. Dabei stützte er sich vornehmlich auf die theologischen Aussagen eben dieses Josef Ratzingers. Dabei wies er darauf hin, wie schwer es dem neuen Papst fallen müsse, seine eigenen theoretischen Einsichten jetzt in die Praxis der Ausübung des Papstamtes zu integrieren. Bischof Tagle verwies auf die Erfahrung, die er selber mit seiner Doktorarbeit habe machen müssen. Das Thema der Bischöflichen Kollegialität, das er in seiner Dissertation theoretisch behandelt hatte, wurde für ihn eine existentielle Herausforderung, als er selber Bischof und Mitglied im Kollegium der Bischöfe wurde. Im Rückblick könnte er es providentiell nennen, dass er sich als Thema seiner Dissertation »Die Bischöfliche Kollegialität in der Lehre und Praxis von Paul VI.« (Episcopal Collegiality in the Teaching and Practice of Paul VI) gewählt hatte, die er 1991 an der Katholischen Universität von Amerika in Washington abgeschlossen hat. Sein Doktorvater war John Komonchak, ein ausgewiesener Fachmann für Ekklesiologie, der auch als Berater bei einigen Konferenzen der FABC mitgewirkt hat. In der Doktorarbeit ging es um eines der zentralen Themen des II. Vatikanischen Konzils, nämlich die Frage, wie der Primat des Papstes sich mit der theologischen Aussage verträgt, dass die Bischöfe als Kollegium versammelt die höchste Autorität in der Kirche darstellen. Im Mittelpunkt der Arbeit stand eine Analyse des Beitrags, den Paul VI. zu dieser für die Kirche so bedeutsamen Frage geleistet hat. Tagle arbeitete heraus, dass Paul VI. sich durchaus für eine Stärkung der Stellung der Bischöfe eingesetzt habe, wie die Einrichtung der Bischofssynode, die Förderung der nationalen Bischofskonferenzen und die Bemühungen um eine Reform der römischen Kurie ausweise. Zugleich musste Tagle aber auch festhalten, dass für Paul VI. die Sicherstellung des Primats des Papstes letztlich doch den Vorrang hatte. Tagle ist vorsichtig, aber doch deutlich in seiner Kritik an den Interventionen Pauls VI. während des Konzils, die in der Folge bedeutsam wurden. Die neuen Einsichten in die Rolle der Bischöfe und des Kollegiums der Bischöfe, die von den Konzilsvätern erarbeitet worden waren, wurden in den darauf folgenden Jahren nur höchst unzulänglich umgesetzt. Denn die angestrebte Synthese zwischen den einseitig auf den Primat und die Unfehlbarkeit des Papstes ausgerichteten Beschlüssen des I. Vatikanischen Konzils und denen die Kollegialität der Bischöfe stärkenden Voten des II. Vatikanischen Konzils wurde nicht erreicht.
Seine Begabung für theologische Forschungsarbeit hat Luis Tagle nie ausschöpfen können, und die Entwicklung eigenständiger theologischer Ideen ist ihm verwehrt geblieben. Schon bevor er Bischof wurde, wurden ihm zu viele administrative Aufgaben in der Pastoral und in der Priesterausbildung aufgetragen. Nachdem er Bischof wurde, hatte er noch weniger Gelegenheit, seine eigenen theologischen Vorstellungen zu vertiefen und eigene theologische Untersuchungen zu machen. Die trotz der Belastungen durch das Bischofsamt zahlreichen theologischen Beiträge sind entstanden als Antwort auf Anfragen zu Vorträgen zu bestimmten Themen oder als Predigten. Bei diesen Beiträgen lässt sich immer wieder erkennen, dass Bischof Tagle auch in akademischer Hinsicht ein solider und anregender Theologe ist. Den Bischof und Theologen zeichnet aus, dass er sich als »Mitglaubender « in der kirchlichen Gemeinschaft versteht, der Zeugnis des gemeinsamen Glaubens aller Getauften ablegt. In seiner Doppeleigenschaft als Bischof und Theologe entspricht Luis Tagle den großen Vorbildern der Bischofstheologen wie zum Beispiel Ambrosius und Augustinus, die in ähnlicher Weise aus ihrer pastoralen Tätigkeit heraus ihre theologischen Gedanken entwickelten. In seinen Schriften und Vorträgen vermeidet es Bischof Tagle, sich in abstrakte Reflexionen zu verlieren, sondern versucht, sich an den Lebenserfahrungen seiner Mitmenschen und Mitchristen im Hier und Heute zu orientieren. Im Kontext der Philippinen bezieht er sich konkret auf die vielfachen Gefährdungen des Lebens durch die wirtschaftliche Ausbeutung, die negativen Auswirkungen der Globalisierung, die Missachtung menschlichen Lebens durch Akte der Gewalt, die zahlreichen Abtreibungen, den religiösen Fanatismus und die rassistisch motivierten Gewalttaten. Zugleich hat er auch einen Blick für die positiven Phänomene in der philippinischen Gesellschaft, wenn er auf die Bestrebungen von Jugendlichen, Frauen und Basisgruppen verweist, die neue Formen des menschlichen Zusammenlebens zu entwickeln suchen, die auf den Prinzipien der Gleichheit, der sozialen Gerechtigkeit und der Anerkennung von religiöser, ethnischer und gesellschaftlicher Verschiedenheit beruhen.
Über die Philippinen hinaus hat Bischof Tagle immer wieder theologische Beiträge für verschiedene Konferenzen und die Kommission der »Vereinigung Asiatischer Bischofskonferenzen« (FABC) beigesteuert. So für die Vollversammlung der FABC 1995 in Manila, wo es um das Thema der »Jüngerschaft im Geist des Lebens Jesu« ging und bei der Vollversammlung 2000 in Bangkok, die eine Vision der Sendung der asiatischen Kirchen für das 3. Jahrtausend aufzeigen sollte. 2007 hat er für ein Symposium zur Thematik der geistlichen Berufungen in Asien, das in Samphran in Thailand stattfand, ein Papier beigetragen, in dem er sich für einen ganzheitlichen und integrierten Ansatz in der Ausbildung von Priestern und Ordensleuten einsetzt. Dabei ist es ihm wichtig, bei Problemen nicht in einen falschen Spiritualismus auszuweichen, sondern einen alle Aspekte der Problematik einbeziehenden und respektierenden Ansatz zu suchen. Bischof Tagle verurteilt gängige Formen spiritueller Betreuung, die zum Beispiel bei ernsthaften psychischen Störungen den Betroffenen den Rat gibt, sich im Gebet an den Heiligen Antonius zu wenden und es versäumt, fachkundige Hilfe bei Psychologen und Ärzten zu suchen. Bei der Ausbildung von Priestern und Ordensleuten müsse es immer darum gehen, die menschlichen Aspekte mit der intellektuellen Förderung in einen harmonischen Einklang zu bringen und Einseitigkeiten zu vermeiden.
Bischof Tagle ist auch über die Grenzen des Bereichs der FABC hinaus geschätzt und wird häufig zu Vorträgen ins Ausland eingeladen. Am Rande der Bischofssynode 2008 in Rom erinnerte Bischof Tagle die Synode daran, dass das »Hören auf das Wort Gottes« in der Begegnung mit der Bibel eine zentrale Stelle einnehmen muss. Vor die Verkündigung durch Bischöfe und Priester muss das Hören stehen und erst aus einem reflektierten Nachhören des Wortes Gottes kann der Prediger es wagen zu verkünden.
Beim Internationalen Eucharistischen Kongress, der 2008 im kanadischen Quebec City abgehalten wurde, hielt er ein Grundsatzreferat, in dem er zeigte, wie Jesus Christus durch seine Hingabe für uns Menschen zu unserem Bruder wurde und wie das Gedächtnis daran in jeder Eucharistie wieder lebendig wird. In diesem Vortrag des gelernten Theologen und Bischof findet sich die Wiedergabe einer Episode einer Begegnung, die er mit einer Marktfrau in seiner Bischofsstadt Imus hatte, die ihn mit ihrem tiefen Glauben beschämte. Bischof Tagle hatte ihr den Rat gegeben, mit Rücksicht auf ihre Armut und Familie erst ihre Waren zu verkaufen, bevor sie freiwillig übernommene Verpflichtungen für die Pfarrei wahrnehme. Die Marktfrau dagegen blieb dabei, im Vertrauen auf Gottes Vorsehung, die sie immer wieder als verlässlich erfahren habe, auf ihren finanziellen Vorteil zu verzichten. Es ist bezeichnend für Bischof Tagle, dass er aus dieser zunächst für ihn beschämenden Begegnung die Lehre zieht, dass er, der Hirte und Bischof, von seinen ihm anvertrauten Mitchristen immer noch etwas lernen kann.
Bischof Chito Tagle, wie er gewöhnlich genannt wird, macht Gebrauch von den modernen Medien und ist regelmäßig präsent in You-Tube, wo er kurze Auslegungen von Bibeltexten mit Anregungen für die Umsetzung im Alltagsleben gibt. In diesen Beiträgen, die sprachlich fließend zwischen Englisch und Tagalog wechseln, zeigt er sich als jemand, der überzeugend und gewinnend die Botschaft der Bibel für die Menschen von heute überbringen kann. Dies geschieht nicht nur mit Hilfe des gesprochenen Worts, sondern Bischof Chito Tagle ist auch ein begnadeter Sänger, der als Solist mit bekannten Chören aufgetreten ist. Natürlich ist er auch auf Facebook vertreten, wo er eine Gemeinde von knapp 70 000 Fans hat. Der Lebensstil von Bishof Chito Tagle ist sehr einfach. Keinen eigenenWagen zu haben und öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, ist ein glaubwürdiger Ausdruck seiner Nähe zu den Armen und gibt ihm die Möglichkeit, nahe bei denMenschen zu bleiben und den Kontakt zu den einfachen Realitäten des Lebens nicht zu verlieren. So kommt es immer wieder vor, dass er Bettler von der Straße weg zum Essen zu sich einlädt. Für den Bischof sind diese Begegnungen eine Hilfe, seine theologischen Einsichten und Reflexionen an der Lebensrealität der einfachen Menschen auf ihre Tauglichkeit im Alltag zu überprüfen. Es ist wohl nicht vermessen, die Vermutung auszusprechen, dass auf Bischof Chito Tagle in Zukunft noch weitere Aufgaben zukommen könnten. Wenn für Kardinal Gaudencio Rosales, Jahrgang 1932, den jetzigen Erzbischof von Manila ein Nachfolger gesucht wird, dürfte auch Luis Tagle einer der möglichen Kandidaten sein.
GEORG EVERS
Missionswissenschaftler