Jeder Afrikaner nennt mindestens einen Quadratmeter Land sein eigen: dort, wo er eines Tages begraben wird.« »Du kannst nicht etwas inkulturieren, was Du nicht vorher befreit hast.« »Will die Theologie glaubwürdig sein, muss sie relevant und kontextbezogen sein.« »Die mächtigste Quelle der Theologie Afrikas ist der Schrei seiner Bürgerinnen und Bürger.« Dies sind einige der markanten Sätze, die für John Mary Waliggo so typisch sind. Spekulatives Denken ist ihm fremd. Auch hat er keinen umfassenden Entwurf einer Theologie vorgelegt. Sitzt man ihm aber gegenüber, ist man sofort von diesem Mann fasziniert, der mit allen Fasern seines Wesens reden oder auch zuhören kann. Er ist ein afrikanischer Theologe par excellence, der vom Leiden und Leben seines Volkes, in dem er tief verwurzelt ist, ausgeht und die befreiende Botschaft Jesu Christi verkündet, indem er nach kreativen Lösungen für die anscheinend ständig wachsenden und ständig neuen Herausforderungen seines afrikanischen Kontexts sucht. Dabei ist »the people«, das Volk, ein wichtiger Bezugspunkt seines theologischen Arbeitens. John Mary Waliggo wird 1942 in Villa Maria im Distrikt Masaka in Uganda geboren. Seine Eltern gehören der ersten Generation von Katholiken in dieser Gegend an, ein Großvater aber ist Muslim und die Brüder seines Vaters lassen sich in der protestantischen Kirche taufen. Das gemeinsame Feiern und Beten über Konfessionsgrenzen hinweg bildet somit bereits in der Familie die Grundlage für eine »Theologie von unten«, die sich nicht an theoretischen Vorschreibungen und Hierarchisierungen ausrichtet. Nach dem Besuch der Grundschule (1950 bis 1956) und des Kleinen Seminars in Bukalasa (1959–1964) studiert Waliggo Philosophie am Großen Seminar von Katigondo (1964–1966) und wird anschließend zum Theologiestudium nach Rom geschickt, das er 1970 mit dem Lizentiat abschließt. Im selben Jahr wird er in Rom auf den Titel der Diözese Masaka zum Priester geweiht. Waliggo sagt später, seine Zeit in Rom sei für ihn sehr wichtig gewesen – sie habe ihn für die Dimension der Weltkirche sowie für die Anliegen einer afrikanischen Theologie, die sich aus afrikanischen Wurzeln speist, sensibilisert. In diesem Sinne geht er 1970 für ein Aufbaustudium im Fach Geschichte nach Cambridge, wo er 1977 mit einer Arbeit über die Nutzung oraler Quellen für die Geschichtsschreibung am Beispiel seiner Heimatkirche in Uganda (1879–1925) promoviert. In dieser Zeit wird Waliggo stark von verschiedenen befreiungstheologischen Ansätzen inspiriert, wie etwa der »Black theology« in Südafrika. Aus diesen beiden Strängen der Geschichtsforschung und der afrikanischen Befreiungsbewegung entwickelten sich seine miteinander verbundenen Anliegen der Befreiung und der Inkulturation als Aufgaben der afrikanischen Theologie. In einem Interview sagt er: »Du kannst nicht unterdrückerische, patriarchale und hierarchische Elemente inkulturieren. Vor jeder Inkulturationsarbeit musst Du prüfen, ob sie mit der Befreiung einhergeht. […] Immer wenn Du versuchst, etwas zu inkulturieren, bevor Du es im jeweiligen Kontext diskutiert und verstanden hast und bevor Du das Volk, das davon betroffen ist, befragt hast, drehst Du die Uhr zurück. Gerade das darfst Du in der Theologie nicht. Dort musst Du auf der Seite der Befreiung stehen und das Jetzt und die Zukunft im Auge behalten.« Für Waliggo sind Befreiung und Inkulturation in Afrika zwei Prozesse ein und derselben Bewegung.
Nach seiner Rückkehr nach Uganda lehrt Waliggo am Priesterseminar Katigondo und übernimmt verschiedene pastorale Aufgaben in seiner Diözese. Auf- grund seines Widerstands gegen das Terrorregime von Idi Amin (1971–1980) und später gegen die Militärdiktatur von Milton Obote (2. Amtszeit 1980 –1985) geht er ins Exil nach Kenia, wo er Professor am Catholic Higher Institute of Eastern Africa (CHIEA, heute CUEA) in Nairobi wird. Seine Schwerpunkte sind Geschichte aus afrikanischer Perspektive, Inkulturation und Methodologie. Als die Unstimmigkeiten mit der Leitung von CHIEA, die später zu neuen Statuten dieser Institution führen, wachsen und in Uganda Yoweri Museveni die Präsidentschaft übernimmt, kehrt John Mary Waliggo in seine Heimat zurück und wird sofort in den Prozess des Wiederaufbaus der ugandischen Gesellschaft einbezogen. Als Mitglied der nationalen Verfassungskommission (er ist der einzige katholische Amtsträger in dieser Kommission) begleitet und gestaltet er von 1989 bis 1995 den Prozess, der dem Land eine neue Verfassung auf möglichst breiter Basis geben sollte. Die Kommission ging zum Volk, »to the people«, um die Punkte, die in der Verfassung zu verhandeln waren, zu sammeln. Nach einer intensiven Vorbereitungsphase mit Workshops in allen Landesteilen wurden über 30.000 Memoranden von Einzelpersonen, Gruppen, Familien, Dörfern, Distrikten usw. verfasst, die von der Kommission ausgewertet und zu einem 29 Punkte Plan für einen Verfassungsentwurf zusammengefasst wurden. Diese »Recommendations« waren die Grundlage für den Verfassungsentwurf, der in 10 lokale Sprachen (insgesamt sind es über 50) übersetzt und veröffentlicht wurde. Der Entwurf wurde von den 284 Mitgliedern der gewählten »Constituent Assembly« über einen Zeitraum von anderthalb Jahren diskutiert und schließlich in veränderter Form als die Verfassung von Uganda verabschiedet. Für Waliggo ging diese Arbeit und Methode in beispielhafter Weise vom Volk und seinen Bedürfnissen und Anliegen aus. Strittige Punkte waren vor allem die Frage des »Movement Political System« und des Föderalismus – Fragen, mit denen sich das Land auch in der dritten Amtszeit von Museveni immer noch auseinander zu setzen hat. Als Mitglied der nationalen Menschenrechtskommission ist Waliggo bisweilen in einer unbequemen Situation, zumal die katholische Kirche immer lauter ihre Stimme gegen Menschenrechtsvergehen seitens der Regierung (etwa in der Frage der Pressefreiheit) erhebt. Dabei ist Waliggo trotz dieser politischen Gratwanderung ein Mann des Volkes geblieben. Seine Themen sind die Leiden und Nöte seiner Mitmenschen. Wie er selbst sagt, ist »Widerstand« (»Resistance«) eines seiner Lieblingsworte: »›Widerstand‹ ist ein wundervolles Wort. Ich mag es sehr. Es ist klar und kreativ. Es meint: Du widerstehst wem auch immer. Du widerstehst jedweder Sache: Hungersnot, Unwissen, einem drohenden diktatorischem Regierungsstil. Du widerstehst jedem, der da kommen mag und Dich zum Schweigen bringen will. Du widerstehst der Versuchung, die sagt, Du habest keine Stimme. Du widerstehst allem, was gegen das Volk ist.« In seiner Theologie ist immer wieder vom Leiden des afrikanischen Volkes die Rede, das sich durch die Geschichte bis in die Gegenwart zieht. Der Sklavenhandel und die Abwertung afrikanischer Kultur und Religion durch den Kolonialismus setzt sich fort in den neokolonialen Strukturen und Mechanismen einer Globalisierung auf Kosten der Armen und Schwachen, besonders auch auf Kosten Afrikas. In einem Artikel zum Jubiläumsjahr 2000 thematisiert Waliggo die historischen Schulden, die die nordatlantische Welt an Afrika hat und die nie zurückgezahlt wurden. Zu dem im Zusammenhang mit dem Internationalen Währungsfond diskutierten »Schuldenerlass« fragt er: Welche »Schulden« sollen wir zurückzahlen, wenn dabei unsere Kinder sterben?
Mit der Kategorie des »Leidens« verbindet Waliggo eine konkrete »Option für die Armen«, die seiner Meinung nach auf eine ganzheitliche Befreiung durch das Evangelium hinzuführen ist. Er schreibt: »Die Zukunft des Christentums liegt wahrlich in der leidenden Dritten Welt. Nichts kann diese Bewegung aufhalten. Diese Erkenntnis erzeugt Unruhe bei denen, die ausschließen, während sie die früher Ausgeschlossenen aufrichtet. Angeregt durch diese Theologie des Leidens werden die leidenden Afrikanerinnen und Afrikaner merken, dass es möglich ist, die Hindernisse dieser harten Prüfungen zu durchbrechen und sich zu vereinen. Sie werden sich gegenseitig sensibilisieren und dem siegreichen Christus nachfolgen, dem Eckstein, um ihre Befreiung zu verwirklichen.« Christus, der Eckstein, der verworfen wurde, ist Christus für Afrika.Vor dem Hintergrund der geschichtlichen und aktuellen Erfahrungen Afrikas ist die Aufnahme traditioneller afrikanischer Vorstellungen und Werte ein bleibendes Anliegen Waliggos. So leiden viele gerade katholische Christen immer noch an einer Dichotomie zwischen ihrer afrikanischen und ihrer christlichen Identität. Dies spiegelt sich in besonderer Weise in der Ekklesiologie wider, die die Kirche immer noch nach westlichem Muster hierarchisiert und strukturiert. Waliggo stellt das Sozialwesen des afrikanischen Clans als mögliches Modell für Afrika entgegen und thematisiert damit bereits 1990, was später von der Afrikasynode unter dem Stichwort »Kirche als Familie Gottes« aufgegriffen wird. Bei Waliggo beinhaltet dies jedoch eine deutliche Forderung nach Demokratisierungsprozessen innerhalb der katholischen Kirche gerade in Afrika. Waliggo betont die traditionellen afrikanischen Werte, die natürlich im Hinblick auf inhärente Unterdrückungsmechanismen ebenfalls einer Unterscheidung der Geister zu unterziehen sind, auch in der Auseinandersetzung mit den Herausforderungen durch HIV/AIDS, von denen Uganda ja in besonderer Weise betroffen war und ist.
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In einem Vortrag vor der Vollversammlung der AMECEA- Bischöfe benennt er eine genuine und tief greifende Inkulturation als Voraussetzung für einen weiterführenden Ansatz im afrikanischen Umgang mit HIV/AIDS. »Inkulturation ist der bewusst, dynamisch, kritisch und ernsthaft geführte Prozess des Dialogs zwischen christlicher Lehre und Leben und afrikanischem Leben, Werten und Weisheit, der auf eine ausgewogene Synthese abzielt, durch die afrikanische Christen eine ganzheitliche Persönlichkeit als Christen und Afrikaner entwickeln können.« Mit dieser Arbeitsdefinition von Inkulturation ruft er den Bischöfen afrikanische Werte in Erinnerung, die im Umgang mit HIV/AIDS hilfreich sein können: 1. die afrikanische Familie mit ihren vielen Vätern, Müttern, Schwestern, Brüdern, Großeltern, Onkeln, Tanten, Neffen, Nichten, Enkeln, Blutsverwandten und angeheirateten Verwandten, in der niemand durchs soziale Netz fällt und den Kranken eine besondere Aufmerksamkeit gilt; 2. die afrikanische Nachbarschaft, die auf Reziprozität und Hilfe beruht; 3. die Erinnerung an die Toten und Ahnen, die in besonderen Riten zum Ausdruck kommt; 4. die afrikanische Weisheit und 5. die traditionelle Medizin. Konkret schlägt er der katholischen Kirche neue christliche Dienstämter vor, die – offiziell anerkannt – etwa besonders Kranke und Angehörige, Witwen und Waisen betreuen (Counselling). Ein weiteres Dienstamt wäre beispielweise mit der sexuellen Erziehung der Kinder und Jugendlichen zu betrauen, wofür es in der traditionellen afrikanischen Kultur ebenfalls Vorbilder gibt. Als Aufgabe für die Theologie im 21. Jahrhundert benennt Waliggo folgende Punkte: Weiterentwicklung der Theologien der Inkulturation, der Befreiung und kontextueller Theologien, ökumenische und biblische Theologie, Demokratisierung, Gerechtigkeit und Menschenrechte in der Kirche, gleiche Rechte für Frauen in der Kirche, kreative Neubestimmung des Ehe- und Familienverständnisses, autonome liturgische Riten und kirchenrechtliche Bestimmungen für bestimmte Völker und Ortskirchen, prophetische Lektüre der Zeichen der Zeit, Überwindung des religiösen Fundamentalismus, Betonung eines »funktionellen« Christentums, das die Nöte, Hoffnungen und Ängste der Menschen unserer Zeit aufgreift.
All dies sind Herausforderungen, die sich in Afrika in besonderer Weise stellen und die die Kirche im 21. Jahrhundert wird meistern müssen. John Mary Waliggo wird sich weiterhin diesen Herausforderungen stellen und seinen kreativen Beitrag zu einer prophetischen Kirche in Afrika leisten.
MARCO MOERSCHBACHER
Dr. theol., Afrikareferent am Missionswissenschaftlichen Institut Missio e.V., Aachen