von Petros Berga
Äthiopien ist ein Land, das einen raschen Wandel durchläuft, ohne aber die Verwurzelung in seinen alten spirituellen und kulturellen Traditionen zu verlieren. Gleichzeitig stehen die verschiedenen Religionsgemeinschaften vor der Herausforderung, sich dem gesellschaftlichen Wandel zu stellen und Wege für ein friedliches Zusammenleben zu finden.
Petros Berga
Pastoraldirektor der Erzdiözese Addis Abeba
Als Sitz der Organisation für Afrikanische Einheit (1963–2002) und dann der Afrikanischen Union (seit 2002) hat Äthiopien sich zum diplomatischen Zentrum Afrikas entwickelt. Zudem genießt es internationale Anerkennung für sein beeindruckendes Wirtschaftswachstum. Inzwischen hat es Ägypten als Land mit der zweitgrößten Bevölkerung Afrikas nach Nigeria überholt. Auch die Lebensqualität steigt: »Die durchschnittliche Lebenserwartung beträgt mittlerweile (Zahlen von 2016) rund 65 Jahre. Vor nicht einmal zwei Jahrzehnten waren es noch weniger als 50 Jahre. Mehr als fünf Millionen Menschen gelang es innerhalb von nur fünf Jahren, sich aus der Armut zu befreien. Krankheiten wie Kinderlähmung und Malaria wurden entweder ausgerottet oder stark eingedämmt, und auch die Säuglingssterblichkeit sank drastisch.«
Doch nicht alle profitieren von diesem Aufschwung. Die Jugendarbeitslosigkeit ist nach wie vor hoch, und in ihrer Verzweiflung riskieren junge Menschen die gefährliche Überquerung des Mittelmeers zur illegalen Einwanderung in Europa. »Seit mehr als zehn Jahren zieht es immer mehr Jugendliche nach Addis Abeba. Für die Zurückgebliebenen ist das verheerend. Viele Menschen kämpfen mit den hohen Lebenshaltungskosten. Das Wohlstandsgefälle ist inzwischen so groß, dass man barfüßige Kinder neben teuren Autos betteln sieht. Addis Abeba ist mit der wachsenden Zahl der Arbeitslosen überfordert.«
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich Äthiopien zu einemstarken, zentralisierten Reich, das am Wettlauf um Afrika teilnahm. Im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts und im beginnenden 21. Jahrhundert vollzog sich jedoch ein drastischer politischer und kultureller Wandel. Im Zuge der zentralisierten Staatsführung unter königlicher (1930–1974) und kommunistischer Herrschaft (1974–1991) entstanden ethnische Widerstandsbewegungen, die das Ende des Zentralstaates einläuteten. Nach dem Sturz der Derg-Herrschaft beziehungsweise der provisorischen (kommunistischen) Staatsjunta entstand ein neues Regime, das ein System des ethnisch-sprachlichen Föderalismus einführte (ab 1995).
Im Lauf der Geschichte erreichten verschiedene religiöse Strömungen aus dem Ausland Äthiopien. Sowohl das Christentum als auch der Islam kamen bereits sehr früh nach Äthiopien und entwickelten dort indigene Ausprägungen. Die prägendste Kraft des zwanzigsten Jahrhunderts war jedoch der zunehmende Einfluss der Globalisierung: Religion wie auch Kultur und Politik waren transnationalen Strömungen ausgesetzt, die eine übermächtige Wirkung entfalteten.
»In der ersten Hälfte des vierten Jahrhunderts (332 n. Chr.) wurde das Christentum zur äthiopischen Staatsreligion. Erst mehr als ein Jahrhundert danach kamen die neun Heiligen ins Land.«Die neun Heiligen sind eine Gruppe von Mönchen, die aus dem östlichen Mittelmeerraum kommend Klöster in Äthiopien gründeten und das Christentum in der äthiopischen Gesellschaft zur vorherrschenden Religion machten, indem sie die Schriften und die Liturgie ins Altäthiopische (Ge’ez) übersetzten und damit das Fundament für die klassische äthiopische Zivilisation legten. Der heilige Jared führte dieses Werk fort. Er gilt als Begründer der äthiopischen liturgischen Musik und Hymnologie, weil er indigene poetische Formen als Mittel zur Verbreitung des Evangeliums nutzte.
Das aksumitische Reich war ein kosmopolitisch geprägtes Imperium, das Handelsbeziehungen zu vielen Ländern pflegte. Das äthiopische Christentum wahrte für lange Zeit seinen heterogenen Charakter. Das änderte sich nach dem Konzil von Chalcedon (451), das die Spaltung zwischen der byzantinischen Kirche (orientalisch-orthodox) und der römischen Reichskirche einleitete. Auslöser für das Schisma war die Entscheidung in einem lange geführten christologischen Streit: Beide Seiten erkennen die göttliche und menschliche Natur in Jesus Christus an, formulieren dies aber jeweils anders; die östlich-orthodoxe Kirche und die Katholiken sprechen von den zwei Naturen Christi (Dyophysitismus), der menschlichen und der göttlichen Natur, während die orientalisch-orthodoxe Kirche (also die Nicht-Chalkedonier) Jesus Christus nur eine einzige – die göttliche – Natur zusprechen (Miaphysitismus), die perfekt menschlich und göttlich zugleich ist. Seinen Niederschlag findet dies im Namen der äthiopischen Kirche, die sich offiziell als äthiopisch- orthodoxe Tewahedo-Kirche bezeichnet (Tewahedo bedeutet Einheit der beiden Naturen in Christus, also miaphysitisch). Die islamische Eroberung der Gebiete um das Horn von Afrika drängte Äthiopien noch stärker in die Isolation. Das christliche Machtzentrum verschob sich in Richtung Süden, und die Christen entwickelten eine Art Wagenburgmentalität. Sie identifizierten sich mit dem biblischen Israel als »Volk des Bundes« und sahen sich als Insel des Christentums inmitten eines islamischen Meeres.
Im 16. Jahrhundert gelang es mit Hilfe der Portugiesen, einen Versuch der islamischen Eroberung unter Ahmad ibn Ibrahim al-Ghazi, den die Türken mit Waffen ausgerüstet hatten, abzuwehren. 1622 konvertierte Kaiser Sissinios (1607–32) auf Betreiben eines Missionars zum Katholizismus. Das löste blutige Unruhen im ganzen Land aus, die ihn dazu zwangen, zugunsten seines Sohnes Fasil zurückzutreten, der den orthodoxen Glauben wieder zur Staatsreligion machte. Die bösen Erinnerungen an diese Episode überschatten die Beziehungen zwischen Katholiken und Orthodoxen bis heute. Inzwischen hatte der Islam Äthiopien erreicht, weil eine Gruppe verfolgter Anhänger des Propheten Mohammed Zuflucht in Aksum gesucht hatte. Aufgrund des freundlichen Empfangs in Aksum erklärten die Araber Äthiopien zu einem »neutralen« Land. Das spaltete die islamische Äthiopien-Debatte: Während die einen darauf beharren, die Christen seien zu respektieren, weil sie den Anhängern Mohammeds Gastfreundschaft gewährt hatten, behaupten die anderen, der damalige König von Äthiopien (der Negus) sei zum Islam konvertiert und der Islam müsse deshalb die Staatsreligion in Äthiopien sein. In späterer Zeit spielten Sufi-Bruderschaften eine große Rolle bei der Verbreitung des Islams. Sie propagierten eine afrikanische Version des Islams, die von Elementen der örtlichen indigenen Kultur durchsetzt ist. Der Islam setzte sich vor allem bei bestimmten Ethnien wie den Afar, den Somali, den Haderi, den Agroba, den Silte/Guraghe und Teilen der Oromo durch.
Auch das Judentum erlebte in Äthiopien eine Blüte. Mehrere zehntausend Anhänger, die dort Beta Israel (Haus Israel) oder Falaschen heißen, lebten in Äthiopien. Eng damit verbunden waren die jüdischen Einflüsse innerhalb der äthiopisch-orthodoxen Kirche (die Juden sprachen Ge’ez). Ab Ende des 19. Jahrhunderts gab es Versuche, die durch eine Art Kastensystem isolierten und auf bestimmte Berufe (Töpfer, Schmiede, Weber, Steinmetze) beschränkten äthiopischen Juden in die Hauptströmung des Judentums zu integrieren. Im Zuge dessen wanderten die meisten von ihnen nach Israel aus.
Die Grenzen des historischen Äthiopien änderten sich immer wieder. Den festen Kern bildete ein zentrales Hochland; verschiedene Randgebiete wie Kaffa und Arba Minch waren nur zeitweise Teil des christlichen Reichs. Ende des 19. Jahrhunderts beteiligte sich mit Menelik II. (Kaiser 1889–1913) ein starker äthiopischer Herrscher am kolonialen »Wettlauf um Afrika«. Mit im Westen gekauften Waffen erweiterte und festigte er seinen Herrschaftsbereich bis zur heutigen Ausdehnung Äthiopiens. Im Zuge dessen eroberte er viele bis dato islamisch oder animistisch geprägte Gebiete. Die Herrscher verfolgten eine Politik der religiösen Vermischung und förderten die Konvertierung zur und die Verbreitung der äthiopischen Orthodoxie durch die örtliche Aristokratie. Unter Haile Selassie (Kaiser 1930–1936; 1941–1974) wurde das Reich in für die ausländische Missionstätigkeit offene und geschlossene Gebiete unterteilt. Ausländische Missionare, Katholiken und Protestanten gleichermaßen, waren besonders in den Randgebieten aktiv.
Eine tiefe Prägung erfuhr die religiöse Landschaft Äthiopiens durch die Revolution von 1974 und ihre Folgen. Die Einführung des sozialistischen Atheismus nach sowjetischem Vorbild erfolgte jedoch nicht allumfassend, und die äthiopische Orthodoxie und der Islam behielten ihren privilegierten, das heißt tolerierten Status. Überraschenderweise gibt es in der Geschichte dieser Ära auch positive Elemente. Die Ausübung des Glaubens als Ausdruck des Widerstands gegen das kommunistische Regime war weit verbreitet, und es entstanden viele neue Gebetsstätten. Die Trennung zwischen Kirche und Staat wurden unter dem damaligen Regime jedoch stärker betont. Auch die Einflüsse der Globalisierung wurden stärker.
Fläche: 1.104.300 km²
Bevölkerung: 105.350.020
Ethnien: 35 % Oromo, 27 % Amhara, 6 % Somalier, 6 % Tigray, 4 % Sidama, 3 % Guragie, je 2 % Welaita, Hadiya, Afar, Gamo
Sprachen: Amharisch, Oromo, Tigrinya, Somali, weitere Sprachen der Ethnien
Religionen: 43,5 % Äthiopisch-Orthodoxe, 33,9 % Muslime, 18,5 % Protestanten, 2,7 % Anhänger indigener Religionen, 0,7 % Katholiken
Human Development Index 2016: 174 von 188 Staaten
Quellen: The World Factbook; hdr.undp.org
Als Beginn der modernen Geschichte des Katholizismus in Eritrea und Äthiopien gilt gemeinhin der erste missionarische Besuch von Giuseppe Sapeto in Eritrea und Tigray gegen Ende der 1830er Jahre. 1839 wurde die Apostolische Präfektur Abessinien errichtet. 1846 wurde die Präfektur in zwei Zirkumskriptionen unterteilt. Das Apostolische Vikariat Abessinien umfasste die Regionen Eritrea, Tigray und Amhara und wurde dem Missionsorden der Lazaristen anvertraut; Apostolischer Vikar wurde der später mit dem Beinamen »Apostel von Abessinien« geehrte Bischof Justin De Jacobis. Das Apostolische Vikariat Galla umfasste das übrige Äthiopien, hier übernahmen die Kapuziner unter Bischof Guglielmo Massaia die Missionsarbeit. Damit setzte die katholische Mission einerseits ihre Arbeit unter den Orthodoxen im Norden fort und startete andererseits die Missionsarbeit unter den nichtchristlichen Stämmen im Süden. Massaia wirkte von 1846 bis 1880 in Südäthiopien und widersetzte sich in dieser Funktion der Nutzung des äthiopischen Ritus durch De Jacobis. Im Verlauf des Jahrhunderts gab es zwei Missionsbewegungen mit unterschiedlichen Strategien, die sich mit Erfolg etablierten und ihre Aktivitäten über große Teile des Landes ausdehnten. Im Gegensatz zu anderen katholischen Gegenden mit östlichem Ritus, die gesonderte Jurisdiktionen haben, koexistieren in Äthiopien der lateinische und der orientalische beziehungsweise Ge’ez-Ritus unter einer Hierarchie und mit einer Bischofskonferenz. Dies hat zu einer außergewöhnlichen Situation geführt – mit einigen Problemen, wie die Identität und die Ausbildung des Klerus, die gelöst werden müssen, wenn die äthiopisch-katholische Kirche zukünftig erfolgreich sein will.
Im Verlauf des 20. Jahrhunderts entwickelte sich die äthiopisch-katholische Kirche von einer Kirche der westlichen Missionare zu einer Kirche mit einem dynamischen Klerus aus dem eigenen Land und einem dank ihrer Lebendigkeit, Stärke und Begeisterung unverwechselbaren Charakter. Trotz der Leiden während der kommunistischen Zeit gab es einen spürbaren Anstieg in der Zahl der Berufungen. Die katholische Kirche wurde mit Bildung, Entwicklung und Hilfsprojekten assoziiert. Das half ihr zweifelsohne, diese schweren Jahre trotz der zeitweiligen Verfolgung (Ausweisung aus dem Vikariat Jimma) zu überstehen.
Aufgrund ihrer internationalen Verfasstheit ist die katholische Kirche besser als andere Religionsgemeinschaften dafür aufgestellt, in Krisenzeiten in soziopolitischen Fragen einen prinzipientreuen Standpunkt zu beziehen. Daher hat sie eine große Vorbildfunktion für andere. Gegenwärtig herrschen Chaos und Notstand im Land. Offenkundiges Zeichen dafür ist der Rücktritt von Ministerpräsident Hailemariam Desalegn im Februar 2018. In dieser Zeit der Unruhe rief die katholische Kirche zu Mäßigung und nationaler Aussöhnung auf. Diese prinzipientreue Haltung hat große Anerkennung erfahren – im Gegensatz zur Haltung anderer religiöser Gruppen, deren Nähe zur Regierung es ihnen unmöglich macht, Meinungen zu äußern, die als kritisch ausgelegt werden könnten. Analog hat sich das Referat Gerechtigkeit und Frieden der katholischen Kirche in verschiedenen Gegenden umfassend für die Lösung von Konflikten eingesetzt. Daraus erwächst eine führende Rolle der katholischen Kirche bei der Stärkung der Zivilgesellschaft, für eine verantwortungsvolle Staatsführung sowie für Frieden und Sicherheit und Bürgerbeteiligung.
In der äthiopischen Orthodoxie finden sich noch Aspekte des Urchristentums, die andernorts verschwunden sind. So ist die äthiopisch-orthodoxe Tewahedo-Kirche (Ethiopian Orthodox Tewahedo Church, EOTC) beispielsweise einzigartig, was die Pflege jüdischer Bräuche angeht. Damit wahrt sie eine Aura der Glaubensausübung und Gottesverehrung nach alttestamentlichem Vorbild. Das schließt u. a. die Beschneidung und die strikte Befolgung von Speisegesetzen (zum Beispiel die Unterscheidung zwischen reinen und unreinen Speisen), Einschränkungen für Frauen in der Zeit der Menstruation, die als Andemta bezeichnete Bibelexegese nach Art der Rabbiner und einiges mehr ein. Kirchen sind in Anlehnung an die Tradition des jüdischen Tempels in drei Bereiche unterteilt, darunter ein Allerheiligstes (mit der Bundeslade). In Äthiopien gibt es noch heute das einzige vollständig traditionelle christliche Bildungssystem – das Abenet Temhert. Es erstreckt sich von der Grundschule mit dem Erwerb der Schriftsprache und dem Auswendiglernen liturgischer Texte bis zur Hochschule. Seinen höchsten Ausdruck findet es in Rezitationswettbewerben, in denen liturgische Gedichte in einer traditionell überlieferten Lyrikform vorgetragen werden. Neben der Heiligen Synode gibt es ein College of Learned Sages (Liqawant Gubae), das eine wichtige Rolle in Fragen des öffentlichen Glaubens und seiner Ausübung spielt.
Die EOTC genießt unter den Gläubigen große Anerkennung für ihr zeitloses Wesen, das sie zu einem Felsen in der Brandung des Wandels macht. Die Mutterkirche entfaltet ihre Anziehungskraft über alle Altersgruppen hinweg. Sie spricht Junge und Alte gleichermaßen an, indem sie ein Gefühl der Zugehörigkeit und Identität vermittelt, die Verbindung zu kulturellen und historischen Wurzeln herstellt und die Gläubigen in die Mysterien des Glaubens eintauchen lässt. Wenn wir jedoch unter die Oberfläche schauen, stellen wir fest, dass »die Kirche – ohne Aufgabe ihres aus unveränderlichen Dingen (Liturgie, Spiritualität, theologische Basis) bestehenden Wesenskerns – ihrer Aufgabe nur nachkommen kann, wenn sie Offenheit und Anpassungsbereitschaft zeigt«. Angesichts des Wachstums der Stadtbevölkerungen werden für die Interaktion zwischen Geistlichen und Gläubigen neue Vermittlungsstrukturen benötigt. Bestimmte Aufgaben der traditionellen Bildungssysteme wurden in den Städten inzwischen von der Sonntagsschule und von Jugendbewegungen übernommen. Diese und andere parakirchliche Organisationen spielen eine zentrale Rolle bei der spirituellen Neubelebung. Diese Gruppen haben jedoch noch weitere Aufgaben, die für Kirche und Gesellschaft von großer Bedeutung sind, etwa die Zivilgesellschaft zu stärken sowie eine gesunde gesellschaftliche und politische Entwicklung zu fördern. Unter anderem leisteten sie einen Beitrag bei der Verteilung von Kirchenmitteln und der Unterstützung vernachlässigter ländlicher Einrichtungen wie die isolierten Klöster und traditionellen Schulen, die einst das Rückgrat der Kirche bildeten, heute aber um ihr Überleben kämpfen. Trotz des scheinbar unveränderten Äußeren der Kirche und der großen Herausforderungen (finanzielles Missmanagement, administrative Probleme usw.) sorgten Transformations- und Änderungsbewegungen dafür, dass die heutige EOTC dynamisch und flexibel blieb und auch weiterhin gewappnet ist, sich den Herausforderungen einer immer stärker von Wettbewerb geprägten Welt zu stellen.
Eines der verblüffendsten Phänomene in Äthiopien ist zweifellos der sich im Religionsbereich gegenwärtig vollziehende demografische Wandel, der den Status der EOTC als führende Religion im Land unterminiert. 1979 waren 60 Prozent der Bevölkerung Äthiopiens und Eritreas orthodox; 2007 waren es in Äthiopien nur noch 43 Prozent. Zuzuschreiben ist das in erster Linie dem Wachstum der protestantischen und Pfingstkirchen, die von der Globalisierung und der Situation nach der Zeit der kommunistischen Herrschaft profitierten. Wie die katholischen nahmen auch evangelische Missionen in Äthiopien und Eritrea ihre Arbeit in nennenswertem Umfang in den 1850er Jahren auf und schon bald etablierten sich lokale evangelische Kirchen. Im 20. Jahrhundert tauchten in erster Linie drei Gruppen auf: die Lutheraner, die Sudan Interior Mission und die mennonitische Mission. Die Lutheraner wurden zur äthiopischen evangelischen Kirche Mekane Yesus (der »Ort Jesu«, gegründet 1959). Am stärksten ist sie im Süden und Westen Äthiopiens, wo der Einfluss der Orthodoxie am geringsten ist.
Über die charismatische Bewegung halten seit den 1960er Jahren pfingstkirchliche Ideen Einzug in die traditionellen protestantischen Kirchen in Äthiopien. Indem sie die Spiritualität betonten, stießen sie einen Diskurs an, der stärker erfahrungsbezogen als fundamentalistisch geprägt war und in Afrika offenkundig auf fruchtbaren Boden traf. Transnationale pfingstkirchliche Strömungen eröffneten Möglichkeiten, das örtliche Kulturrepertoire zu überwinden. Die Pfingstbewegung bot eine radikale Transformation der eigenen Person und der kollektiven Identität und damit zu einer Zeit der wirtschaftlichen Marginalisierung Afrikas eine verlockende Alternative. In den Städten waren die Pfingstbewegungen eng mit dem sozialen Aufstieg aufstrebender Schichten verknüpft; auf dem Land ebneten sie den Weg für einen Veränderungsprozess, dessen Fürsprecher die nach Reformen strebenden Eliten in Südäthiopien waren.Im revolutionären Äthiopien wurden protestantische und pfingstkirchliche Gruppen in den Kampf zwischen Zentrum und Peripherie verwickelt; ihre Verbindungen zu rebellischen ethnischen Gruppen (vor allem den Oromo und ausländischen Mächten wie den USA) mündete in der kommunistischen Zeit in Verfolgung. In der postkommunistischen Zeit erlebten sie jedoch eine neue Blüte.
Der Islam erlebte in Äthiopien aus einer Reihe von Gründen ein sprunghaftes Wachstum. Die Einführung des ethnisch-sprachlichen Föderalismus führte dazu, dass vormals marginalisierte muslimische Gegenden stark an politischem Einfluss gewannen, den sie mitunter nutzten, um die dort lebenden christlichen Minderheiten zu marginalisieren. Die alten Traditionen der Sufi-Bewegung mit ihren Scheichs, die bei der Ausbreitung des Islams in Äthiopien in der Vergangenheit eine so große Rolle gespielt hatten, wurden zunehmend von neueren, stärker international geprägten und mitunter militanten Formen des Islams verdrängt, die sich auch über das Internet ausbreiteten. Eine wichtige Rolle spielten dabei auch internationale muslimische Organisationen aus Saudi-Arabien und Pakistan, die den Bau von Moscheen und Madrasas finanzierten und Auslandsstipendien vergaben.
Das sozioökonomische Element spielte seit jeher eine große Rolle bei der Etablierung muslimischer Gemeinden in Äthiopien. Äthiopien besitzt Naturressourcen, die im angrenzenden islamischen Kernland der arabischen Welt fehlen: Wasser, fruchtbares Ackerland, Holz, billige Arbeitskräfte usw. Äthiopien wiederum fehlt das Kapital für entwicklungsfördernde Investitionen. Daraus ergibt sich fast zwangsläufig eine Dynamik der Einbindung Äthiopiens in die arabische/ islamische Sphäre des ökonomischen Einflusses und der Zusammenarbeit. Die zahlreichen Äthiopier, die in den Golfstaaten Arbeit fanden, sehen sich inzwischen dem Druck ausgesetzt, muslimische Namen und eine arabische Identität anzunehmen.
Es herrscht Angst vor muslimischem Extremismus, Fundamentalismus sowie religiösem und politischem Fanatismus, wie er in verschiedenen Nachbarländern wie Somalia zu beobachten ist und der auf Äthiopien überzugreifen droht. Bisher gelang es den äthiopischen Sicherheitsdiensten, anders als im benachbarten Kenia, dies zu verhindern.
Während der jährliche Timket-/Epiphaniefeiern kommt es gelegentlich zu Auseinandersetzungen zwischen Muslimen und Christen. In islamisch geprägten Gegenden wie Jima wurden auch schon Kirchen niedergebrannt, was die christlichen (vor allem orthodoxen) Neubelebungsbewegungen gefährdete. Im ländlichen Äthiopien, vor allem in Gegenden wie Wollo und Teilen von Tigray, gab es hingegen einen freundschaftlichen und toleranten Dialog, der von Mischehen, gemeinsamer Teilnahme an Feierlichkeiten und Unterstützung beim Bau von Andachtsstätten der jeweils anderen Gemeinschaft geprägt war. Vor allem zwischen Orthodoxen und sufistisch orientierten Muslimen war das der Fall. Mit der Expansion der protestantischen und Pfingstkirchen (mit ihrem Missionierungsdrang), dem Einfluss der militanteren muslimischen Kräfte aus dem Ausland und auch dem Auftauchen weniger toleranter orthodoxer Erneuerungsbewegungen (wie Mahibere Kidusan) nahm die Polarisierung und Entfremdung im Bereich der zwischenreligiösen Beziehungen zu. Zur Stärkung der Harmonie zwischen den Religionen richtete die Regierung interreligiöse Räte mit Würdenträgern aus verschiedenen Gemeinschaften ein.
Keine Gruppe verkörpert mit ihrem Schicksal das Konzept von Transformation und Wandel so eindringlich wie Beta Israel beziehungsweise die Falaschen. Die äthiopischen Juden, seit Jahrhunderten eine Kaste, die kein Land besitzen darf (Falaschen heißt landlose Umherziehende), waren eine benachteiligte Gruppe, die man für ihr Können schätzte, aber für die ihnen zugeschriebene berüchtigte Fähigkeit, nachts zu Hyänen zu werden, verabscheute; so beschrieb es zumindest der israelische Anthropologe Hagar Salamon. Der Außenwelt waren sie nahezu unbekannt, bis sie Mitte des 19. Jahrhunderts zum Gegenstand missionarischer Aktivitäten der Protestanten wurden. Das weckte die Aufmerksamkeit des Weltjudentums, und es begannen Diskussionen darüber, wie mit ihnen umzugehen sei. In einer Erklärung bezeichnete der ehemalige sephardische Oberrabbiner Ovadja Josef 1973 die Falaschen als »Juden, die wir vor der Assimilierung retten müssen«. Josef setzte sich für ihre schnelle alija (Rückkehr) nach Israel ein. Von 1984 bis 1992 siedelte die Mehrzahl der Falaschen nach Israel um. Von den geschätzten 150.000 Falaschen lebt die große Mehrheit inzwischen in Israel sowie zu einem kleinen Teil in den USA und Äthiopien.
Die Einführung des ethnisch-sprachlichen Föderalismus hat den Diskurs über Identität und Zugehörigkeit unter den verschiedenen ethnischen Gruppen forciert. Besonders die Betonung der sprachlichen Vielfalt förderte die Wiederentdeckung mündlich überlieferter Erzählungen und fast vergessener Traditionen. Viele von ihnen standen in Zusammenhang mit der Kosmologie bestimmter ethnischer Gruppen und ihrer religiösen Überzeugungen vor dem Eintreffen der monotheistischen Weltreligionen (Christentum und Islam). Das leitete eine Renaissance der indigenen afrikanischen Religionstraditionen ein – in ihrer ausgeprägtesten Form unter den Oromo. In vielen Fällen erfolgte sie in synkretistischer Form, das heißt, die Menschen hingen verschiedenen religiösen Traditionen gleichzeitig an. Eines der besten Beispiele dafür ist das alte Kloster von Zukwala. Zeitgleich mit den Feierlichkeiten zu Ehren des Ortsheiligen Gebre Menfis Kidus findet ein religiöses Fest der Oromo statt, und viele der großen Pilgergruppen nehmen an beiden Festen teil. Diese beeindruckende Tradition der religiösen Toleranz und Koexistenz wurde kürzlich erschüttert, als orthodoxe Extremisten den Sida-Stein zerstörten, der den Anhängern der traditionellen Oromo-Religion als heilig gilt. Das zeigt, dass auch solche Traditionen inzwischen bedroht sind, auch wenn es Bemühungen gibt, die alten Traditionen der Toleranz, für die Äthiopien einst berühmt war, wiederaufleben zu lassen.
Im säkularisierten Westen spielt Religion im Alltag inzwischen häufig keine Rolle mehr. Anders in Afrika: Religiöse Bindungen bilden für die Afrikaner vielleicht das wichtigste Instrument der Interaktion mit der übrigen Welt, und religiöse Vorstellungen bieten ihnen ein Mittel der Teilhabe am gesellschaftlichen und politischen Leben. Das heißt nicht, dass Äthiopien vor säkularen Einflüssen gefeit ist. Religiöse Diskurse haben jedoch häufig direkte Auswirkungen auf das Leben der Menschen und bilden ein wichtiges Mittel für die Auseinandersetzung mit vielen zentralen Fragen, vor denen die äthiopische Gesellschaft heute steht. Nicht nur Korruption, sondern auch Umweltkrise und Klimawandel, Zivilgesellschaft, verantwortungsvolle Staatsführung, Konfliktlösung und Armutsabbau sind samt und sonders an ethische Fragen geknüpft, die im Zusammenhang mit unserem spirituellen Bewusstsein stehen.
Damit die Stimme der Religion im öffentlichen Raum gehört wird, muss sie als geeinte Stimme auftreten. Andernfalls verhallt sie ungehört. Folglich ist es unabdingbar, den ökumenischen und interreligiösen Dialog zu fördern und auf einen religiösen Konsens hinzuarbeiten. Religion trägt positives und negatives Potenzial gleichermaßen in sich. Deshalb gilt es, dringend alle religiösen Akteure zu mobilisieren und im Streben nach dem höheren Wohl zu einen. Die katholische Kirche mit ihrer speziellen Beziehung zu Orthodoxen und Protestanten und einer funktionierenden Beziehung zum Islam kann eine wichtige Rolle dabei spielen, die verschiedenen Seiten zusammenzubringen. Die Einführung des ethnischen föderalen Regierungssystems hatte unerwartete Nebenwirkungen, insbesondere in Bezug auf die Verschärfung der Spannungen zwischen den verschiedenen Gemeinschaften. Das macht die Vermittlung so wichtig, und als Vermittler können die Glaubensgemeinschaften eine zentrale Rolle spielen.
1 Christian Tesfaye, »Dawn of Babies my opinion«, Fortune 18/913, 20. Oktober 2017, 28.
2 Christian Tesfaye, »Youthification of Addis«, Fortune 18/902, 13. August 2017, 22.
3 Wondemagegnehu Aymero/Joseph Motovu, The Ethiopian Orthodox Church The Ethiopian Orthodox Church, Ethiopian Orthodox Missions, 1970, 4.
4 Joachim Persoon, »Movements of Transformation and Change within the Contemporary EOTC«, Christianity and Development of Culture, Presov, 20.–21. Mai 2013.
5 Amtliche Statistiken basierend auf Zahlen von Diakon Solomon Alemu und Diakon Haile-Gabriel Tamerat, Mitglieder von Mahibere Kidusan.
6 R. Sato, »Evangelical Christians and the Ethnic Consciousness in Majangir«, in: W. James/D. L. Donham/E. Kurimoto/A. Triulzi (Hrsg.), Remapping Ethiopia Socialism and After, Athens/Ohio 2002, 185–197.
7 Stephen Ellis/Gerrie Ter Haar, Worlds of Power Religious Thought and Political Practice in Africa, New York 2004, 1–2 und 188–189.