von Nicholaus Segeja
Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil steht die Idee der Kirche als Familie Gottes im Mittelpunkt des christlichen Lebens. Eng damit verknüpft ist die Synodalität als konstitutive Dimension der Kirche. Daran angelehnt veröffentlichte die Kirche über ihre Internationale Theologische Kommission (ITC) 2018 ein Schreiben zur »Synodalität in Leben und Sendung der Kirche«. Das Dokument macht deutlich: Es gilt, sich die Elemente einer zuhörenden und prophetischen Kirchenfamilie im Geiste der Communio des Zweiten Vatikanums zu eigen zu machen.
Nicholaus Segeja
Rev. Prof., Diözesanpriester der Erzdiözese Mwanza, Tansania, ist Leiter des Lehrstuhls für Pastoraltheologie an der Katholischen Universität von Ostafrika (CUEA) in Nairobi, Kenia
Das Dokument zur »Synodalität in Leben und Sendung der Kirche« ist vor dem Hintergrund des Zweiten Vatikanischen Konzils und als Antwort auf die substanziellen kulturellen und sozialen Veränderungen zu sehen, die sich im Zuge des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts in der Welt vollziehen. Im Vorbereitungsdokument zur Jugendsynode 2018 ist deutlich formuliert: »Das Ergebnis all dieser Veränderungen ist eine verbreitete Orientierungslosigkeit, die in Formen des Misstrauens gegenüber all dem zum Ausdruck kommt, was uns im Hinblick auf den Sinn des Lebens übermittelt wurde, sowie in einer mangelnden Bereitschaft, sich ganz und bedingungslos dem anzuschließen, was uns als Offenbarung der tiefen Wahrheit unseres Seins übergeben wurde.« Die Antworten auf die Veränderungen sind anthropologischer und theologischer Natur und stehen im Geiste des Aggiornamento des Zweiten Vatikanischen Konzils.
Im Werk von Papst Paul VI. ist beispielsweise ein Fortschritt in der Definition der Sendung der Kirche zu beobachten: Evangelisierung bedeutet auch Entwicklung. Mit der Errichtung der Bischofssynode hielt in der Tat ein größeres Bewusstsein für das Konzept der Synodalität Einzug in die katholische Kirche. Johannes Paul II. erweiterte den Verständnishorizont der Evangelisierung in vielen seiner Diskurse. Für ihn zählte zu den dringlichsten Aufgaben der Kirche, den Glauben in der Gesellschaft zu verankern und die kirchliche Gemeinschaft im täglichen Leben wieder präsenter zu machen. Angelehnt daran verknüpfte Papst Benedikt XVI. die Realität der Neuevangelisierung mit den Aussagen des Zweiten Vatikanischen Konzils und bekräftigte nicht nur die Realität der Seelsorge als Wesenskern der Berufung der Kirche, sondern auch das gemeinsame Streben des Gottesvolkes hin zu Heiligkeit und Vollkommenheit. Schließlich ist es heute Papst Franziskus, der auf den Zusammenhang zwischen Neuevangelisierung und der Notwendigkeit zur Wiederbelebung pastoraler und missionarischer Erneuerung hinweist. Dazu verknüpfte er sie mit der kirchlichen Synodalität als Ausdruck der pilgernden Kirche und der Kirche als Gemeinschaft. Für Papst Franziskus ist die Synodalität der Kirche eine Realität von besonderer Bedeutung – eine Position, die sich die ITC später zu eigen machte.
Neben dem allgemeinen Vor- und Schlusswort umfasst das Dokument zur »Synodalität in Leben und Sendung der Kirche« vier Kapitel mit insgesamt 121 Absätzen. Aufbauend auf der Position von Papst Franziskus und dem Gemeinschaftsgeist des Zweiten Vatikanischen Konzils will das Dokument Impulse geben und die theologischen Wurzeln der Synodalität aufzeigen. Die Weltkirche ist eine Gemeinschaft, die in den Ortskirchen realisiert wird. Synodalität bezeichnet in diesem Sinne das Streben der Christgläubigen zur Gemeinschaft mit (syn) Christus auf dem Weg (odos) der Heiligkeit unter der Führung des Heiligen Geistes im jeweiligen örtlichen Kontext. Das Dokument verdeutlicht, dass der Weg der Synodalität dazu aufruft und ermutigt, mit Mitgliedern der Kirche auf verschiedenen Ebenen zusammenzukommen – entsprechend ihrer jeweiligen Berufungen –, zu diskutieren und gemeinsam die nächsten Schritte zu erkennen.
Weiter heißt es, dass der synodale Weg der Kirche von der Eucharistie gestaltet und genährt wird. Folglich wird im Dokument unterschieden zwischen synodalen Ereignissen und den dauerhaften synodalen Strukturen auf Ebene der Diözese und der Pfarrgemeinde. Man erkennt eine Verschiebung des Fokus hinsichtlich der Teilnahme am synodalen Leben der Kirche. Deshalb ist nicht nur über die Rolle des Bischofsamtes, sondern auch über die Rolle des Volkes Gottes im jeweiligen Kontext nachzudenken. Wie ist die Rolle des Presbyteriums zu definieren? Wie lassen sich pastorale Diözesanräte und parochiale Strukturen etablieren? Wie ist die Teilhabe aller sicherzustellen? Kapitel drei und vier enthalten praktische Aussagen zur Synodalität. Der modus vivendi et operandi der Synodalität muss sich demzufolge im Leben und Arbeiten der Kirche manifestieren und dabei ihr Handeln widerspiegeln. Jeder Einzelne ist aufgerufen, sein Taufgelübde zu leben und auf die Stimme des Heiligen Geistes zu hören, auf dass er ihn zu mitverantwortlicher Treue zu den Grundfesten des Glaubens führt. Das Neuartige in den Aussagen des Dokuments liegt in der Unterscheidung der einzelnen Mitglieder des Gottesvolkes und ihrer Einteilung in Gruppen. Neu ist, dass die synodale Gemeinschaft als Gemeinschaft zwischen allen, einigen und einem definiert wird. Auf der ersten Ebene schließt die synodale Gemeinschaft die Ausübung des sensus fidei des gesamten Gottesvolks ein. Die zweite Gruppe umfasst das leitende Amt des Bischofskollegiums. Drittens bekleidet der Bischof von Rom das vorrangige Amt des einen. Auf diese Weise vereint die Dynamik der Synodalität den gemeinschaftlichen Aspekt, nämlich das gesamte Gottesvolk (alle), die kollegiale Dimension (einige) im Rahmen der Ausübung des Bischofsamtes und das vorrangige Amt (einer) des Bischofs von Rom.
Ein interessanter Aspekt ist die Notwendigkeit der Einleitung von Konsultationsprozessen für das gesamte Volk Gottes. Die Praxis der Konsultation als Prinzip ist nicht neu im Leben der Kirche. Das Dokument betont jedoch, dass sie nicht im Sinne von Konziliarismus auf ekklesiologischer Ebene oder von Parlamentarismus auf politischer Ebene verstanden werden darf. Weiterhin gilt es, zwischen deliberativer und konsultativer Abstimmung zu unterscheiden. Bei der konsultativen Abstimmung dürfen die in den synodalen Versammlungen geäußerten Meinungen nicht unterbewertet werden. Die deliberative Abstimmung hat eine andere Funktion: Sie ist den Seelsorgern vorbehalten. In einer Diözese heißt das zum Beispiel, zwischen dem Entscheidungsprozess der Konsultation und Kooperation sowie der Beschlussfassung zu unterscheiden, die unter die Kompetenz des Bischofs als Garant für Apostolizität und Katholizität fällt. Hier versucht das Dokument zu vermitteln, dass die Entscheidungsfindung eine synodale Aufgabe ist, die Entscheidung aber letztlich den Amtsträgern obliegt. Gleichzeitig wird betont, dass die beiden Prozesse in der Dynamik der Synodalität nicht isoliert voneinander ablaufen, sondern in ergänzender Weise.
Alles in allem stellt das Dokument vier Dinge klar:
Im Einklang mit Papst Franziskus wird im Dokument auch betont, dass die Bereitschaft vorhanden sein muss, voneinander zu lernen und einander zuzuhören, um den Zusammenhalt der Kirche im Sinne der Synodalität zu gewährleisten. Dieses Zuhören als pastoraler Schwerpunkt schließt letztlich das Erkennen der Gebote des Heiligen Geistes zur Erneuerung der kirchlichen Sendung ein. In dieser Hinsicht ist die Teilhabe der Laien von besonderer Bedeutung. Das Zuhören als Gebot des synodalen Lebens der Kirche muss auch im Zusammenhang mit dem apostolischen Amt verstanden werden, das im Amt der Bischöfe in kollegialer und hierarchischer Gemeinschaft miteinander und mit dem Bischof von Rom seine Realisierung findet. Die Weltkirche und die Ortskirchen bilden zwei Pole. Ihre Beziehung, Korrelation und Abhängigkeit erwachsen durch das Anhören des Heiligen Geistes täglich neu. Sie bilden sozusagen eine ekklesiologische Perichorese. Das Zuhören ist insbesondere auch eine Aufgabe der Theologinnen und Theologen. Sie sollen auf das Wort Gottes hören, den Glauben in weiser, wissenschaftlicher und prophetischer Weise verstehen, die Zeichen der Zeit im Licht des Evangeliums erkennen und den Dialog mit der Gesellschaft und den Kulturen suchen – im Dienst der Verkündigung des Evangeliums.
Die Kirche in Afrika ist konfrontiert mit enormen sozialen und kulturellen Veränderungen, die Folge des wissenschaftlichen Fortschritts und technologischer Innovationen sind. Im Vorbereitungsdokument zur Jugendsynode 2018 werden folgende negative Auswirkungen der Veränderungen im Hinblick auf das Erleben des Glaubens und die verschiedenen Formen des kirchlichen Lebens genannt: die Schwächung des Glaubens an christliche Werte, der schwindende Glaube an die Autorität des Lehramts, ein individualistisches Konzept der Kirchenzugehörigkeit, ein Nachlassen der Religionsausübung und mangelndes Engagement bei der Weitergabe des Glaubens an nachfolgende Generationen. Um dem entgegenzuwirken, hielt die Kirche in Afrika zwei Synoden ab, die historische Meilensteine bilden. Sie haben einen Beitrag zur pastoralen und missionarischen Erneuerung geleistet und verleihen der Realität der Synodalität in Afrika einen unverwechselbaren Stil.
Eine Kirche, die sich selbst als Familie Gottes versteht und ihren Auftrag nicht nur darin sieht, Entwicklung und Befreiung zu fördern, sondern auch gegen Ungerechtigkeit zu kämpfen, findet ihre Grundlage in der Unterscheidung der Geister. Das bedeutet, dass sie die Wirklichkeit kritisch beleuchtet und erforscht. Gerade in einer Zeit, in der die Kirche in Afrika die Rezeption des Dokuments zur Synodalität feiert, muss sie neu über ihre Rolle bei der Evangelisierung der »neuen Welten« nachdenken und diese neu definieren. Das gilt insbesondere im Blick auf pastorale Schwerpunkte wie zum Beispiel die Kirche als Gegenwart Christi, die Gesundheitsfürsorge, die Informationstechnik und Bildung. Es ist eine Frage der Gerechtigkeit und des Lesens der Zeichen der Zeit, für eine ganzheitliche Entwicklung einzutreten. Diese Fragen müssen in der Pfarrgemeinde im Rahmen Kleiner Christlicher Gemeinschaften diskutiert und umgesetzt werden.
Aus afrikanischer Sicht gilt es immer auch für die folgenden Themen sensibel zu sein: gute Staatsführung, die Sorgen von Migranten, Vertriebenen und Flüchtlingen, die Globalisierung und internationale Entwicklungszusammenarbeit. Daher braucht die Kirche in Afrika eine größere Solidarität und Synodalität im Handeln auf allen Ebenen. Vor diesem Hintergrund stellen wir fest, dass die Wertschätzung, die Offenheit für den Fortbestand der Lehren der Kirchen – und dabei vor allem für ihre soziale Dimension und den pastoralen und evangelischen Eifer – sowie ein von Respekt getragener dialogischer Ansatz entscheidende Voraussetzungen für die Stärkung von Solidarität und Synodalität sind. Ist dies gegeben, wird für die Kirche in Afrika eine neue Epoche möglich, vergleichbar einem kairos. Es braucht dafür »Antennen « für die Zeichen der Zeit und Urteilsvermögen sowie den Willen, die »neuen Welten« im Einklang mit den Werten und Eigenschaften des Königreichs Gottes zu transformieren.
Weil mit dem Thema Synodalität gerade auch die Rolle der Ortskirche im Vordergrund steht, ist ihre Kontextualisierung in Afrika unvermeidlich. Es muss unser Ziel sein, von den Hausgeistlichen an Universitäten und Bildungszentren zur Etablierung vollwertiger Seelsorgezentren überzugehen. Das gilt gegebenenfalls auch für andere »neue Welten«. Ohne die Aufgaben der Pfarrgemeinden zu beschneiden, wird dies eine Kultur des akademischen und von Respekt geprägten Dialogs fördern. Im synodalen Geist und getragen von der pastoralen und missionarischen Erneuerung müssen die Seelsorgezentren mit den Pfarrgemeinden Schritt halten, um den Anforderungen der Neuevangelisierung Rechnung zu tragen. Als Voraussetzung für eine Evangelisierung im Geiste der Synodalität heißt es, sich für Versöhnung, Gerechtigkeit und Frieden einzusetzen. In Afrika bedeutet das konkret, sich mit guter Führung, ethischem Bewusstsein und der Soziallehre der Kirche auseinanderzusetzen. Darauf aufbauend wird es möglich, neue Pastoralpläne auszuarbeiten, die das Herz der Menschen in Afrika ansprechen und sie befähigen, durch die Nachfolge Christi zu einer Aussöhnung mit sich selbst zu gelangen. Es ist das Wirken des Heiligen Geistes, das den Eifer, Enthusiasmus und Mut verleiht, den synodalen Charakter der Kirche zu leben und den Glauben in neuer Frische und Stärke wieder im Alltag der Gesellschaft zu verankern.
Es ist unbedingt zu betonen, dass das Dokument der theologischen Kommission zur Synodalität keineswegs revolutionär, sondern vielmehr ein Ausdruck der Entwicklung im theologischen Diskurs ist. Seine Autorität erlangt es nicht im Bruch, sondern in der Kontinuität mit der Vergangenheit. Es will eine offenkundig fehlende theologisch verankerte Position zur Synodalität im Licht des Zweiten Vatikanischen Konzils besetzen. Darüber hinaus gibt es im Dokument eine Reihe von Aussagen, die vor allem im Hinblick auf Konzept, Grundlage und theologischen Inhalt der Synodalität neue Maßstäbe setzen. Im afrikanischen Kontext sollte Synodalität unter anderem die zu evangelisierenden »neuen Welten« einschließen – nämlich die Kirche als eine dynamische Einheit, Gesundheit, Kommunikationsmittel und Bildung. Der synodale Charakter der Kirche in Afrika – wie auch anderswo – gibt Zeugnis von der Herrlichkeit Gottes und motiviert uns, selbst zu Trägerinnen und Trägern der Evangelisierung zu werden. Die Kirche in Afrika muss erkennen, dass sie Gottes Volk auf dem Weg ist, ebenso wie sie Leib Christi und Tempel des Heiligen Geistes ist. Gleichzeitig wird sie ein spirituelles Gespür dafür entwickeln müssen, nah am Leben der Menschen zu sein – so nah, dass sie sich mit ihnen in ihren Herausforderungen, ihrem Ringen und ihren Sehnsüchten identifiziert. Aus diesem synodalen Geist heraus sollte sich unsere Herangehensweise und unser Umgang mit der Welt bestimmen.