von Christian Tauchner
Mission ist etwas Wesentliches für die Kirche, erkannte das Zweite Vatikanische Konzil. Dabei hat sich der Akzent verschoben: Vor einem Jahrhundert verstand sich die Kirche noch als eine Arche Noah zum Seelenheil, heute engagieren sich die Jüngerinnen und Jünger für eine gerechte, barmherzige und menschliche Welt. Sie verstehen sich als Mitarbeiter/-innen Gottes gemeinsam mit vielen anderen Menschen.
Christian Tauchner
ist Steyler Missionar mit langjähriger Tätigkeit im Medienbereich im In- und Ausland; seit 2016 ist er Direktor des Steyler Missionswissenschaftlichen Instituts in St. Augustin
Auf dem Hochchor der großen Kirche im Missionshaus St. Gabriel (Maria Enzersdorf, Österreich) ließ der Gründer der Steyler Missionare, Arnold Janssen, um 1900 ein großflächiges Mosaik erstellen. Es zeigt eine Weltkarte: Wo seinerzeit der Hochaltar stand und heute die Orgel, werden Europa und die Nordhalbkugel mit dem zaristischen – also christlichen – Russland in grünlicher Farbe dargestellt, in Ockertönen Asien, mit China und Indien. Afrika ist der schwarze Kontinent. In einer ungewöhnlichen Projektion liegt der amerikanische Kontinent quer. Das Zentrum der Rosette macht ein Quadrat aus, in dem auf den Sendungsauftrag aus dem Matthäusevangelium angespielt wird: »Euntes in mundum universum praedicate evangelium omni creaturae« (hinausgehend in die ganze Welt, in das Universum, predigt das Evangelium aller Kreatur – der lateinische Text gibt den Bibeltext eher frei wieder). Und es wird eine Arche Noah gezeigt, die die Geretteten über die Fluten in den Himmel bringt. Ergänzt wird das Mosaik durch die Symbole der vier Evangelisten in den Ecken, ein Regenbogen rahmt die ganze Weltdarstellung: das Friedenszeichen Gottes. Das Mosaik setzt sich im Rundgang außerhalb des Hochchors fort und zeigt dort mit Sternzeichen das »Universum« an – ein Verständnis von wahrhaft universaler Mission: Die Erde ist nicht genug. Eine Festschrift des Jahres 1900 beschrieb mit diesem Bild die Aufgabe der Missionare: »Sie sollen alle in die heilige Kirche, die zweite rettende Arche, einführen.« An dieser Stelle der Missionshauskirche legten zahlreiche junge Missionare ihre Gelübde ab und wurden geweiht. Von dort zogen sie mit ihren »Missionskreuzen « in fremde, weit entfernte Länder aus (Link ).
Mich beeindruckt unglaublich, dass von dort – und vielen anderen Missionshauskirchen – damals junge Missionare auf Nimmerwiedersehen auszogen, manche von ihnen zum Beispiel nach Togo. Sie wussten, dass sie dort wahrscheinlich nur einige Monate überleben würden, eventuell zwei oder drei Jahre, dann würden sie von unerklärlichen und tödlichen Krankheiten hingerafft. Vielleicht würden sie ein paar Kinder taufen und damit »retten« können – kein wirklicher Missionserfolg. Trotzdem zogen sie aus zu ihrer Mission. Ich kann mir kaum jemanden vorstellen, der sich heutzutage auf eine solche Mission einlassen würde. Am ehesten noch Ärzte, die sich um Ebolakranke kümmern…
In den 120 Jahren seither hat sich sehr viel geändert in Welt und Kirche. Zwei Weltkriege beendeten zahllose Utopien und zeigten, zu welcher Unmenschlichkeit und Barbarei die Menschen fähig sind. Gerade auch jene, die sich für zivilisatorische Höhepunkte hielten. Die Kirche brach aus ihrer Ghettomentalität aus und öffnete sich einem zunehmenden Optimismus der Entwicklung gegenüber – bis hin zu Populorum progressio von Paul VI. 1967 und der Auffassung, dass »Entwicklung der neue Name für Friede« ist (PP 76). Im Zweiten Vatikanischen Konzil wurden dafür die Grundlagen gelegt und bestätigt, mit einer optimistischen und gläubigen Weltsicht, die von »Freude und Hoffnung« ausging und sich eine konstruktive Mitarbeit an der Gestaltung der Gesellschaft zumutete.
Das Konzil war eine neue Erfahrung auch darin, dass zum ersten Mal eine viel weitere Welt daran teilnahm und es auch wesentlich prägte. Die zahlreichen »Missionsbischöfe« brachten ihre pastoralen Fragestellungen und pragmatischen Sichtweisen ein.
Eines der am längsten diskutierten Konzilsdokumente hatte genau mit der Frage der Mission zu tun. Die vatikanische Vorbereitung wollte sich dazu auf einige kirchenrechtliche Absätze und Verfügungen für die Missionsgebiete beschränken, aber sehr bald forderte das Konzil ein ausführliches Dokument mit einer grundlegend theologischen Ausrichtung. Die Geschichte des »Missionsdekrets« (Ad gentes – AG) ist hinlänglich bekannt: Wegen des neuen Kirchenverständnisses sollte es kein eigenes Missionsdekret geben. Ein Kapitel in der Kirchenkonstitution sollte das Thema behandeln, dann doch eine Erklärung, schließlich ein Dekret, das in der letzten Session angenommen wurde. Von den teilweise heftigen Auseinandersetzungen zeugen die Brüche im Dokument, zwischen einer kreativen theologischen Sicht, die unter der wesentlichen Mitwirkung von Joseph Ratzinger erarbeitet wurde, und den Rückfällen in eine geografisch enggeführte Mission ab dem zweiten Kapitel (»Die eigentliche Missionsarbeit «, behauptet der Text).
Im ersten Kapitel von AG wagt das Konzil eine weite Perspektive. Die Sichtweise geht von Gott selbst aus, der als Dynamik und Gemeinschaft verstanden wird: »Die pilgernde Kirche ist ihrem Wesen nach ›missionarisch‹ (das heißt als Gesandte unterwegs), da sie selbst ihren Ursprung aus der Sendung des Sohnes und der Sendung des Heiligen Geistes herleitet gemäß dem Plan Gottes des Vaters« (AG 2, mit Verweis auf Lumen gentium 2). Mission ist also eine umfassende Dynamik von Gott her und auf Gott hin, die Kirche ist in diese Bewegung hineingenommen. Deswegen dieses »wesentlich « zur Selbstbestimmung der Kirche. Das ist übrigens eine der wenigen Aussagen über die Kirche, die von einem »Wesen« spricht.
Zur Erkenntnis dieses »Wesens« in der Mission führt ein langer Weg. Seit dem Zeitalter der großen Entdeckungen im 15. und 16. Jahrhundert hatte sich der Horizont Europas unglaublich erweitert und damit auch die Möglichkeit zum Kolonialismus. Aus der Überzeugung, einen Höchststand zivilisatorischer und kultureller Entwicklung erreicht zu haben, ergab sich für Europa der Auftrag, anderen Ländern und Völkern diese Normen anzubieten und aufzuzwingen. Die Kirche spielte dabei eine wichtige Rolle, denn nach den ersten Vorstößen von Händlern und Truppen folgten die Missionare, oft um sich dauerhaft niederzulassen. Bald formulierten die Missionare auch den Widerspruch – der Protest Montesinos erhebt sich keine 20 Jahre nach der »Entdeckung « Amerikas. Später ergreift Bartolomé de Las Casas das Wort, dann die Reduktionen der Jesuiten und andere Orden als Freiraum von kolonialer Unterdrückung. Andere versuchten, sich fremden Kulturen anzunähern – zum Beispiel Matteo Ricci. Die Verbindung zwischen Kolonialmächten und Missionaren war allerdings nicht selbstverständlich: Seit der Gründung der »Kongregation für die Verbreitung des Glaubens« 1622 wurden die Missionare ermahnt, sich nicht zu Vertretern ihrer Herkunftsländer zu machen: »Hütet euch, diese Völker auf irgendeine Weise zu bestimmen, ihre Zeremonien, Gebräuche und Sitten zu ändern… Denn lässt sich etwas Ungereimteres denken, als Frankreich, Spanien, Italien oder sonst ein Land Europas nach China verpflanzen zu wollen? Nicht unsere Sitten müssen wir in dieses Reich tragen, sondern den Glauben …« (in einer Instruktion von 1659 an das Pariser Missionsseminar).
Die Konkurrenz zwischen dem Deutschen Reich und Frankreich als »Schutzmacht« aller Missionare in China führte zu dauernden Konflikten. Als daher vor 100 Jahren Papst Benedikt XV. in Maximum illud (MI) forderte, die Rückbindungen an Kolonialmächte aufzugeben, musste das eine großartige Befreiung sein: »Begreift daher, dass zu jedem von Euch der Herr gesagt hat: ›Vergiss dein Volk und dein Vaterhaus!‹ (Ps 44,11) und denkt daran, dass Ihr nicht ein Menschenreich auszubreiten habt, sondern das Reich Christi; dass Ihr nicht für das Vaterland hier auf Erden Bürger zu werben habt, sondern für das Vaterland, das droben ist.« Denn ein Missionar »als Agent seiner Heimat « könnte »leicht […] zur Meinung verführen, der christliche Glaube sei die Landesreligion irgendeiner ausländischen Nation«. Der Missionar ist aber »auf keinen Fall ein Gesandter seiner Nation, sondern ein Gesandter Christi« (MI 9). Daher suchen sie »keinen andern Vorteil als den der Seelen« (MI 10).
Mission wird also in den Zusammenhang von Seelenheil und Reich Gottes gestellt. Maximum illud betont nicht einmal eine Zentralität der Kirche, dass also die Mission die Kirche ausbreiten sollte.
Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil verbindet sich die Mission mit dem Prozess der »Evangelisierung«. Der Begriff wird in AG 6 eingeführt. Gemeint ist damit die Verkündigung, die sich besonders seit dem Konzil wesentlich mehr an der Bibel ausrichtet als etwa an ethischen Anweisungen rechtlicher Natur.
Das große Dokument über die Evangelisierung Evangelii nuntiandi (1975) stammt von Paul VI. Darin beschreibt er viele Prozesse und Tätigkeiten als »Evangelisierung «, wie zum Beispiel: Jesus ist selbst das Evangelium (EN 7); Heilung von Kranken als Zeichen (EN 12); Verkündigung – vor allem eine Erfahrung von Gnade (EN 14); Begegnung mit Kulturen (EN 20); Zeugnis, Anwesenheit und Solidarität (EN 21); Rechenschaft über die Hoffnung (EN 22, nach 1 Petr 3,15); Befreiung (EN 29f.); Engagement für Frieden und Gerechtigkeit (EN 31); Dialog mit anderen Religionen (EN 53); Engagement für Bildung (EN 79). Evangelisierung und Mission sind also nicht nur Tätigkeiten, sondern schließen auch kontemplative Elemente wie die Erfahrung der Gnade und interreligiösen Dialog ein.
Um die Jahrtausendwende rückte ein Missionsverständnis in den Vordergrund, das auf die Sichtweise von Ad gentes 2 zurückgriff und es mit dem Begriff der Mission Gottes, der missio Dei, verdeutlichte. Ihm liegt eine Herausforderung und Voraussetzung des Glaubens und eine kontemplative Weltsicht zugrunde. Mission wird darin weniger als Handeln und Wirken des Menschen oder der Kirche verstanden, sondern als ein Hineingenommensein in eine weitere, göttliche Dynamik.
Wenn es denn stimmt und geglaubt werden kann, dass Gott die Welt in Händen hält und seine Schöpfung auf ein gutes Ende hinführt – in unserer Alltagserfahrung spricht allerdings sehr viel dagegen – und wenn der Handlungsraum Gottes prinzipiell die ganze Welt ist und nicht auf die Kirche beschränkt werden kann, dann muss und darf der Gläubige davon ausgehen, dass der Geist Gottes Menschen überall auf der Welt dazu bewegt, das Gute zu tun und richtig zu handeln. Er macht sie zu seinen Mitarbeitern, innerhalb der Kirche und außerhalb. Das verschiebt Grenzen: Es geht nicht darum, zur Kirche zu gehören und damit zum Heil Zugang zu bekommen (im Bild des Hochchors von St. Gabriel: in der rettenden Arche zu sitzen), sondern Gott gefällig leben und handeln ist der entscheidende Punkt. Die Gleichnisrede von Mt 25 mit dem Weltgericht geht in diese Richtung: »Weil ihr mich als euren Nächsten behandelt habt, kommt ihr ins ewige Leben!« Und leidvoll wissen wir, dass innerhalb der Kirche und bei uns selbst dieses Kriterium des nächstenliebenden Handelns nicht selbstverständlich ist.
Der christliche Glaube an einen guten Gott wird noch weiter provoziert und herausgefordert, wenn man annimmt, dass Gott jeden Menschen – sein Geschöpf, sein Kind, weil er erkenntlich geworden ist als lieber Vater – weltweit und von Anfang an bedingungslos liebt und daher an sich zieht und in Freiheit zum Heil führt (darüber gibt es innerchristlich erhebliche Bedenken, weil damit offenbar die Notwendigkeit der Bekehrung und des Christusbekenntnisses ausgehebelt erscheint).
Tatsächlich wird einer solch glaubenden Sicht auf die Mission vorgeworfen, dass die Kirchen und Missionare ja nichts mehr an Zeugnis- und Bekehrungsarbeit zu leisten hätten, wenn ohnehin Gott alle Menschen zum Heil führt. Man darf diese geheimnisvolle Glaubenstatsache aber etwas dialektischer sehen: Weil Gott so heilend handelt und gehandelt hat, ist das Engagement der Gläubigen überhaupt erst sinnvoll und möglich. Auch sehr aktive Missionare zu jeder Zeit waren sich immer bewusst, dass die Bekehrung, Umkehr und Annahme des Christentums eine von Gottes Geist geschenkte Gnade ist. Weil also Gottes Geist wirkt, kann Mission betrieben werden, kann man andere Menschen in die Gemeinschaft der Jünger/-innen Jesu einladen.
Diese kontemplative Weltsicht und das damit zusammenhängende Sich-von-Gott-in-Dienst-nehmen- Lassen wird von der Spiritualität der Jesuiten meiner Meinung nach besonders gefördert. Ihre Exerzitien sind ein tägliches sich Zurücknehmen und eine Suche danach, wo der Jünger oder die Jüngerin das Handeln Gottes im eigenen Umfeld erkennen kann und soll und sich dann dort entschieden auf die Seite Gottes stellt im Engagement für Gerechtigkeit, Menschlichkeit, Solidarität und Barmherzigkeit. Dann wird es überhaupt erst möglich, sinnvoll so zu handeln, als ob alles von mir abhinge und es keinen Gott gäbe, weil aufgrund des Handelns Gottes ja schon längst alles so gefügt wird, wie Gott es letztlich will, und daher nichts von mir abhängt. Zweifellos eine spirituelle und missionarische Gratwanderung.
Papst Franziskus hat diese engagierte Gelassenheit wieder in den Vordergrund gebracht, diesmal auf gesamtkirchlicher Ebene. In seiner Antrittsenzyklika und in ungezählten Wortmeldungen und Handlungen geht es ihm ständig darum, das Evangelium in den Vordergrund zu stellen. Aber eben nicht als eine lästige Pflicht und einen ethischen Imperativ, sondern als Angebot einer attraktiven Lebensoption: Er glaube, viele Menschen »suchen Gott insgeheim, bewegt von der Sehnsucht nach seinem Angesicht, auch in Ländern alter christlicher Tradition. Alle haben das Recht, das Evangelium zu empfangen. Die Christen haben die Pflicht, es ausnahmslos allen zu verkünden, nicht wie jemand, der eine neue Verpflichtung auferlegt, sondern wie jemand, der eine Freude teilt, einen schönen Horizont aufzeigt, ein erstrebenswertes Festmahl anbietet. Die Kirche wächst nicht durch Proselytismus, sondern ›durch Anziehung‹« (EG 14).
Daher ist es auch klar, dass die Kirche nicht eine societas perfecta errichtet, sondern die bunte Schar von Getauften ist, die sich unter den Geist stellt und jeden Tag danach fragt, was der gute Geist Gottes von ihr will und wohin er sie sanft drängt. Diese Perspektive ergibt sich für Franziskus aus seiner jesuitischen Tradition und einer Kirche, die in Aparecida 2007 das Vertrauen auf die Jüngerinnen und Jünger bekräftigte, die aus ihren engen Gemeindegrenzen hinausdrängen und sich in der von Gott selber vorangetriebenen Weltgestaltung und -veränderung engagieren. Die Taufe und tägliche Hinwendung zu Gott sind dafür die selbstverständliche Basis für Sendung und Mission.
Mit dem Missionsmonat Oktober 2019 sollen solche Akzentsetzungen die Mission zu einem Wesenszug der Gläubigen und der ganzen Kirche machen.
In der Missionshauskirche in St. Gabriel prägte das Bild auf dem Hochchor lange die Missionsvorstellung, ganz im theologischen und missionarischen Kontext der Vergangenheit. Im Jahr 1993 wurde die Perspektive umgestellt: Beim Ausgang hinten in der Kirche wurde ein »Sendungsaltar« aufgestellt – vielleicht schon eine Vorwegnahme der Forderung von Papst Franziskus, dass die Kirche aufbrechen und hinausgehen muss, auch wenn sie vielleicht verbeult werden kann (vgl. EG 20; 49 und öfter).
Der Altar stellt im Zentrum die Dreifaltigkeit dar und zeigt mit den vier Evangelien die Koordinaten der Welt an. Die Mission besteht im Hinhören auf das lebende Wort Gottes, in Gemeinschaft und im gemeinsamen Handeln an einer Weltveränderung, die dazu führen soll, dass alle Menschen in ihrer Verschiedenheit an einem gemeinsamen Tisch teilnehmen können. »Seht, ich mache alles neu!« (Apk 21,5) – das ist der Horizont für das Leben derer, die getauft und gesandt sind.