Pentekostalismus

Dein Reich komme

Neo-pentekostale Megakirchen, religiöse Utopien und postsäkulare Konflikte

von Esther Berg-Chan

Seit den 1960er Jahren ist im pfingstlich-charismatischen Feld ein Wandel hin zu einem aktiveren Engagement in Welt und Gesellschaft zu beobachten: Immer mehr pfingstlich-charismatische Gemeinschaften formulieren Visionen gesellschaftlicher Transformation. Vorreiter dieser Entwicklung sind unabhängige, neo-pentekostale Gemeinschaften, deren Gesellschafts- und Zukunftsentwürfe um die Verteidigung beziehungsweise Verbreitung traditioneller Wertvorstellungen kreisen. Ihre Umsetzung birgt Konfliktpotenzial und wirft ein Licht auf wichtige gesellschaftliche und politische Herausforderungen unserer Zeit, die Esther Berg-Chan mithilfe des Begriffs »postsäkulare Konflikte« der Soziologin Kristina Stoeckl skizziert.

Autorin

Esther Berg-Chan

Dr. phil., ist Religionswissenschaftlerin und Referentin für den Bereich Erwachsenenbildung der Diözese Rottenburg-Stuttgart

Berg-Chans Studium und Forschung in Religionswissenschaft, Ostasienwissenschaften und Transcultural Studies führten sie nach Heidelberg, Taipeh und Singapur. Es folgte eine mehrjährige wissenschaftliche Tätigkeit am Institut für Weltkirche und Mission (Frankfurt am Main).

 

 

Ukraine, Winter 2004

In Kiew brechen sich nach dem Bekanntwerden massiver Wahlfälschungen während der Präsidentschaftswahl Proteste Bahn. Zehntausende Demonstranten ziehen durch die Straßen. Die Stadt versinkt in einem Meer aus orangefarbenen Bändern, Schals und Fahnen, der Farbe des unterlegenen Präsidentschaftskandidaten. Mitten im Zentrum der Stadt, auf dem Unabhängigkeitsplatz, errichtet die Gemeinde der neo-pentekostalen Megakirche Embassy of God des gebürtigen Nigerianers Sunday Adelaja ein Zelt. Mitglieder der Gemeinde versorgen die Protestierenden mit heißem Essen, warmer Kleidung und einem Platz zum Schlafen. Wie die anderen Demonstranten auch fordern sie eine Überprüfung des umstrittenen Wahlergebnisses. Aber nicht nur: Die Ukraine, so sind sie überzeugt, braucht nicht nur einen politischen Neuanfang, sondern auch eine umfassende spirituelle Erneuerung. Durch ihr öffentliches Engagement wollen die Gemeindemitglieder deshalb nicht nur faire Wahlen erreichen, sondern einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel anstoßen. Den Missionsbefehl aus dem Matthäusevangelium – »Geht nun hin und macht alle Nationen zu Jüngern« (Mt 28,19, Elberfelder Bibel) – versteht Adelaja wörtlich: Aufgabe der Glaubenden weltweit sei nicht nur die Bekehrung Einzelner, sondern die Transformation ganzer Nationen gemäß den »Prinzipien des Gottesreiches« (im Original: kingdom principles).

Seit Ende der 1990er Jahre hat die Kirchenleitung zahlreiche soziale Projekte initiiert, nicht selten in Zusammenarbeit mit dem Staat: Suppenküchen, Resozialisierungsprogramme für Obdachlose, ein Rehabilitierungsprogamm für Drogenabhängige und eine Beratungshotline, um nur einige Beispiele zu nennen. Zusätzlich ruft Adelaja Christen in der Ukraine und weltweit dazu auf, in allen Bereichen ihrer Gesellschaften aktiv zu werden, um so letztlich die ganze Gesellschaft »zu durchdringen, zu beeinflussen und zu verändern«, so schreibt er in seinem Buch Church Shift. Revolutionizing Your Faith, Church, and Life for the 21st Century. Ein genauerer Blick auf das Engagement der Kirche in der Ukraine macht deutlich, dass es bei der angestrebten gesellschaftlichen Transformation vor allem um die Verteidigung beziehungsweise Verbreitung traditioneller Wertvorstellungen rund um Ehe und Familie, Anfang und Ende des Lebens, Homosexualität etc. geht.

 

Singapur, Herbst 2013

Die Halle bebt. Auf der Bühne des Auditoriums im Suntec City Convention Centre spielt die Lobpreisband der neo-pentekostalen Megakirche City Harvest Church. Gut eine halbe Stunde später betritt Kong Hee (geb. 1964), Gründer und ehemaliger Seniorpastor der Kirche, die Bühne. Unter der Überschrift »Offenbarung über die 7 Berge« (Revelation of the 7 Mountains) legt er seine Vision einer Kirche dar, deren Mitglieder sich in allen Bereichen ihrer Gesellschaften einbringen und diese aktiv mitgestalten. Um das zu erreichen, sollen Christen äußerlich werden »wie die Welt« – erfolgreiche Geschäftsleute, Künstler, Lehrer, Politiker – und doch im Glauben eine innere Distanz zu ihr wahren. Vor allem in ihren Wertvorstellungen und ihrer Lebensgestaltung müssten sie sich von »der Welt« unterscheiden, um zwar »in der Welt«, aber nicht »von ihr« zu sein. Auf diese Weise werde es Christen gelingen, Gesellschaften gleichsam von innen heraus zu transformieren und so zur Verwirklichung des Reiches Gottes auf Erden beizutragen.

Wie im Fall der Embassy of God in der Ukraine hat auch die Gemeinde der City Harvest Church zahlreiche soziale Programme initiiert, zumeist organisiert durch die von der Kirchenleitung gegründeten Wohltätigkeitsorganisationen City Harvest Community Services Association und City Care. Und wie Adelaja geht es auch Kong in seinem Engagement um eine umfassende Transformation nicht nur Singapurs, sondern letztendlich der ganzen Welt: um die Etablierung einer weltweiten »Heiligen Gegenkultur« (Holy Counterculture). Und auch hier zeigt ein genauerer Blick auf das Engagement der Kirche, dass es dabei vor allem um eine Verteidigung beziehungsweise Verbreitung ähnlicher traditioneller Wertvorstellungen rund um Ehe und Familie, Anfang und Ende des Lebens, Homosexualität etc. geht, wie sie auch in Adelajas Vision einer gesellschaftlichen Transformation gemäß den Prinzipien des Gottesreiches im Zentrum stehen.

 

Gesellschaftliches Engagement

Ein ausgeprägtes gesellschaftliches Engagement: Das ist nicht unbedingt etwas, das man in Öffentlichkeit und Wissenschaft als erstes mit pentekostalen Gemeinschaften in Verbindung bringt. Lange Zeit standen pentekostale Gemeinschaften im Ruf, sich aus allen weltlichen Angelegenheiten so gut es geht herauszuhalten. »Weltliche Vergnügungen«, angefangen von aufwendiger Kleidung und Schmuck über den Konsum von Genussmitteln bis hin zum Besuch kultureller Veranstaltungen wie Theatervorstellungen oder Filmvorführungen, waren verpönt. Soziales Engagement beschränkte sich zumeist auf den engeren Kreis der eigenen Gemeinde; außerhalb davon war es der Bekehrungsmission untergeordnet. Nicht die nachhaltige Verbesserung gegenwärtiger Lebensbedingungen in der eigenen Gesellschaft oder gar der ganzen Welt, sondern die Rettung möglichst vieler Seelen vor der in naher Zukunft erwarteten Wiederkehr Christi war das Kerngeschäft früher pentekostaler Gemeinschaften. Geprägt waren sie dabei durch das Umfeld der evangelikalen Heiligungsbewegung und ein dort vorherrschendes pessimistisches Verständnis von sowie eine ablehnende Haltung gegenüber Welt und Gesellschaft, die erst durch die Wiederkehr Christi erlöst würden.

Bis heute folgen einige pfingstliche Gemeinschaften einer solchen Politik der Abgrenzung von der Welt. Ab den 1960er Jahren ist in dieser Hinsicht jedoch ein allgemeiner Wandel hin zum aktiven Engagement in Welt und Gesellschaft zu beobachten. Ähnliche Entwicklungen finden sich gleichzeitig auch in evangelikalen Kreisen. Begleitet wurde diese Hinwendung zum gesellschaftlichen Engagement von neueren Entwicklungen in der Theologie, die sich auf unterschiedliche Art und Weise an der Idee des Reiches Gottes auf Erden abarbeiten. An der Schnittstelle zu einer in den 1980er Jahren in evangelikalen und neo-pentekostalen Kreisen entstandenen neuen »praktischen Theologie« der »geistlichen Kriegsführung« (spiritual warfare) entstand daraus ab den 1990er Jahren ein neues Diskursfeld verschiedener sogenannter »Gottesreich-/ Herrschaftstheologien« (kingdom/dominion theologies). Ihnen ist gemein, dass sie, auf je unterschiedliche Art und Weise, auf eine Transformation von Welt und Gesellschaft hin zur Verwirklichung des Reiches Gottes auf Erden zielen.

»Progressive Pentecostals« nennen die Soziologen Donald E. Miller und Tetsunao Yamamori solche pentekostal- charismatischen Akteure, die sich in besonderer Weise in Welt und Gesellschaft engagieren. Vorreiter dieser neuen Entwicklung sind laut den Soziologen vor allem unabhängige, neo-pentekostale Kirchen an der Schnittstelle zwischen pentekostal-charismatischem und evangelikalem Feld, darunter viele Megakirchen. Auch die City Harvest Church in Singapur und die Embassy of God in Kiew gehören dazu.

 

Schlafende Riesen?

Der Begriff »Megakirche« etablierte sich in den 1970er und 1980er Jahren als Bezeichnung für eine bestimmte Art vornehmlich protestantischer Kirchen, die auf verschiedene Art und Weise durch ihre »Größe« (ihrer Gemeinden, Gebäude, Veranstaltungen, Angebotsvielfalt und Budgets) von sich reden machten. Vorläufer solcher großen und sehr großen Kirchen finden sich bereits ab dem 19. Jahrhundert. In großer Anzahl entstanden sie aber erst Mitte/Ende des 20. Jahrhunderts in den urbanen Regionen Amerikas, Afrikas und Asiens.

Inspiriert von der sogenannten Gemeindewachstumsbewegung um den amerikanischen Missiologen Donald McGavran (1897–1990) gaben und geben sich diese Kirchen zudem nicht damit zufrieden, einfach nur groß zu sein. Damals wie heute streben sie stets danach, immer noch größer zu werden. Von diesem Skaleneffekt des Großen und immer Größeren her rührt die Bezeichnung »Megakirche«. Die so entstehende Inszenierung des Großen und immer Größeren in den verschiedenen Zusammenhängen der Megakirche geschieht aus Sicht der Involvierten aber nicht um ihrer selbst willen. Wie der Anglist und Christentumsforscher Robbie B. H. Goh bemerkt, handelt es sich dabei um einen immer wieder aufs Neue vollzogenen performativen Akt, der über sich hinaus auf die Größe Gottes verweisen soll. Er spricht deshalb auch von der »Performanz des Großen« als dem kleinsten gemeinsamen Nenner der verschiedenen Megakirchen weltweit. Daneben hat sich die Zahl von mehr als 2.000 Besuchern pro Woche (BpW) als quantitative Landmarke eingebürgert. Im globalen Süden weisen Megakirchen aber nicht selten wesentlich höhere Besucherzahlen auf: Die City Harvest Church in Singapur soll aktuell (Stand 2017) circa 17.000, die Embassy of God in Kiew circa 25.000 und die derzeit größte Megakirche weltweit, die Yoido Full Gospel Church in Seoul, Südkorea, sogar circa 480.000 Besucher pro Woche zählen.

In seinem Buch Moral Ambition. Mobilization and Social Outreach in Evangelical Megachurches, erschienen 2011, beschreibt der Religionsanthropologe Omri Elisha evangelikale Megakirchen in den USA als »schlafende Riesen«. Ohne bereits eine Wertung zu implizieren, soll die Bezeichnung den Umstand beschreiben, dass zur Verfügung stehende Ressourcen (personell, finanziell etc.) und das gesellschaftliche Engagement dieser Gemeinden in einem auffälligen Missverhältnis stünden. Entsprechende Aktivitäten gingen meist auf Initiativen Einzelner zurück und würden von kleineren Gruppen innerhalb der Gemeinden vorangebracht. Megakirchen wie die Embassy of God oder City Harvest Church, beide an der Schnittstelle zwischen pentekostal-charismatischem und evangelikalem Feld verortet, werfen jedoch die Frage auf, inwieweit diese Beschreibung noch zutreffend ist. Oder anders formuliert: Hat die verstärkte Hinwendung zum gesellschaftlichen Engagement innerhalb der pentekostal-charismatischen und evangelikalen Felder die schlafenden Riesen geweckt? Und wenn ja: mit welchen Konsequenzen?

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FOTO: IGOR KOSTIN/CORBIS VIA GETTY IMAGES
Unterstützer von Viktor Yushchenko demonstrieren auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew im Winter 2004.
FOTO: MATTHIAS DEININGER
Eines der zwei Kirchengebäude der City Harvest Church in Singapur.