Pentekostalismus

Sonderfall Deutschland

Die Pfingstbewegung innerhalb des globalen Christentums

von Esther Berg-Chan

Der Pfingstbewegung eilt heute der Ruf voraus, die dynamischste Kraft innerhalb der globalen christlichen Landschaft zu sein. In Deutschland spielt sie bislang nur eine marginale Rolle. Erst seit Kurzem beginnen pentekostal-charismatische Gruppen und Migrationskirchen hier ein größeres öffentliches Interesse zu wecken. Vor diesem Hintergrund nimmt der Beitrag die Geschichte und Vielfalt der Pfingstbewegung in den Blick, fragt nach den Gründen für den Sonderfall Deutschland und stellt das Schwerpunktthema des vorliegenden Hefts vor.

Autorin

Esther Berg-Chan

Dr. phil., ist Religionswissenschaftlerin und Referentin für den Bereich Erwachsenenbildung der Diözese Rottenburg-Stuttgart

Berg-Chans Studium und Forschung in Religionswissenschaft, Ostasienwissenschaften und Transcultural Studies führten sie nach Heidelberg, Taipeh und Singapur. Es folgte eine mehrjährige wissenschaftliche Tätigkeit am Institut für Weltkirche und Mission (Frankfurt am Main).

 

 

Zwei Entwicklungen haben die globale christliche Landschaft in den letzten Jahrzehnten grundlegend verändert. Das ist zunächst die Verlagerung des geografischen Schwerpunkts der weltweiten Christenheit in den globalen Süden: Lebten verschiedenen Hochrechnungen zufolge Anfang des 20. Jahrhunderts noch mehr als 60 Prozent aller Christen weltweit in Europa, sollen es heute weniger als 30 Prozent sein. Die überwältigende Mehrheit aller Christen lebt heute in Afrika, Lateinamerika und der Region Asien-Pazifik. Der typische Christ, wenn es so etwas denn überhaupt gibt, ist damit heute aller Wahrscheinlichkeit nach eine junge Frau aus einem Dorf in Nigeria oder einer brasilianischen Favela, bringt der Historiker Philip Jenkins die Konsequenz dieser Entwicklung auf den Punkt. Und mehr noch: Diese junge Frau lebt aller Wahrscheinlichkeit nach eine pentekostal- charismatisch geprägte Religiosität. Denn das ist die zweite zentrale Entwicklung: eine zunehmende Pentekostalisierung oder auch Charismatisierung der globalen christlichen Landschaft. Gemeint ist damit nicht nur das rasante Wachstum pentekostal-charismatischer Gemeinschaften weltweit – vor allem aber in den Ländern des globalen Südens. Auch weite Teile der traditionellen protestantischen Kirchen wie auch der römisch- katholischen Kirche finden sich seit den 1960er Jahren von einer charismatischen Erneuerung erfasst.

Pentekostal-charismatische Gemeinschaften innerhalb und außerhalb der traditionellen Kirchen eilt heute der Ruf voraus, die dynamischste Kraft innerhalb der globalen christlichen Landschaft zu sein – nur dass nicht so ganz klar ist, was genau sich dahinter eigentlich verbirgt, wie der Religionssoziologe Heinrich Schäfer treffend bemerkt. Denn die Pfingstbewegung ist eben keine einheitliche Bewegung, sondern stellt sich vielmehr als ein schier unüberschaubar buntes Feld unterschiedlicher Strömungen, Vorstellungen, Praktiken und Gemeinschaften dar. Die enorme Wandlungsfähigkeit oder auch Flexibilität pentekostal-charismatischer Vorstellungen, Praktiken und Vergemeinschaftungsformen in der Anpassung an immer neue Zeit- und Kulturkontexte ist bemerkenswert und wird in der Wissenschaft als ein zentraler Faktor für die rasche Ausbreitung und erfolgreiche »Inkulturation« der Bewegung weltweit hervorgehoben.

 

Die globale Pfingstbewegung

Eine populäre Ursprungslegende verbindet die Entstehung der Pfingstbewegung mit einem Erweckungsereignis Anfang des 20. Jahrhunderts in der Azusa Street in Los Angeles. Ab 1906 kamen hier unter der Leitung des Predigers William Seymour (1870 –1922) Menschen aus aller Welt zusammen, um die Geisttaufe zu empfangen und »in Zungen« zu sprechen. Ähnliche Erweckungsereignisse finden sich Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in ganz unterschiedlichen Kontexten weltweit von Korea über Indien bis Chile. Der Theologe Allan H. Anderson spricht deshalb auch von den polyzentrischen Ursprüngen der Pfingstbewegung. Über persönliche Briefwechsel, Reisende und die Zeitschrift der Azusa Street Mission (der »Apostolic Faith«) verbreitete sich die Kunde von dem Erweckungsereignis in Los Angeles rasch in aller Welt. Ähnliche Ereignisse rund um den Globus wurden in der Folge als Teil ein und derselben weltumspannenden Erweckungsbewegung gedeutet und unter dem Namen »Pfingstbewegung« zusammengefasst.

Wie die Religionswissenschaftler Jörg Haustein und Michael Bergunder in ihren Arbeiten zeigen, verdankt sich die Erfolgsgeschichte der frühen Pfingstbewegung maßgeblich den bereits bestehenden Netzwerken der Glaubensmissionen und Erweckungsbewegungen des 18. und 19. Jahrhunderts. Das 19. Jahrhundert war die Blütezeit evangelikaler Missionsaktivitäten in aller Welt. Neue Transport- und Kommunikationstechnologien brachten die Welt im Laufe des 19. Jahrhunderts näher zusammen. Diese Entwicklungen ermöglichten nicht nur die Entstehung überregionaler Handelsbeziehungen und die Verwirklichung kolonialer Projekte, sondern auch die Etablierung weltweiter Missionsnetzwerke. In ihnen konnte sich die Kunde von Azusa Street überhaupt erst so schnell in aller Welt verbreiten und so die Idee einer zusammenhängenden, weltumspannenden Erweckungsbewegung entstehen. Auch stammten die meisten der frühen Pfingstler aus dem Umfeld der evangelikalen Heiligungs- und Heilungsbewegung. Damit ist die frühe Pfingstbewegung gleichsam aus der evangelikalen Heiligungs- und Heilungsbewegung hervorgegangen, gleichwohl ihr bis heute aus den Reihen des Evangelikalismus auch die vehementesten Kritiker entgegentreten.

Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich die Pfingstbewegung von einem eher marginalen (und mitunter verspotteten) Phänomen zu einem etablierten Flügel des weltweiten Christentums. Zur gleichen Zeit verbreiteten sich pentekostale Vorstellungen und Praktiken zunehmend auch über die Grenzen der klassischen Pfingstkirchen hinaus; auch in den traditionellen Kirchen begann man, pentekostal geprägte Praktiken und Vorstellungen aufzugreifen. Die sich dort ab den 1960er Jahren formierenden Initiativen werden im Allgemeinen als »charismatische Bewegung« bezeichnet. In der römisch-katholischen Kirche fassten sie Ende der 1960er Jahre Fuß (in Deutschland Anfang der 1970er Jahre) und werden zumeist unter dem Stichwort »Charismatische Erneuerung« zusammengefasst.

Zeitgleich finden sich auch immer mehr unabhängige Gemeindegründungen, die sich als »Erneuerungsbewegung « innerhalb der bestehenden pentekostalcharismatischen Landschaft verstehen. Trotz ihrer theologischen und organisatorischen Verschiedenheit werden sie heute zunehmend als ein zusammenhängendes Phänomen wahrgenommen und unter dem Stichwort »Neo-Pentekostalismus« verhandelt. Innerhalb der klassischen Pfingstkirchen sind diese Gemeinschaften bisweilen höchst umstritten.

Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts lässt sich innerhalb der globalen christlichen Landschaft eine zunehmende Überschneidung evangelikaler und neo-pentekostaler Netzwerke beobachten. Weltweit zirkulierende Medien evangelikaler oder neo-pentekostaler Autoren oder Produzenten werden zunehmend in beiden Netzwerken rezipiert, Konferenzen oder Bibelschulen von Akteuren beider Netzwerke besucht. Die Anthropologin Jean DeBernardi spricht deshalb von einer neuen, zunehmend globalisierten Form eines populären evangelikal-charismatisch geprägten Christentums. Dennoch gibt es bis heute weiterhin Akteure und Gemeinschaften, die sich selbst als entweder ausschließlich evangelikal, pentekostal oder charismatisch verstehen und jede Form der »Grenzverwischung « oder auch ökumenischen Zusammenarbeit scharf kritisieren.

 

Theologische und soziale Vielfalt

Bis heute zeichnet sich das globale pfingstlich-charismatische Feld durch eine außerordentlich hohe organisatorische, theologische und soziale Vielfalt aus. Weder lässt sich ein gemeinsames institutionelles Zentrum noch ein theologischer (Minimal-)Konsens oder ein einheitliches sozioökonomisches Profil benennen. Es ist deshalb wenig verwunderlich, dass sich in der Wissenschaft bislang keine anerkannte Definition der Pfingstbewegung durchgesetzt hat. Ähnliches gilt übrigens in Teilen auch für das Feld des Evangelikalismus. Das bedeutet aber nicht, dass sich nicht zentrale Praktiken und Vorstellungen benennen lassen, die innerhalb pfingstlich-charismatischer Kreise als identitätsstiftend gelten (wenn sie auch je nach Kontext unterschiedlich verstanden und praktiziert werden), wie etwa die Geisttaufe, die Praxis der Geistesgaben, eine erfahrungs- und geistorientierte Frömmigkeit, eine hohe Laienpartizipation oder ein besonderer Fokus auf das Thema der und die Erfahrung von Heilung. Wie an anderer Stelle ausgeführt, lassen sich solche Merkmale als eine Art pentekostal-charismatische »Grammatik« begreifen, die sich je nach historischem und soziokulturellem Kontext unterschiedlich ausbuchstabiert findet und – zumindest potenziell – einem ständigen Wandel unterworfen ist.

Deutschland stellt sich angesichts dieser weltweiten Entwicklung als Sonderfall dar. Innerkirchliche wie unabhängige pentekostal-charismatische Gemeinschaften sind hier bis heute eine Randerscheinung geblieben. Die Gründe hierfür dürften vielfältig sein, so der Soziologe Heinrich Schäfer: Da wäre zum einen die traditionelle Vormachtstellung der etablierten Großkirchen innerhalb des religiösen Feldes in Deutschland, des Weiteren die Abfederung existentieller Unsicherheiten durch verschiedene soziale Systeme, aber auch eine enge Verknüpfung von Modernisierung, Rationalisierung und Säkularisierung. Im internationalen Vergleich spielt Religion für Menschen in Deutschland eine vergleichsweise geringe Rolle, in Ostdeutschland mehr noch als in Westdeutschland. Zu dem Ergebnis kommt der von der Bertelsmann-Stiftung herausgegebene Religionsmonitor aus dem Jahr 2013. Tatsache ist, dass die Anfänge der Pfingstbewegung in Deutschland Anfang des 20. Jahrhunderts sehr schnell von den etablierten Landeskirchen absorbiert beziehungsweise marginalisiert wurden. In Reaktion auf eine aus dem Ruder gelaufene pfingstliche Versammlung 1907 in Kassel (die Versammlung wurde von der Polizei aufgelöst), distanzierten sich die evangelischen Kirchen in Deutschland in der sogenannten Berliner Erklärung 1909 offiziell von der Pfingstbewegung. Sie sei, so könnte man die Erklärung salopp zusammenfassen, schlichtweg des Teufels und deshalb abzulehnen.[1] Zu einer erneuten Annäherung zwischen evangelischen Kirchen (beziehungsweise Deutscher Evangelischer Allianz) und Pfingstkirchen (beziehungsweise dem Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden) kam es erst in den späten 1990er Jahren.

In der Druckausgabe lesen    

FOTO: MATTHIAS DEININGER
Gebäude der pentekostal-charismatischen Megakirche New Creation Church in Singapur. Megakirchen bilden heute neben Konferenzen und Bibelschulen zentrale Knotenpunkte innerhalb der globalen Pfingstbewegung.
FOTO: MEHR-KONFERENZ
Die charismatisch geprägte »Mehr«-Konferenz, organisiert durch das Gebetshaus Augsburg, zog 2018 mehr als 10.000 Besucher an.
Pentekostalismus
Klaus Krämer / Klaus Vellguth (Hg.)

Anmerkung

[1] »Die sogen. [sic!] Pfingstbewegung ist nicht von oben, sondern von unten; sie hat viele Erscheinungen mit dem Spiritismus gemein. Es wirken in ihr Dämonen, welche, vom Satan mit List geleitet, Lüge und Wahrheit vermengen, um die Kinder Gottes zu verführen. In vielen Fällen haben sich die sogenannten ›Geistbegabten‹ nachträglich als besessen erwiesen.« Berliner Erklärung, Abschnitt 1, Buchstabe b, https://www.glopent.net/iak-pfingstbewegung/Members/GerhardBially/berliner-erklaerung     (Zugriff am 30.08.2019).