Interreligiöser Dialog

Bedroht durch Boko Haram

 

»Das Leben eines Nigerianers ist weniger wert als das eines Huhns«

von Michael Boni Bazza

übersetzt von Josephine Hörl

Im Nordosten Nigerias hat die islamistische Terrorgruppe Boko Haram in den vergangenen Jahren viele Kirchen zerstört, Christen ermordet und vertrieben. Manche Kirchenvertreter fühlen sich vom Rest des Landes alleingelassen. Sie fordern Unterstützung beim Wiederaufbau der Infrastruktur. Doch die Verfolgung durch die Islamisten hat auch zu einem Wachstum mancher Kirchen wie der »Ekklesiyar An’uwa a Nigeria« geführt.

Autor

Michael Boni Bazza

Dr. arts, war 22 Jahre als katholischer Priester, darunter auch in Maiduguri im Norden Nigerias, tätig. 2013 wurde er laisiert und damit aus dem Klerikerstand enthoben. Er promovierte in Militärgeschichte und  Internationale Beziehungen an der Nigeria Defence Academy in Kaduna, Nigeria. Derzeit arbeitet er als Dozent am Fachbereich für Geschichte und Internationale Beziehungen an der Veritas University Abuja

 

Seit fast drei Jahrzehnten bin ich in der katholischen Mission tätig. Ich komme aus Bazza im Regierungsbezirk Michika im nigerianischen Bundesstaat Adamawa. Das Volk im Nordosten Nigerias wurde von den verschiedenen Reichen, die das Gebiet in vorkolonialen Zeiten beherrscht haben, als friedliebend und unternehmungslustig bezeichnet. Es ist zweifellos eine Tatsache, dass die derzeitigen Sicherheitsherausforderungen in diesem Gebiet einen schädlichen Einfluss auf die psychologische Verfassung der dort lebenden Menschen und die dortige Wirtschaft haben. Im heutigen Nigeria können die Schwere und das Ausmaß der Zerstörung von Leben und Eigentum in diesem Gebiet nur mit der Zerstörung während des Nigerianischen Bürgerkriegs verglichen werden.

Der Nordosten als geopolitische Zone nimmt etwa ein Drittel der Landfläche Nigerias ein und umfasst sechs Bundesstaaten: Adamawa, Bauchi, Borno, Gombe, Taraba und Yobe. Laut Hochrechnungen des National Bureau of Statistics (NBS) leben in diesen Bundesstaaten 13,5 Prozent der Bevölkerung Nigerias, die insgesamt auf 188 Millionen geschätzt wird. Das Gebiet grenzt an drei Länder: im Osten an die Republik Kamerun, im Nordosten an die Republik Tschad und im Norden an die Republik Niger.

Obwohl das Gebiet einen beträchtlichen Anteil der nationalen Netto-Lebensmittelproduktion hervorbringt, zeigen die Statistiken des NBS, dass der Nordosten die schlimmsten sozioökonomischen Bedingungen im ganzen Land aufweist. Die dortige durchschnittliche Armutsrate von 69 Prozent liegt über dem Landesdurchschnitt von 60,9 Prozent und ist sogar die höchste Armutsrate in ganz Nigeria.

Der Nordosten spielt eine entscheidende Rolle für die nationale Sicherheit des Landes, da er lange Außengrenzen mit Kamerun, Tschad und der Republik Niger hat. Diese Schlüssellage hat tiefgreifende Auswirkungen auf die Sicherheitsstrategien des Landes in Bezug auf Einwanderungspolitik, Zollregelungen und Arbeitsgesetze.

 

Meine persönliche Geschichte

Ich verweise auf mein Buch »Boko Haram Terrorism: My Personal Story as a Victim…« (Auflage 2014) und auf die Erfahrung, die ich am 2. Januar 2020 gemacht habe, als die als »Boko Haram« bekannte islamistische Sekte in die Gemeinde Michika eingedrungen ist und ich mich inmitten eines Kreuzfeuers zwischen den Aufständischen und nigerianischen Soldaten wiederfand. Durch den intensiven Schusswechsel wurden die meisten Bewohner der Gemeinden Michika und Bazza in die Mandara- und Mokolo-Berge getrieben. Die alten Menschen, die die Berge nicht hinauflaufen konnten, mussten nach Westen ins Buschgebiet fliehen. Bei diesem Angriff wurden der Vorsitzende des Ortsverbandes Michika der Christian Association of Nigeria (CAN), Rev. Lawan Andimi Ndrimbita, meine Nichte Patricia Masuhala Tanda und ein Student des Borno State College of Preliminary Studies Bama (BOCOBS) sowie zwei weitere Mädchen und drei Jungen (alle aus der Gemeinde Bazza) von Boko Haram entführt. Glücklicherweise wurden alle bis auf den CAN-Vorsitzenden nach Zahlung eines Lösegelds am 15. Januar 2020 wieder freigelassen.

 

Zerstörung durch Boko Haram

Bei der Bewertung des zerstörerischen Wirkens durch Boko Haram im Nordosten Nigerias ist es wichtig, festzuhalten, dass die Church of the Brethren (CBM/EYN) und die Roman Catholic Mission (RCM) von 1942 bis Mitte der 1970er- Jahre im Nordosten ohne konkurrierende Missionsbewegungen wirkten. Aus diesen Gründen und aufgrund des Umstands, dass die zwei Missionen in Bezug auf Mitgliederzahlen und sozioökonomisches Engagement den stärksten Einfluss auf die Region hatten, stehen die beiden Missionen hier größtenteils im Mittelpunkt. Nichtsdestotrotz treffen die Aussagen, die über die CBM und die RCM getroffen werden, auch auf das zu, was andere Missionen durch die Aufständischen erlitten haben.

Zur Diözese Maiduguri gehören ganz Borno, Yobe und der nördliche Teil des Bundesstaates Adamawa. Laut einem neuen Bericht, in dem das Ausmaß der Grausamkeiten gegen Christen im Kernland der islamistischen Terrorgruppe Boko Haram eindrücklich geschildert wird, wurden mehr als 5.000 Katholiken im Nordosten Nigerias getötet und mindestens 100.000 vertrieben. Der Bericht über die Aktivitäten von Boko Haram in der Diözese Maiduguri führt weiterhin aus, dass mehr als 350 Kirchen in der Diözese angegriffen wurden, wobei zahlreiche von ihnen mehr als einmal verwüstet wurden. Da mehr als drei Viertel der Diözese unter Kontrolle von Boko Haram stehen, sind laut dem Bericht 22 der 40 Gemeindezentren und Kaplansämter in der Diözese verwaist und von den Terroristen besetzt. Der Bericht spricht von insgesamt 7.000 Witwen und 10.000 Waisen. Laut dem Leiter der sozialen Kommunikation der Diözese Maiduguri, Rev. Gideon Obasogie, sind die Schulen in der Diözese Maiduguri in besonderer Gefahr; im Bericht der Diözese steht, dass 32 der 40 Grundschulen verlassen sind. Die Vertreibung von Menschen ist in der Diözese ein sehr weit verbreitetes Phänomen. Der Bericht führt auf, dass 26 der 46 Priester in der Region ebenso wie 200 Katecheten und 30 Schwestern geflohen sind. Vier von fünf Klöstern in der Diözese sind geschlossen und viele Priester aus Maiduguri haben Zuflucht in der benachbarten Diözese Yola oder in anderen Diözesen überall im Land gesucht.

 

Die EYN im Nordosten

Im Folgenden wird auf einen Bericht der Katastrophenhilfe-Einrichtung der Ekklesiyar Yan’uwa a Nigeria (EYN, auch Church of the Brethren in Nigeria) mit dem Titel »Rebuilding Hope and Home« Bezug genommen: Die EYN ist mit über 350.000 Mitgliedern die größte nationale Kirche der Church of the Brethren weltweit. Sitz der Kirchenregierung ist Kwarhi in Mararaba Mubi. Seit 1959 wird ihre Arbeit von der Basler Mission in den USA unterstützt. In ihrer über 90-jährigen Geschichte hat die EYN einen besonderen Schwerpunkt auf die Bereiche Bildung, Gesundheit und Landwirtschaft gelegt. Des Weiteren ist die EYN in der Seelsorge engagiert. Ihre Arbeit konzentriert sich auf ländliche Entwicklung, grundlegende Gesundheitsleistungen, Alphabetisierung sowie HIV und AIDS. Die heutige EYN leidet jedoch unter den massiven Angriffen der militanten Gruppe Boko Haram.

Laut EYN hat Boko Haram insgesamt 1.125 Kirchengebäude und andere Einrichtungen während des jahrelangen Aufstands zerstört. Dazu gehört auch der Bürokomplex am Kirchenhauptsitz, der am 29. Oktober 2014 von Boko Haram zerstört wurde, so dass die EYN ihren Verwaltungssitz nach Jos (Bundesstaat Plateau) verlegen musste. Erfreulicherweise konnte die EYN 2016 an ihren ursprünglichen Sitz in Kwarhi zurückkehren, der wiederaufgebaut wurde, wobei ein großer Kirchensaal noch fertig gestellt werden muss und mit den Arbeiten an dem Wohnsitz für den Priester noch nicht begonnen wurde. Zur Situation der Kirche im Nordosten meinte der Präsident der EYN, Rev. Joel Billi: »Das Leben eines Nigerianers ist heutzutage weniger wert als das eines Huhns.« Seiner Ansicht nach ist es Zeit, dass die Christen in Nigeria sich verbünden, um die Regierung aufzufordern, die Gewalt zu beenden. Laut den Statistiken der Kirche sind von Juli bis Oktober 2018 mindestens 1.300 Soldaten getötet worden. In vier der 55 Bezirke der EYN liegt die Arbeit völlig brach, weil es in den Gebieten zu gefährlich ist, um pastoral tätig zu sein. Billi stellt in seinem Bericht abschließend fest, dass viele Kirchen keinerlei staatliche Hilfen zum Wiederaufbau bekommen haben und Brücken und Straßen weiter in Trümmern liegen; lediglich die Regierung des Bundesstaates Borno half beim Wiederaufbau von 15 EYN-Kirchen, die während des Aufstandes zerstört wurden.

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FOTO: FRITZ STARK
Eine Frau steht vor ihrem von Boko Haram zerstörten Haus nach den Unruhen vom November 2008 in Jos.
FOTO: FRITZ STARK
Eine christliche Frau begegnet drei muslimischen Frauen, die den Ganzkörperschleier tragen, auf den Straßen von Maiduguri.