Frieden und Zusammenhalt

»Der größte Lockdown der Welt«

 

Die Flucht der indischen Wanderarbeiter

von Tony Menezes

Übersetzt von Robert Bryce

Indien ist eines der am stärksten von der Corona-Pandemie gezeichneten Länder weltweit. In den Medien wurden Bilder von Abertausenden Wanderarbeiterinnen und -arbeitern gezeigt, die mit LKWs, Bussen oder zu Fuß aus den Städten fliehen, um dem Hungertod zu entkommen. Der abrupte Lockdown entzog ihnen schlagartig jede Möglichkeit, ein Einkommen zu erwirtschaften, von der Regierung wurden sie schlichtweg vergessen. Kirchliche Organisationen und Orden wie die Steyler Missionare haben in den vergangenen Wochen etwa 600.000 Menschen versorgt.

Autor

Tony Menezes

ist Priester der Steyler Missionare (Societas Verbi Divini, SVD) und Doktor für angewandte klinische Psychologie. Er leitet das im indischen Mumbai ansässige Atma Darshan, ein Zentrum für pyschologische Beratung und Spiritualität.

 

Sie liefen in der Hitze des Tages. Sie liefen in der Dunkelheit der Nacht. Sie liefen mit leerem Magen. Manche gingen barfuß. Einige brachen zusammen und starben. Aber sie liefen weiter. Tausende und Abertausende von ihnen. Noch zwei Monate zuvor hatten sie das Rückgrat der städtischen Wirtschaft gebildet: als Taxifahrer, Obst- und Gemüseverkäufer, Bauarbeiter, Hausangestellte und Dienstboten, Straßenköche, Kellner, Friseure, Installateure, Kfz-Mechaniker, Zeitungszusteller und vieles mehr. Diese Wanderarbeiter sind es, die als Teil ausgedehnter und weit verzweigter Netze dafür sorgen, dass das Leben in der Stadt funktioniert. Das alles änderte sich schlagartig am 24. März 2020, als der landesweite Covid-19-Lockdown für Indien beschlossen wurde – angekündigt als „größter Lockdown der Welt“. Innerhalb von nur vier Stunden trat er in Kraft. Bei rund 80 Millionen Wanderarbeitern, die zumeist in der Schattenwirtschaft arbeiteten, von der Hand in den Mund lebten und jetzt plötzlich ohne Einkommen dastanden, kam allerorten Panik auf. Den meisten von ihnen blieb nichts anderes übrig, als in ihre Heimatorte zurückzukehren.

 

Abwanderung aus den Städten

„Vor dem Virus tötet uns der Hunger.“ So oder ähnlich dachten die meisten Wanderarbeitnehmer, als ihre Jobs wegbrachen – und damit ihr tägliches Auskommen. Ohne Arbeit und damit ohne Geld für Nahrung oder Miete mussten die Wanderarbeiter Entscheidungen treffen, bei denen es buchstäblich um Leben oder Tod ging. Sie entschieden sich für das Leben. Das bedeutete eine mühsame Fahrt zurück in ihre Dörfer – eine Fahrt, die bis zu 1.500 Kilometer lang sein konnte. Manche fuhren mit Lkw, andere mit Kleintransportern oder mit dem Fahrrad, und viele mussten den Weg zu Fuß bestreiten. Es wurde von Menschen berichtet, die bis zu 500 Kilometer liefen, um ihre Heimatdörfer zu erreichen. Einige hatten Glück und nutzten die Zeit bis zur viel zu späten Ergreifung von Maßnahmen durch die Regierung, als die menschliche Tragödie bereits katastrophale Ausmaße angenommen hatte. Zu dem Zeitpunkt, als die Maßnahmen beschlossen wurden, waren bereits rund 200 Wanderarbeiter auf dem Weg in die Heimat gestorben. Das Bild der Wanderarbeiter hat sich als Symbol für den Covid-19-Lockdown in das kollektive Gedächtnis Indiens eingebrannt. Vor dem Hintergrund der Entscheidung dieser Menschen lassen sich Menschsein und Menschlichkeit in Indien besser verstehen. Diese Menschen und die zahlreichen weiteren auf den Straßen, an öffentlichen Orten oder in ihren ärmlichen Hütten, denen plötzlich der Hungertod drohte, erschüttern unsere für gesichert gehaltenen Überzeugungen und Einstellungen im Hinblick auf die Menschlichkeit: Wird sie von Gier und Gleichgültigkeit zersetzt oder wird sie von Mitgefühl getragen?

Genau dort, inmitten der verzweifelten Wanderarbeiter, die in Massen nach Hause strömten, war die Menschlichkeit spürbar. Zahlreich sind die Geschichten von Müttern, die tapfer lange Strecken mit ihren Kindern und Habseligkeiten zurücklegten. Schwangere Frauen schleppten sich dahin in der Hoffnung auf ein neues Leben. Man sah Männer, die ihre kranken und betagten Eltern auf dem Rücken trugen. Jyothi Kumari, ein Mädchen von gerade einmal 15 Jahren, fuhr mit dem Fahrrad 1.200 Kilometer zurück in ihr Dorf – mit ihrem kranken Vater auf dem Gepäckträger. Die angesichts der Lebensmittelknappheit verzweifelte Lage schweißte die Menschen entlang der Straße zusammen: Fremde teilten Essen und Geschichten, um sich gegenseitig zum Weitergehen zu motivieren. Und dann waren da noch die anderen. Einfache Menschen, die am Rande der Schnellstraßen leben und ihr Möglichstes dafür taten, um die müden und hungrigen Wanderarbeiter auf ihrem Heimweg zu versorgen. Und es gab die, die sich berührt von der Notlage von Tausenden zusammentaten, um beeindruckende Solidarität und Hilfsbereitschaft zu zeigen, obwohl sie selbst nur über wenig mehr als das Nötigste verfügten.

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FOTO: AMIT DAVE/REUTERS
Wanderarbeiter warten am 20. Mai 2020 in Ahmedabad, Indien, auf eine Mitfahrgelegenheit, um zum nächsten Bahnhof zu gelangen. Sie wollen mit dem Zug in ihren Heimatstaat Bihar fahren, nachdem der nationale Lockdown ausgerufen wurde.