von Stephan de Beer
übersetzt von Robert Bryce
In Südafrika wurde schon sehr früh ein strikter Lockdown verkündet, um die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen. Geschäfte, Universitäten und Schulen wurden geschlossen. Die Bevölkerung durfte das Haus nur verlassen, um notwendige Einkäufe zu tätigen. Doch wie begibt man sich in häusliche Quarantäne, wenn man keine eigene Unterkunft hat? Ein Team kirchlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Wissenschaftler und Nichtregierungsorganisationen hat zusammen mit der Stadt Tshwane (Pretoria) einen Notfallplan entwickelt, der auch nach der Pandemie dabei helfen soll, Obdachlosigkeit zu minimieren.
Stephan de Beer
ist Direktor des Centre for Faith and Community und außerordentlicher Professor für Praktische Theologie an der Fakultät für Theologie und Religion an der Universität von Pretoria, Südafrika. Als Stadttheologe (urban theologian) konzentrieren sich seine Forschungsinteressen auf den Glauben in der Stadt (Großstadtpastoral), Obdachlosigkeit, Wohnen und räumliche Gerechtigkeit sowie auf die theologische Ausbildung in Städten, insbesondere afrikanischen Städten.
In nahezu allen Bereichen der Gesellschaft legte Covid-19 bestehende Verwerfungen schonungslos offen, eröffnete gleichzeitig aber auch Chancen. Wie unter einem Brennglas zeigte sich die sozio-ökonomische Ungleichheit in den Städten Südafrikas noch deutlicher als zuvor. Der allgegenwärtige Hunger und die Obdachlosigkeit waren sichtbarer denn je.
In der Stadt Tshwane (Pretoria) entstand in Reaktion darauf eine kreative Zusammenarbeit zwischen der Kommune, dem Tshwane Homelessness Forum (Tshwane Obdachlosen Forum) und Wissenschaftlern verschiedener Universitäten. Das Forum ist ein zivilgesellschaftliches Netzwerk aus Nichtregierungsorganisationen (NGOs), im Glauben verankerten OrganisationenOrganisationen, Aktivisten, Wissenschaftlerinnen und kommunalen Vertretern, die gemeinsam die Maßnahmen gegen die Obdachlosigkeit in der Stadt koordinieren.
Seit 2015 arbeitet die Wissenschaft unter dem Leitsatz „Wege aus der Obdachlosigkeit“ daran, das Wissen über Obdachlosigkeit zu erweitern. Heute weiß man, dass viele Wege in die Obdachlosigkeit führen, und jede politische Maßnahme oder Strategie, die auf den deutlichen Abbau der Obdachlosigkeit abzielt, verschiedene Wege aus eben jener anbieten muss. Diese müssen auf die individuellen Bedürfnisse, Probleme und Hoffnungen der Menschen zugeschnitten sein.
Die Forschung in diesem Bereich bildete die Grundlage für die Ausarbeitung einer politischen Strategie zur Bekämpfung der Obdachlosigkeit in der Stadt, die im Juli 2019 offiziell verabschiedet wurde. Das Problem dabei war, dass für die Umsetzung der Strategie kein Budget bewilligt wurde, wodurch sie ein Papiertiger blieb.
So hatte die politische Strategie unter anderem die Schaffung eines Umsetzungsinstruments für ein gemeinsames Maßnahmenpaket zur Bekämpfung der Obdachlosigkeit in Tshwane vorgesehen. Dazu kam es jedoch nicht.
Als der südafrikanische Präsident den nationalen Lockdown verkündete, verfügte er auch, dass Obdachlose vorübergehend in Notunterkünften unterzubringen sind. Möglicherweise hatte man dem Präsidenten nicht gesagt, dass seine Regierung keine nationale Strategie zur Bekämpfung von Obdachlosigkeit hat und es in kaum einer Provinz oder Stadt Instrumente gibt, um staatliche Gelder gezielt in die Bekämpfung dieses Problems fließen zu lassen.
In Ermangelung eines fertigen Plans mussten die kommunalen Verwaltungen überstürzt eigene Krisenpläne entwickeln. In vielen südafrikanischen Städten mündete dies im Chaos.
Das war auch in Tshwane in den ersten Tagen nicht anders. Hastig wurde ein nicht mehr genutztes Fußballstadion für die Obdachlosen geöffnet, und innerhalb weniger Tage kamen 2.000 Menschen, die untergebracht und verpflegt werden mussten. Es standen jedoch nur Zelte, Matratzen und Verpflegung für gerade einmal 150 Personen zur Verfügung.
Vertreter von Zivilgesellschaft und Wissenschaft – auch aus unserem Centre for Faith and Community (Zentrum für Glaube und Gemeinschaft) – nahmen dies zum Anlass, die Kommune aufzufordern, tätig zu werden, ihrer Verantwortung gerecht zu werden und eine Plattform für gemeinsame Interventionen zu schaffen. Unser Zentrum erarbeitete für die Covid-19-Zeit einen Risikominderungsplan für Obdachlose, den die Stadt übernahm und der anschließend gemeinsam umgesetzt wurde.
In den Folgewochen wurden 23 provisorische Covid-19-Unterkünfte geöffnet, in denen mehr als 1.800 Obdachlose unterkamen. Diese Unterkünfte befinden sich in neun Kirchen, einem öffentlichen Park, auf zwei Sportplätzen und in einigen kommunalen Gemeindezentren. In Anbetracht dieses Ergebnisses sagte die Stadt inzwischen zu, unabhängig von Lockdown und Covid-19 1.200 neue dauerhafte Unterkünfte zu schaffen, um eine angemessene Unterbringung zu gewährleisten. Begleitet wird dies von psycho-sozialer Betreuung, Gesundheitsfürsorge und Ausbildungsangeboten. Es wurden bereits Räumlichkeiten für 900 neue Betten ermittelt, die Umbauarbeiten werden bald beginnen.
Inzwischen gibt es eine große Datenbank, in der 1.800 Obdachlose erfasst sind, die als Grundlage für die bestmögliche psycho-soziale und gesundheitliche Betreuung sowie die mögliche Schaffung weiterer Unterkünfte dient. Alle Betreuten erhielten Zugang zu medizinischer Grundversorgung und in vielen Fällen wurden bis dato nicht diagnostizierte Begleiterkrankungen festgestellt. Durch die Unterbringung in Notunterkünften entkamen diese Menschen erstmals seit Jahren dem Druck des Lebens auf der Straße und erhielten eine medizinische Betreuung. Bei einigen diagnostizierte man psychische Probleme, deren Behandlung ihnen bisher nicht möglich gewesen war. Was die Fakultät für Familienmedizin der Universität von Pretoria sich bisher nur erträumt hatte, wurde jetzt Realität: Zugang zu medizinischer Grundversorgung für die Mehrheit der obdachlosen Bevölkerung der Stadt.
Zwei neu geschaffene Einrichtungen bieten 55 Betten für ältere Obdachlose, die zu wenig Sozialhilfe beziehen, um sich eine bezahlbare Unterkunft leisten zu können. Diese bieten älteren Menschen eine sichere und dauerhafte Unterbringung.
Viele ältere Menschen wurden auch wieder mit ihren Familien vereint, in einigen Fällen nach 37 Jahren!
Die Kirchen, die ihre Räume geöffnet hatten, stellen sich inzwischen neuen Fragen zu ihrer eigenen Zukunft. Eine Kirche sagte bereits zu, einen Teil ihrer Räume langfristig als Obdachlosenunterkunft zur Verfügung zu stellen. Eine Zweite erwägt, Notschlafstellen anzubieten. Und eine dritte Kirche plant bereits, ihre gesamten Räumlichkeiten so umzubauen, dass sie künftig neben dem Sakralraum auch Sozial- und Notunterkünfte beherbergen.
In einem Stadtteil übernahm der Hauseigentümerverband die Verantwortung für die Betreuung von Obdachlosen in seinem Einzugsbereich. Dies soll auch nach Covid-19 so bleiben. Die meisten Hauseigentümerverbände taten bisher das genaue Gegenteil: Sie ergriffen drastische Maßnahmen, um Obdachlose zu vertreiben, ohne zu wissen, ob sie irgendwo unterkommen werden.
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