Kinderschutz

Kinderrechte in Kenia

 

Kampf gegen die weibliche Genitalverstümmelung

von Ephigenia Gachira
- übersetzt von Robert Bryce

Seit 22 Jahren setzen sich die Loreto-Schwestern in Kenia für die Abschaffung der weiblichen Genitalverstümmelung ein. Obwohl diese kulturelle Praxis schon lange gesetzlich verboten ist, hat sie in den Dorfgemeinschaften noch immer einen hohen sozialen Stellenwert. Schwester Ephigenia Gachiri hat einen alternativen, christlichen Initiationsritus entwickelt, der ohne körperliche Verstümmelung auskommt.

Autorin

Ephigenia Gachiri

ist promovierte Pädagogin und Aktivistin. Sie trat 1965 dem Institut der Seligen Jungfrau Maria (Loreto-Schwestern) bei. Gachiri hat vier Bücher über die Praxis der weiblichen Genitalverstümmelung geschrieben und vor der Kommission der Vereinten Nationen über den Status der Frau gesprochen.

 

Das Projekt unserer Loreto-Schwestern setzt sich für die Abschaffung der noch immer praktizierten Verstümmlung der weiblichen Genitalien ein. Mein Team und ich sind im Laufe unserer Arbeit zu der Erkenntnis gelangt: Auch nach einem Jahrhundert des christlichen Glaubens sind die Überzeugungen und Praktiken vieler Christinnen und Christen in Kenia noch stark von ihren traditionellen ethnischen Kulturen geprägt. Lange wurden diese Kulturen den menschlichen, mentalen und spirituellen Bedürfnissen ihrer Angehörigen gerecht – lange vor dem Eintreffen der westlichen Zivilisation, anderer Religionen und der modernen Wissenschaft. Für das Projekt ergab sich daraus, dass man zunächst die traditionelle Praxis der Frauenbeschneidung (Female Genital Mutilation, FGM) sowie das ihr zugrunde liegende Bedürfnis verstehen muss, bevor man sie durch eine Praxis ersetzt, die dieses Bedürfnis nach Initiation ebenfalls erfüllt, aber ohne körperliche Eingriffe auskommt. Traditionell war FGM ein wichtiger Bestandteil des Initiationsritus, der sich je nach ethnischer Gemeinschaft über mehrere Monate erstrecken konnte.

Das Team kam zu der Erkenntnis, dass die Stärke der traditionellen Kultur in ihrem Konzept der Wissensvermittlung liegt. Dabei werden zur Vermittlung von Werten alle fünf Sinne angesprochen. Die einem Jungen oder Mädchen vermittelten Werte sind alles, was er und sie für die Aufnahme als erwachsener Mann beziehungsweise erwachsene Frau in die Gemeinschaft braucht. In einer agrarischen Gemeinschaft muss ein erwachsenes Mädchen etwa Wissen über Aussaat, Ernte und die Aufbewahrung von Lebensmitteln haben. Wichtig ist auch, wie man Erwachsene anredet, wie man sich verhält, wie man kocht und singt und dass man die Geschichte des Stammes, Sprichwörter und Heilkräuter für die Behandlung von Krankheiten kennt. Für Viehhirtinnen ist es wichtig zu wissen, wie Kühe, Ziegen und Kamele gehütet werden. Die wichtigste Aufgabe besteht jedoch darin, in einer polygamen Familie eine gute Ehefrau und Schwiegertochter zu sein.

 

Der Ablauf des Initiationsritus

Die Initiationsritus-Anwärterinnen erhalten gutes Essen, ruhen sich aus und bekommen Zuspruch von Männern und Frauen, vor allem von möglichen Verehrern. Sie erhalten einen Namen für ihre Altersgruppe, der sie für immer aneinander bindet und einen Mentor. Wenn das Mädchen während des Rituals beschnitten wird und Schmerz spürt, erklärt man ihr, dass eine Frau bei der Geburt Schmerzen erleidet und dass sie als Ehefrau und Mutter auch schwere Zeiten durchleben wird. Sie erlebt Angst, sie wird gepriesen und beschenkt, sie fühlt sich angenommen und dem Stamm als vollwertiges Mitglied zugehörig. Diese Methode hat das Ziel, »den alten Menschen abzulegen« (Eph 4,22, Eph 2,15, Koll 3,9/11, Röm 6,6) und »sich erneuern zu lassen«. Im traditionellen Ritus soll das Kind im Mädchen »sterben, auf dass die Frau in ihm geboren wird«. Wer diesen Ritus durchlaufen hat, vergisst diese Erfahrung nie. Der Wert des traditionellen Initiationsritus ist es, der Anwärterin ihren Platz und ihre Pflichten in der Gemeinschaft zu vermitteln.

FGM ist dabei nur ein Ritual unter vielen im kompletten Initiationsritus. Heute ist es vielen Afrikanern nicht mehr möglich, die traditionellen Riten in Gänze zu durchlaufen. Manche möchten das auch nicht. Außerdem macht die Schulpflicht lange Abwesenheiten unmöglich. Heute beschränkt sich der Ritus oft auf die bloße »Beschneidung«. Jede traditionelle Praxis wird von vielen Säulen getragen, die es ihr ermöglichen, über Jahrtausende hinweg zu überdauern. Das sind Mythen, Tabus, Flüche, Sprichwörter, Geschichten, Legenden und Lieder. Sie dienen als Unterbau für die zu vermittelnden Werte und Bedürfnisse, die allen Menschen gleich sind – veranschaulicht etwa in der Maslowschen Bedürfnishierarchie: (1) Grundbedürfnisse wie Nahrung, Wasser, Luft, Kleidung, Unterkunft, (2) Sicherheitsbedürfnisse, (3) soziale Bedürfnisse wie Liebe und der Wunsch nach Zugehörigkeit, (4) Individualbedürfnisse und (5) das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung.

Afrikanische traditionelle Gesellschaften haben Praktiken entwickelt, um diesen Bedürfnissen Rechnung zu tragen – abhängig vom Wissensstand und den herrschenden Bedingungen. Wenn an die Stelle traditioneller Überzeugungen und Praktiken – wie zum Beispiel der FGM, die in Kenia seit mehr als 100 Jahren gesetzlich verboten ist und von der Kirche abgelehnt wird – christliche, wissenschaftliche, westliche Werte und Überzeugungen davon, was ein Kind ist und welche Rechte es hat, sowie die Grundsätze zur Wahrung dieser Werte treten sollen, ist Folgendes geboten: Man muss sich die Lehre Christi bezüglich des Kindes verinnerlichen, die von dessen Gottesebenbildlichkeit, vom Kind als Tempel des Heiligen Geistes und dessen Unsterblichkeit spricht. Wichtig ist auch, die Methode zu studieren, die in der katholischen Kirche beim Übergang in den Kreis der Erwachsenen genutzt wird – das Sakrament der Firmung – und sich bewusst zu machen, dass diese in erster Linie eine kognitive Methode ist.

 

Was ist die Rechtsgrundlage?

Die kulturelle Definition dessen, was ein Kind ist, wird in Kenia von der ethnischen Gruppe, vom Bildungsniveau und von der Herkunft der Person bestimmt. Die Tradition gibt vor, dass Kind ist, wer noch nicht den Initiationsritus durchlaufen oder geheiratet hat. Nach modernem Verständnis basiert die Definition von »Kind« auf den vielen Konventionen und Erklärungen, die Kenia unterzeichnet hat. Diesen zufolge gilt jede und jeder unter 18 Jahren als Kind. In der kenianischen Verfassung sind die Rechte von Kindern klar geregelt. Ob sie auch durchgesetzt werden, hängt jedoch davon ab, mit welchem Nachdruck sich die Vertreter der Staatsmacht um deren Einhaltung bemühen. In der kenianischen Verfassung ist der Schutz von Kindern vor Missbrauch, Vernachlässigung, schädlichen kulturellen Praktiken, allen Formen von Gewalt sowie gefährlicher oder ausbeuterischer Arbeit verankert. Der Prohibition of FGM Act 32 von 2011 sieht Strafen für alle vor, die ein Mädchen der FGM unterziehen. So heißt es in der Erklärung: »Keiner darf ein Kind einer weiblichen Genitalverstümmlung unterziehen, und jeder Verstoß gegen dieses Verbot wird als Straftat verfolgt und bei Verurteilung mit einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren oder einer Geldstrafe in Höhe von mindestens zweihunderttausend kenianischen Schillingen (rund 1.697 Euro) oder beidem geahndet.« Stirbt das beschnittene Mädchen, droht dem Beschneider eine lebenslange Haftstrafe.

Auf dieser Rechtsgrundlage gab es bereits eine Reihe von Urteilen und Freiheitsstrafen. Unsere Projektmitarbeiter vor Ort melden in jeder »Beschneidungssaison « mehrere Fälle. Ob diese strafrechtlich verfolgt werden, hängt stark vom Wissen und der Überzeugung der zuständigen Personen oder Stellen ab, dass FGM eine rechtswidrige Praxis ist oder nicht. Wir versuchen, Bewusstsein zu schaffen und so viele Älteste und Meinungsführer wie möglich über FGM aufzuklären, damit diese in ihren Dörfern für die Durchsetzung des Gesetzes sorgen.

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FOTO: FRITZ STARK
Schwester Ephigenia hat einen eigenen christlichen Initiationsritus für junge Mädchen entwickelt, der ohne die Praxis der weiblichen Genitalbeschneidung auskommt. Regelmäßig informiert sie junge Mädchen und Frauen in Schulungen über alternative Methoden.