Kinderschutz

Dienen mit Liebe in Nigeria

 

Den Opfern von Gewalt Leben ermöglichen

von Joseph Bature Fidelis

übersetzt von Robert Bryce

Frauen und Kinder sind im Norden Nigerias vielfältigen Formen von Missbrauch ausgesetzt. Das hat einerseits kulturelle Ursachen, andererseits trägt das Wüten der islamistischen Terrorgruppe Boko Haram seit zehn Jahren dazu bei, dass die Schwächsten der Gesellschaft zusätzlichen Gefahren ausgesetzt sind. Die Diözese Maiduguri hat kürzlich ein Zentrum für psychosoziale Betreuung und Traumabehandlung gegründet. Die Mitarbeiter versuchen, Gewaltopfern Sicherheit und eine Perspektive zu geben.

Autor

Joseph Bature Fidelis

ist katholischer Priester der Diözese Maiduguri und klinischer Psychologe. Er leitet das Zentrum für psychosoziale Betreuung und Traumabehandlung in Maiduguri, im nigerianischen Bundesstaat Borno. Zudem kooperiert er mit der Kommission für Gerechtigkeit, Entwicklung und Frieden, um den Binnenvertriebenen zu helfen, die Opfer des Boko-Haram-Konflikts sind.

 

Wenn einst in einer afrikanischen Familie ein Kind geboren wurde, strömten die Nachbarn herbei, um mit den Eltern zu feiern. Für den Mann ist es eine Erfüllung, den Stamm zu mehren und den Fortbestand seiner Familie zu sichern. Das bringt ihm Anerkennung. Die Frau feiert man wegen ihrer Fruchtbarkeit. Darin manifestiert sich die Wertschätzung für das Geschenk des Lebens und das neugeborene Kind. Während der Feierlichkeiten fragen die Verwandten nach dem Geschlecht des Kindes. Ist es ein Junge, wird gefeiert, dass mit ihm die Tradition und der Familienname weiterleben. Ist es ein Mädchen, feiert man sie als Trägerin der Tugend sowie als Quelle des Lebens und Brückenbauerin zwischen verschiedenen Stämmen. Das war die Stimmung, die die Geburt eines Kindes erzeugte, und oft haben wir in fröhlicher Runde getanzt. Als Kinder glaubten und erlebten wir, dass bei jeder Geburt gefeiert wurde und es in den Tagen danach immer reichlich zu essen und zu trinken gab.

Als wir größer wurden, stellten wir fest, dass bei den Mädchen im Alter von 13 Jahren die anfängliche Freude einem subtilen Wettbewerb um das Interesse der Männer weicht. Es kommt zu heftigen Intrigen. Um ihre Sanftmut, ihren Fleiß und ihre Schönheit entbrennt ein Wettstreit. Wem es gelingt, die Gunst der Stunde für sich zu nutzen, wird von Freunden und Verwandten gefeiert. Kaum ist die junge Frau aber vergeben, legt sich die Bewunderung für sie und der Wettstreit ebbt schnell ab. Mitunter – und traurig für sie – wird sie anschließend Opfer einer aggressiven männlichen Dominanz, bei der die Frau nicht als Partnerin, sondern als Arbeitskraft, nicht als Weggefährtin, sondern als Besitz angesehen wird.

 

Weibliche Tugend versus Eigentum

Diese Ironie – gleichzeitig als Quell des Lebens und Gegenstand des Besitzes statt als Subjekt gefeiert zu werden – ist nach wie vor fester Bestandteil der Realität. Es will einem nicht in den Kopf, warum Frauen dies erdulden müssen. Die Person, die gerade noch als Leuchtfeuer der Tugend und Brücke zu anderen Stämmen gefeiert wurde, deren Schönheit man bewunderte und um deren Vorzüge ihre Verehrer stritten, wird plötzlich zum Eigentum des Mannes, das nicht selten ausgebeutet wird und der Befriedigung seiner Bedürfnisse zu dienen hat. Was läuft da schief? Dass der Frau ihre Würde genommen wird und die Anbetung in eine besitzergreifende Haltung umschlägt, lässt viel zu wünschen übrig, was den Umgang mit Frauen und Mädchen in einigen nigerianischen Kulturen angeht, insbesondere im Norden. Eine Frau nicht als »Wesen« anzuerkennen, ist vielleicht gar nicht der springende Punkt. Vielmehr kommt es zu einer »kulturellen Mutation«, die den Wert der Frau als »Besitz« bemisst. Es herrscht die Unfähigkeit, die Bewunderung für die Tugenden und die Stellung einer Frau aufrechtzuerhalten. Stattdessen schrumpft die Bewunderung mit dem zunehmenden Alter der Frau und ihrer Entfaltung – ganz im Gegensatz zu ihren männlichen Pendants. Die Sozialisierung von Mann und Frau in derselben Gemeinschaft mündet in einem unterschiedlichen Stellenwert für beide. Während der Mann an Wertschätzung und Ehre gewinnt, ist bei der Frau das Gegenteil der Fall. Weil nicht betont und geschätzt wird, was die Frau ausmacht, wird sie zum Opfer ihrer Gesellschaft und Erziehung.

Ich wuchs in Nordnigeria auf und arbeite heute mit Opfern des Boko-Haram-Konflikts. Das hat mir viele Erfahrungen beschert, insbesondere im Hinblick auf die Stellung von Frauen und Kindern in der Gesellschaft. Das Paradox ist auch heute zu beobachten: Trotz einer Kultur der Bewunderung und Wertschätzung für Frauen und Kinder werden diese in der eigenen Heimat zu Opfern und Vertriebenen. Aus dem einst ruhigen familiären Umfeld wurde ein Land, in dem die Menschen als Binnenvertriebene leben. Nordnigeria verwandelt sich heute rasant in ein riesiges Flüchtlingslager. Opfer des Boko-Haram-Konflikts, Menschen, die von bewaffneten Fulani-Hirten aus ihren Häusern vertrieben wurden, Opfer von Auseinandersetzungen innerhalb von Gemeinden: All diese Menschen suchen verzweifelt nach einem Platz in leerstehenden Schulen, um dort notdürftig unterzukommen. Unter diesen Kriegsvertriebenen sind Frauen und Kinder der größten Gefährdung ausgesetzt. Auf ihrer Flucht werden sie erneut Opfer dieser Gesellschaft; traurig, aber leider wahr: Sie werden zur »Handelsware «, die von Terroristengruppen zum Sex, gegen Lebensmittel und andere Waren eingetauscht werden.

 

#BringBackOurGirls

Unsere Aufgabe besteht darin, Opfer von Traumatisierung und Misshandlung zu begleiten, die Folge kulturell bedingten Missbrauchs und der von Konflikten erzeugten Verwerfungen sind. Durch die Boko-Haram-Krise, die seit zehn Jahren Tod und Zerstörung in die Gemeinden im Nordosten Nigerias trägt, hat der Missbrauch von Frauen, insbesondere von Mädchen, ein dramatisches Ausmaß angenommen. Die Entführung der Chibok-Mädchen am 14. April 2014 sorgte für Schlagzeilen, die die Weltgemeinschaft erschütterten. Es ist so deprimierend, junge Mädchen zu sehen, die um eine Zukunft kämpften und auf brutalste Weise ihrer Träume beraubt wurden. Von diesen Mädchen konnten bisher nur 106 gerettet werden oder fliehen. Das Schicksal der anderen ist ungeklärt. Man vermutet, dass viele bereits als Teenager mit Terroristen verheiratet wurden oder bei Kampfhandlungen ums Leben kamen. Aber noch gibt es Hoffnung. Die #Bring BackOurGirls-Kampagne setzt sich weiter für sie ein. Auch die Gruppe #FreeLeah Sharibu kämpft unverdrossen weiter darum, das einzige christliche Mädchen zu retten, das nach der Entführung und späteren Freilassung der Dapchi-Mädchen im Februar 2018 Gefangene des ISWAP (Islamic State ofWest African Province) blieb.

 

Die »Gefahr« weiblicher Sexualität

Durch falsche Vorstellungen, Wahrnehmungen und kulturelle Praktiken sind Frauen und Kinder nach wie vor benachteiligt. Vielerorts werden Frauen Opfer von Gewalt und lange währender patriarchalischer Unterwerfung. Leider haben Frauen und Mädchen in einigen Teilen Nordnigerias einen geringeren Stellenwert als der Mann. Ein Bericht schildert das Klima, das in diesem Umfeld herrscht: »Weibliche Sexualität wird im Allgemeinen als mächtige und gefährliche Kraft wahrgenommen, als rücksichtslose Bedrohung der männlichen Spiritualität und der Familienehre. Sie gilt einfach als gefährliche Eigenschaft der Frau, die einer strengen Kontrolle bedarf.«[1] Diese Wahrnehmung des Weiblichen trug dazu bei, die Angst vor Frauen und Mädchen sowie die feindselige Haltung ihnen gegenüber zu steigern. Und sie dient dazu, ihre Unterwerfung zu rechtfertigen. Es wird postuliert, dass Frauen Pech und Misserfolg bringen. Um diesen »Fluch« zu bannen, sei es besser, unnachgiebig mit ihnen umzugehen. Diese Vorstellungen schaffen den Nährboden für die offenkundige Diskriminierung von Frauen und ihren Missbrauch, der sich in häuslicher Gewalt, körperlicher Gewalt, emotionalem Missbrauch oder – schlimmer noch – verstecktem sexuellen Missbrauch manifestiert. Um in diesem Umfeld Missbrauch und die mit ihm einhergehende Traumatisierung zu bekämpfen, bedarf es nicht nur der Bekämpfung des Terrorismus, sondern einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der Kultur.

Zu dieser subtilen kulturellen Mentalität und Praxis der Erniedrigung kommt noch das Wüten des Terrorismus hinzu. Die seit einem Jahrzehnt andauernde Boko- Haram-Krise in der Nordostregion hat das Ausmaß von Misshandlung und Missbrauch weiter verschärft. Seit ihrem Beginn ist eine Zunahme von Menschenhandel, sexueller Gewalt und Misshandlung von Frauen und Kindern zu verzeichnen. Auf ihrem Höhepunkt zwischen 2014 und 2018 kamen viele Menschen ums Leben, andere zwang man, für die Terroristen zu kämpfen, viele wurden entführt und als Sexsklaven missbraucht, andere als Geiseln zum Erpressen von Lösegeld gefangen gehalten und Millionen innerhalb des Landes vertrieben.

Im Zuge der Vertreibung wurden viele Familien auseinandergerissen, gingen Kinder verloren und büßten Eltern ihren Lebensunterhalt ein. Heute leben viele Kinder auf den Straßen von Maiduguri und betteln um Geld für Essen und Unterkunft. Diese Kinder drohen Opfer von Menschenhandel, Vernachlässigung, häuslicher Gewalt, sexuellem Missbrauch und Misshandlung zu werden. Von den zehn Millionen Kindern, die keine Schule besuchen, leben 75 Prozent im Norden – die meisten davon in Maiduguri.

 

Die Straßenkinder Maiduguris

Es ist erschütternd, wie viele Straßenkinder es in Maiduguri gibt – und dass dieser Umstand so gleichgültig hingenommen wird. Der Anblick dieser Kinder, die gezwungen sind, auf der Straße zu leben, zerreißt mir stets aufs Neue das Herz. Auf meinem Weg zur Arbeit komme ich jeden Morgen an Hunderten dieser Kinder vorbei. Jedes von ihnen trägt ein Schild, mit dem es um Essen bettelt. Die Kinder gehen auf fahrende Autos zu, um Almosen zu erbitten, und riskieren dabei, angefahren zu werden. Diese Kinder haben durch die Krise entweder ihre Eltern verloren oder leben in Lagern für Binnenvertriebene. Sie leiden unter Vernachlässigung und verschiedenen Formen des Missbrauchs. Nur wenige der Vorbeifahrenden haben ein Herz und geben ihnen 20 Naira (umgerechnet fünf Cent). Wenn die Morgenstunden vorüber sind und ein Kind keine Almosen bekommen hat, versucht es, Teller zu spülen, Feuerholz oder Holzkohle zu sammeln oder sich in den Restaurants der Umgebung etwas zusammenzubetteln. Für die Kinder ist das ein reiner Überlebenskampf. Ihnen wird die Würde eines anständigen Zuhauses, elterliche Fürsorge und das Recht auf Bildung verwehrt. Denkt unsere Gesellschaft angesichts dieses Elends eigentlich daran, wie die Zukunft aussehen soll?

 

Kinder als Familienernährer

Wir erleben, dass viele Eltern es sich nicht mehr leisten können, ihre Kinder zur Schule zu schicken. Stattdessen müssen sie in fremden Haushalten arbeiten, um ihre Eltern zu unterstützen oder Essen für die Familie zu besorgen. Viele der Kinder sind jetzt die Ernährer ihrer Familie – eine Last, die für ein Kind oft nicht zu tragen ist. Mitunter werden die Kinder in den Häusern, in denen sie arbeiten, auch geschlagen oder des Diebstahls bezichtigt.

Eine der Herausforderungen für unsere Mitbürger ist es daher, sich gegen häusliche Gewalt zu engagieren. Die Arbeit unter den Binnenvertriebenen, die in Lagern oder aufnehmenden Gemeinschaften leben, hat uns die Augen geöffnet für die Schrecken von Missbrauch und Misshandlung, die viele Kinder und Frauen durchleiden müssen. Eines angemessenen Lebensunterhalts und ihrer Heimat beraubt werden sie misshandelt, ausgebeutet und missbraucht. Mitunter begegnen uns Fälle von Mädchen im Teenageralter, die aus dem Haus ihrer Pflegeeltern geworfen und des Diebstahls von Geld bezichtigt werden. Um ihnen zu helfen, versuchen wir, sie sofort aus diesem toxischen Umfeld zu holen und bei entfernten Verwandten unterzubringen. Erschütternd sind auch Fälle von Zwangsehen, bei denen Mädchen verheiratet werden, die noch keine 16 Jahre alt sind.

 

Klinische Unterstützung

Als Diözese haben wir kürzlich ein Zentrum für psychosoziale Betreuung und Traumabehandlung gegründet. Es arbeitet mit der Kommission für Gerechtigkeit, Entwicklung und Frieden (Justice, Development and Peace Commission, JDPC) zusammen. Wir arbeiten vor Ort mit Binnenvertriebenen, die in Lagern und mitunter in aufnehmenden Gemeinschaften leben. Dort bieten wir für schutzbedürftige Menschen verschiedene Formen der psychologischen Unterstützung an. Es gibt viele Frauen und Mädchen, die Opfer von Missbrauch geworden sind. Diese begleiten und unterstützen wir – in spezialisierter und allgemeiner Form. Zudem schaffen wir ein Bewusstsein für die Eindämmung sexueller Gewalt. Das zeigt bereits Wirkung und trägt dazu bei, die Binnenvertriebenen zu unterstützen und ihnen das Leben zu erleichtern.

Es gibt Faktoren, die dem Missbrauch von Frauen und Kindern Vorschub leisten. Dazu zählt unter anderem die anhaltende Kultur des Schweigens, die unser Umfeld durchdringt. Die Vernachlässigung der Opfer durch die Gemeinschaft ist ein Faktor für diese Missbräuche und die Gewalt gegen die schutzbedürftigen Mitglieder unserer Gemeinschaft. Ein weiterer Faktor ist die Viktimisierung und Re-Traumatisierung der Opfer und deren anschließende Stigmatisierung. Die Opfer schweigen – weil sie bedroht werden oder sich schämen, über den Missbrauch zu berichten. Mitunter ist das Schweigen auch Folge der missbrauchsbedingten Traumatisierung. Schweigen herrscht auch seitens der Gemeinschaft, die mitunter von den Missbräuchen weiß, aber die Hilferufe der Opfer oft ignoriert, weil die bestehenden Gesetze nur lasch durchgesetzt werden. Oft haben wir Situationen erlebt, in denen die Eltern vom Missbrauch wussten, aber Angst hatten, den Täter damit zu konfrontieren. Die Folgelosigkeit seines Handelns hat es dem Täter dann ermöglicht, ungestraft weitere Missbräuche zu begehen.

Die Ignoranz seitens der Gemeinschaft manifestiert sich häufig in mangelnder Fürsorge. Kinder werden sich selbst überlassen. Die Konflikte zwischen Boko Haram und dem Hirtenvolk der Fulani haben das Gefühl des gesellschaftlichen Zusammenhalts und des Vertrauens in die Polizei geschwächt. Die Menschen kämpfen um das tägliche Überleben. Und für die Opfer ist das Überleben des Stärkeren bitterer Alltag. Eine katastrophale Wohnsituation und überfüllte Lager haben das Problem des Missbrauchs von Kindern und Frauen noch verschärft. Weil die Binnenvertriebenen ihrem Schicksal überlassen bleiben oder lediglich Essen erhalten und mehr schlecht als recht untergebracht werden, bleiben ihre Schutzbedürfnisse oft außen vor. Einige wenige nichtstaatliche Organisationen, die in diesem Bereich psychische und psychosoziale Betreuung leisten, tragen dazu bei, die Lage ein wenig zu entspannen. Dank ihrer Hilfe erhalten einige Opfer die dringend notwendige Fürsorge.

 

Re-Traumatisierung

Auch die Viktimisierung und Re-Traumatisierung der Opfer ist ein schwer zu bewältigendes Problem. Diese Boko-Haram-Krise ist die erste, bei der so viele Menschen vertrieben wurden. Und mehr als 1,3 der 2,6 Millionen Binnenvertriebenen in Nigeria leben im Bundesstaat Borno. Der Umstand, dass Lebensmittel in den aufnehmenden Gemeinschaften selbst knapp sind, macht die Lage unerträglich. Es fehlt an Platz und Ressourcen, um zu überleben; oft überlassen Familien ihre Schutzbefohlenen ihrem Schicksal oder Frauen leben in den überfüllten Unterkünften ihrer Verwandten. In den aufnehmenden Gemeinschaften erfahren die Vertriebenen oft eine schlechte Behandlung. Es ist bittere Realität, dass Sex gegen Essen und Obdach getauscht wird. Die Opfer von Vertreibung erfahren damit eine weitere Form von Traumatisierung und Gewalt – diesmal von »wohlwollenden Raubtieren«, die vorgeben, sie würden Hilfe leisten, im Gegenzug die Opfer aber sexuell ausbeuten. Eng einher mit dieser erneuten Viktimisierung und Traumatisierung geht das Stigma, als Opfer bekannt zu sein. Viele haben Angst, denunziert, verspottet oder in Schamgefühle getrieben zu werden. Deshalb schweigen sie und verharren still in ihrem unermesslichen Leid. Dieses Leid manifestiert sich oft in Flashbacks (Rückblenden), seltsamen sexualisierten Verhaltensweisen, gewalttätigen Ausbrüchen und Problemen, zwischenmenschliche Beziehungen zu pflegen.

 

Kirche als Ort der Heilung

Das erschwert die Arbeit mit Opfern und anderen Personen. Die Aufklärung und Sensibilisierung, die wir in den Kirchen und Lagern betreiben, geben einigen den Mut, sich an uns zu wenden und sich helfen zu lassen. Viele suchen nach einer Erklärung für ihre Probleme, andere schöpfen Mut und sprechen sich aus. In diesem Umfeld zu arbeiten, bedeutet für uns, in die täglichen Kämpfe unserer Landsleute einzutauchen. Ebenso wichtig ist es, sich ihre Geschichte anzuhören. Das schafft Vertrauen und eröffnet Raum für Heilung. Wenn man den Schmerz und die Frustration der Betroffenen kennt, versteht man auch deren Sehnsucht nach Veränderung. Die Menschen wollen zur Normalität zurückkehren und fordern ihr Recht auf Unversehrtheit ein. Wenn wir auf Menschen treffen, deren Verwundbarkeit ausgenutzt wird, bieten wir ihnen Orte an, an denen sie in Sicherheit leben können. Oft schließt das einen Wechsel der Schule in Maiduguri, die Herstellung der Verbindung zu Verwandten oder sogar einer Pflegefamilie ein, um sie speziell vor sexueller Gewalt zu schützen.

 

Dienen mit Liebe

Unsere Hilfsangebote sind von christlichen Werten geprägt. Es stimmt, dass wir humanitäre Dienste in Form psychosozialer Unterstützung leisten. Als Kirche sind wir jedoch ein Volk des Glaubens. Unser Glaube und unsere Liebe für die ganzheitliche Entwicklung des Menschen wurzeln in der christlichen Anthropologie und den Lehren Christi. Wir bemühen uns nicht nur, die Leiden der Menschen zu lindern. Vielmehr dienen wir mit Liebe. Wir tragen dazu bei, dass die Menschen ihr Potenzial entfalten können. Ein ganzheitliches Konzept im Umgang mit den Opfern heißt, ihnen zu helfen, die ihnen von Gott verliehene Würde wiederzuentdecken. Wir versuchen, ihnen begreiflich zu machen, dass es nicht die erniedrigende Situation ist, die sie definiert. Ihr täglicher Kampf ist ein Kampf gegen das Böse. Ein gutes Leben zu führen, bedeutet daher, die Fülle der Gottesebenbildlichkeit zu leben.

Mit viel Leidenschaft begleiten wir sie auf ihrer Suche nach Lösungen und nach Frieden. Sie zu begleiten, heißt nicht, für sie die Initiative zu übernehmen. Häufig glaubt man in solchen Situationen fälschlicherweise, die Opfer seien hilflos und selbst nicht in der Lage, eine Lösung für ihre Probleme zu finden. Ganz im Gegenteil! In all den Jahren habe ich festgestellt, dass diese Menschen tragfähige Konzepte und gute Lösungen haben. Was fehlt, ist oft das Umfeld, das dazu beiträgt, diese Widerstandskraft entstehen zu lassen. Und genau dort brauchen die Menschen unsere Unterstützung! Unsere Freude ist groß, wenn wir die vielen Frauen und Kinder sehen, die trotz der widrigen Umstände dafür kämpfen, dass sich ihre Lage bessert. Das ist für uns Mission und Berufung zugleich.

FOTO: HARTMUT SCHWARZBACH/MISSIO AACHEN
Die Geburt eines Kindes ist immer Anlass zur Freude. Ist es ein Junge, wird er gefeiert, weil durch ihn der Familienname weiterleben wird. Ist es ein Mädchen, feiert man sie als Trägerin der Tugend und als Quelle des Lebens.
FOTO: HARTMUT SCHWARZBACH/MISSIO AACHEN
Kinder sollten Kinder sein dürfen, unabhängig davon, ob sie weiblich oder männlich sind. Leider kommt es oft zu einer »kulturellen Verschiebung des Geschlechterverständnisses «, sobald die Kinder zu Erwachsenen heranreifen.
FOTO: PRIVAT
Joseph Bature Fidelis besucht die vertriebenen Binnenflüchtlingskinder, mit denen er arbeitet, in Maiduguri. Das Camp wird von der Kommission für Gerechtigkeit, Entwicklung und Frieden der Diözese von Maiduguri verwaltet.
FOTO: HARTMUT SCHWARZBACH/MISSIO AACHEN
Besonders in Maiduguri, im Norden Nigerias, gibt es viele obdachlose Straßenkinder, die auf sich allein gestellt sind. Sie können nicht auf die fürsorgliche Unterstützung durch Eltern zählen, sondern müssen durch das Betteln auf der Straße oder den Verkauf von dem, was sie auf Müllhalden finden, Geld verdienen.
FOTO: HARTMUT SCHWARZBACH/MISSIO AACHEN
Die Kirche ist auch in prekären Zeiten wie dem anhaltenden Terror unter Boko Haram an der Seite der Menschen, insbesondere von Frauen und Kindern, die unter Misshandlung und Gewalt leiden. Durch psychologische Beratung und Unterstützung werden die Familien in ihrem Heilungsprozess begleitet.

Anmerkung

1 Atta Barkindo/Benjamin Gudaku/Caroline Wesley, Our Bodies, Their Battle Ground. Boko Haram and Gender Based Violence Against Christian Women and Children in North-Eastern Nigeria since 1999, 2013, S. 14.