von Karolin Kuhn
Im Kinderschutzzentrum an der Päpstlichen Universität Gregoriana haben Laien und Priester aus vielen Ländern der Erde Gelegenheit, sich fortzubilden, um nach der Rückkehr an ihre Einsatzorte wirksame Maßnahmen zum Schutz von Kindern durchzuführen. Beim gemeinsamen Lernen zeigt sich, dass die Voraussetzungen, über Sexualität und Missbrauch zu sprechen, weltweit sehr unterschiedlich sind und Maßnahmen, die in einem Land sinnvoll sind, sich in einem anderen negativ auswirken können. Neben Mut und einem langen Atem braucht es daher vor allem Kultursensibilität, um Kinderschutz in Gesellschaften zu etablieren.
Die Gerhardinger-Schwester (Arme Schulschwestern von Unserer Lieben Frau, SSND) stammt aus München. Als Sozialpädagogin, Gymnasiallehrerin und promovierte Theologin arbeitete sie zunächst als Lehrerin, später als Schulleiterin am Theresia-Gerhardinger-Gymnasium am Anger, bis sie 2018 an das Centre for Child Protection (CCP) der Päpstlichen Universität Gregoriana nach Rom ging. Dort unterrichtet sie in den Präsenzstudiengängen und engagiert sich in der pädagogischen Weiterentwicklung der verschiedenen Aus- und Fortbildungsangebote.
»Children should be seen, but not heard. – Kinder sollen gesehen, aber nicht gehört werden«, so eine kulturelle Überzeugung in der Mehrzahl der asiatischen, ozeanischen, lateinamerikanischen und afrikanischen Länder, aus denen viele unserer Studentinnen und Studenten am Kinderschutzzentrum (Centre for Child Protection, CCP) der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom kommen. Ein Kind soll sichtbar sein und damit wohlerzogen unter den wachsamen Augen von Familie und Dorf- oder Stadtgemeinschaft. Es soll nicht gehört werden; es soll sich nicht in die Gespräche und Angelegenheiten der Erwachsenen einmischen, sondern deren Weisheit und Autorität trauen und ihren Worten Folge leisten. Disziplin und Gehorsam sollen dabei oft über Sanktionen gesichert werden, die je nach Familie und Kultur verbale Zurechtweisung, körperliche Züchtigung oder Strafen bis hin zum Essensentzug beinhalten können. Hinter diesen Vorstellungen und Praktiken steht oft der tiefe Wunsch, die Kinder zu ehrenhaften, respektvollen und produktiven Mitgliedern der Gesellschaft zu erziehen und sie vor den Gefahren der Welt wie Kriminalität und Drogenkonsum, Teenagerschwangerschaften und Ausbeutung zu schützen.
Schwester Jane Nway Nway, eine Schwester vom Guten Hirten aus Myanmar, die im Juni 2020 ihr Lizenziat in Safeguarding bei uns abschloss, sieht in der Einstellung der Menschen, dass Kinder gesehen, aber nicht gehört werden sollten, sogar die größte Herausforderung für den Kinderschutz in ihrem Land. Um trotz der sehr beschränkten Ressourcen dort etwas verändern zu können, gelte es vor allem, diese Überzeugung anzugehen und den Menschen aufzuzeigen, dass Kinder nicht behandelt werden sollten, als ob sie weniger wert seien und grundsätzlich nichts zu sagen hätten.
Schon dieses eine Beispiel zeigt, vor welcher Herausforderung der Kinderschutz weltweit steht. Denn auch wenn fast alle Länder die UN-Kinderrechtskonvention unterzeichnet haben, unterscheidet sich der Blick auf das Kind von Kultur zu Kultur fundamental. So gibt es beispielsweise kein fixes Alter, an dem Kinder oder Jugendliche zu Erwachsenen werden. In manchen Kulturen, wie beispielsweise in Angola, markieren Übergangsrituale im Alter von zwölf oder 13 Jahren den neuen Lebensabschnitt. In anderen ist es völlig normal oder zumindest nach wie vor gängige Praxis, 13-, 14- oder 15-Jährige zu verheiraten. Wie lässt sich einem vierzigjährigen Mann vermitteln, dass er sexuellen Kindesmissbrauch begeht, wenn er mit einer 14-Jährigen schläft, obschon er diese legal und traditionell geduldet problemlos heiraten könnte?
Aktiver Kinderschutz muss, wenn er die Rechte und Sicherheit der Kinder schützen und zugleich kulturell sensibel herangehen möchte, die lokalen Ressourcen nutzen und die Werte und Überzeugungen der Menschen wertschätzend einbeziehen. Dennoch greift echter, gelebter Kinderschutz in bestehende Praktiken ein – bestärkend, herausfordernd, verändernd – und das weltweit. Wenn man bedenkt, dass die Europäische Union seit Jahren eine Internetaktion One in five (Eines von fünf) betreibt, die herausstellt, dass zumindest jedes fünfte Kind in Europa vor dem 18. Geburtstag Opfer sexueller Gewalt wird, ist es nach wie vor erschreckend wenig, was europaweit in Richtung Aufklärung, Prävention und zielgerichteter Intervention geschieht. Wie viel schwerer noch ist die Ausgangssituation in Ländern, in denen die Menschen um ihr Überleben kämpfen, um Essen und Wohnung, um Sicherheit vor Krieg und Vertreibung, um Bildung und Gesundheitsvorsorge. Kinderschutz wird so leicht zu einem weiteren, wichtigen, aber letztlich zusätzlichen, ja sogar überfordernden Thema.
Am Kinderschutzzentrum (CCP) bieten wir neben Vorträgen und Onlineschulungen zwei residenzielle Programme an, um für die weltweite Kirche Kinderschutzspezialistinnen und -spezialisten auszubilden. Die Studierenden, die von allen Kontinenten stammen, setzen sich aus Laien, darunter Ordensangehörige, sowie Priestern zusammen. Manche sind Lehrkräfte oder Psychotherapeuten, andere Theologinnen, wieder andere Kirchenrechtler bzw. Rechtsexperten, Sozialarbeiterinnen oder Fachkräfte aus dem medizinischen Bereich. So unterschiedlich die Muttersprachen, Lebenserfahrungen und professionellen Hintergründe auch sind, sie eint, dass sie von ihren Diözesen, Einrichtungen oder Ordensgemeinschaften gesandt sind und in sich die Motivation verspüren, sich aktiv für den Kinderschutz und die Missbrauchsprävention einzusetzen.
Das ist mutig, ja oft visionär, vor allem wenn man bedenkt, dass in vielen Ländern Sexualität tabuisiert wird und daher die Beschäftigung mit sexuellem Missbrauch und seinen Folgen noch viel schwieriger und gesellschaftlich wie kirchlich herausfordernder ist. Auch die Auseinandersetzung mit Strukturen, die Missbrauch aller Art befördern, Täter decken oder die Organisationen anstelle der Betroffenen schützen, braucht Klarheit, Mut, Selbstbewusstsein und einen langen Atem.
Auf diese Herausforderungen versuchen wir unsere Studierenden durch einen einsemestrigen Kurs vorzubereiten, in dem sie sich die interdisziplinären Grundlagen des Kinderschutzes aneignen und im Licht multidisziplinärer Theorie und Praxis immer wieder auf ihre Realität und Kultur blicken können, um sich der Ressourcen zu vergewissern, die Schwachpunkte zu benennen und kulturell angemessene und sensible Veränderungsmöglichkeiten und -wege zu entwickeln. Mit weiteren drei Semestern können die Studierenden das Lizenziat in Safeguarding erwerben. Mit diesem kirchlich und weltlich anerkannten Abschluss werden sie befähigt, in ihren Einrichtungen, Diözesen oder Ordensgemeinschaften als Präventions- oder Interventionsbeauftragte zu wirken, je nachdem, welche der beiden Spezialisierungen sie wählen. Das bedeutet, dass sie die nötigen Kompetenzen erwerben, um Kinderschutzstellen und multidisziplinäre Teams zu leiten. Dazu gehören die Analyse von Risiko- und Schutzfaktoren in Diözesen, Kongregationen und Einrichtungen, die Entwicklung und lokale Adaption von Schutzkonzepten, die Vorbereitung und Durchführung von Schulungsprogrammen zur Prävention, die Ausgestaltung von Abläufen bei Verdachtsfällen und Anzeigen, die Koordination von Unterstützungs- und Hilfsangeboten für primär und sekundär Betroffene. So tragen sie zum Aufbau von dem Kinderschutz förderlichen Einstellungen, Verhaltensweisen und Organisationsstrukturen bei.
So ist es das Ziel des CCP, die Studierenden zu einem Einsatz zu befähigen, der kulturell sensibel, kritisch, mutig, herausfordernd und bestärkend zum Kinderschutz beiträgt. Dazu bedarf es weit mehr als rein kognitiven Wissens. Es bedarf fachlicher, persönlicher und kultureller Kompetenz, die nur wirksam wird, wenn sie situationsangemessen und kultursensibel zur Anwendung kommt, sich also in der Performanz bewährt. Deswegen ist unser didaktisch-methodologischer Ansatz strikt studenten- und kompetenzorientiert sowie aufgabengestützt. Anhand von multidisziplinären »Tasks«, das heißt Lernaufgaben, sind die Studierenden eingeladen, die jeweiligen Themen, wie zum Beispiel Täterdynamiken, aus den verschiedenen fachlichen Blickwinkeln zu betrachten und psychologisches, pädagogisches, soziologisches, theologisches, kirchenrechtliches sowie zivilrechtliches Wissen auf die jeweilige Situation im Land anzuwenden und so durch persönliche Reflexion, Peerfeedback und Rückmeldungen der Lehrenden zu angemessenen Handlungsoptionen zu gelangen. Dieser Prozess des Hinterfragens, Aufeinander-Beziehens und Anwendens ist unbedingt notwendig, wenn die Lerninhalte für die Praxis weltweit fruchtbar werden sollen. Uns Lehrenden aus westlichen Ländern half die Arbeit mit den Studierenden zu verstehen, dass es zum Beispiel Regionen in Teilen Afrikas gibt, in denen die Polizei so korrupt ist, dass ein Anzeigen von Beschuldigten nicht zu Aufklärung und Strafverfolgung, sondern zu Bestechungsgeldern für die Polizisten und einer größeren Gefahr für die betroffenen Kinder führen würde. In Indonesien folgte auf das Bekanntwerden eines sexuellen Missbrauchs durch den Onkel, dass das 13-jährige Opfer ins Gefängnis kam und wegen außerehelichem Sex ausgepeitscht wurde.