Postkoloniale und dekoloniale Theologien

Das Instagram-Projekt Decolonize Theology

 

Hamburger Theologiestudierende setzen sich für Umdenken ein

Decolonize Theology Kollektiv

Kirche, Kolonialismus und Rassismus: ein düsteres und zwiespältiges Kapitel, das erst anfanghaft öffentlich betrachtet wird. Manch einer und eine möchte dabei gleich zur Versöhnung übergehen, ohne sich mit schmerzhaften historischen Wahrheiten auseinanderzusetzen. Doch wirkliche Heilung kann nur entstehen, wenn man sich der Verantwortung stellt und daraus Konsequenzen zieht. Durch Kooperationen auf vielen Ebenen können konstruktive Korrekturen angebahnt werden, welche Grundlagen für ein gelingendes, auf Respekt beruhendes Zusammenleben legen.

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Decolonize Theology Kollektiv

In Deutschland ist der Konsens der bekannten Theologen noch immer: Alte (tote) weiße Männer. Die Welt hat mehr zu bieten: wir stellen Theolog:innen vor, die sich kritisch mit Rassismus und Postkolonialer Theorie auseinandersetzen.

Wir, die Arbeitsgruppe Decolonize Theology, haben uns im Sommersemester 2020 am Fachbereich Theologie der Universität Hamburg gebildet. Dazu angeregt hat uns insbesondere die internationale Black-Lives-Matter-Bewegung, der Mord an dem Schwarzen US-Amerikaner George Floyd durch einen Polizisten sowie der erwachende globale Diskurs über strukturellen Rassismus. Wir stellten dabei fest, dass wir uns in unserem Theologiestudium bislang kaum mit diesen Themen auseinandergesetzt hatten. Die wenigen Angebote, die sich mit dem globalen Kontext befassen, verstärken den Eindruck des Schweigens in den klassischen theologischen Disziplinen zusätzlich. Die Erkenntnis dieser »theologischen Sprachlosigkeit« hat uns erschüttert. Aus diesem Grund treffen wir uns seitdem wöchentlich neben unserem regulären Studium, um uns mit Rassismuskritik und postkolonialen Theologien auseinanderzusetzen. Unsere Einsichten und Erfahrungen möchten wir mit anderen Interessierten teilen und diskutieren. Dafür nutzen wir verschiedene Plattformen: Beispielsweise organisieren wir Diskussionsveranstaltungen, wir führen aber auch einen Instagram-Account sowie eine Webseite (siehe Infokasten). Hier bieten wir unter anderem einführende Texte zu Themen oder Fachbegriffen postkolonialer Theologien an, geben Einblicke in die Arbeit internationaler Theolog:innen oder weisen auf Veranstaltungen hin. Inhaltlich bilden wir dabei die Spannbreite von Black Theology (Schwarze Theologie) über feministische und postkoloniale Theologien bis hin zu einer westlichen Hegemoniekritik ab. Besonders wichtig ist uns, theologische Positionen von BIPoC (Black, Indigenous and People of Colour) darzustellen. Wir möchten diesen Bereich ansprechend gestalten und niedrigschwellig öffnen, denn für uns steht fest: Postkoloniale Theologien müssen in das Zentrum theologischen Nachdenkens rücken.

Weltweit gibt es vielfältiges christliches Leben und ebenso viele unterschiedliche Theologien. Für die akademische evangelische Theologie und Religionswissenschaft in Deutschland existieren diese Lebensformen und Lehren aber häufig lediglich als Forschungsgegenstand. Als »interkulturelle« oder »kontextuelle« Theologien werden sie exotisiert und somit der vermeintlich kontextlosen, neutralen, wissenschaftlichen, weißen und deutschsprachigen Theologie, die die Norm bilden will, gegenübergestellt. Auf diese Weise werden heterodoxe Stimmen ausgeblendet. Doch gerade von diesen gehen wichtige theologische Impulse und Fragestellungen aus. Gesellschaftliche Herausforderungen wie (post-)koloniale Strukturen, Rassismus, Armut und Ausbeutung, die Situation von Frauen und sexuellen Minderheiten, Umweltzerstörung usw. werden hier bisweilen zentraler und direkter thematisiert und zu Ausgangspunkten der Theologien gemacht. Die Ausklammerung dieser Themen innerhalb der deutschsprachigen Theologien bezeugt die Notwendigkeit der Wahrnehmung und Diskussion postkolonialer Ansätze. Eines unserer Projekte befasst sich deshalb damit, eben diese bisher im akademischen Alltag kaum thematisierten Theologien mitsamt deren Autor:innen vorzustellen. Unter dem Hashtag #Theologieteilen präsentieren wir einmal im Monat Biografien, Werke und theologische Ansätze, die in unserem akademischen Alltag sonst höchstens am Rande gestreift werden. Dazu gehörten unter anderem Delores Seneva Williams’ womanistische Werke[1], Rasiahs S. Sugirtharajahs postkoloniale Exegese und Kwok Pui-Lans Ansätze einer postkolonialen feministischen biblischen Hermeneutik. Diese Denkansätze öffnen neue Räume neben und innerhalb der deutschen Theologien und sind gleichzeitig Inspirationen und Wege für eine Zukunft, die weniger von einer weißen männlichen Professorenschaft geprägt sein sollte. Denn auch die »Klassiker« der deutschsprachigen Theologie gilt es kritisch zu hinterfragen. Dabei geht es uns darum, die etablierten Größen der Theologie auf ihre wenig beachteten Grundüberzeugungen hin zu befragen, die in den obligatorischen Vorlesungen meist ungenannt oder nicht problematisiert werden, wie zum Beispiel Rassismus bei Schleiermacher oder Misogynie bei Kant. Unsere Themenreihe auf Instagram namens Hat er/sie nicht gesagt? befasst sich damit, genau diese blinden Flecken aufzudecken – nicht ohne die Kontexte der Autor:innen zu beleuchten und auch spätere, revidierende Aussagen mit einzubeziehen.

Die vermeintlich homogene deutsche Theologie steht unserer Meinung nach vor der Aufgabe, die Komfortzone zu verlassen und sich auch mit postkolonialen Theorien und Traditionen zu beschäftigen. Dabei dürfen diese weder als ganz anderes exotisiert noch in einem hermeneutischen Kurzschluss unvermittelt »eingemeindet«, also kopiert werden. Es sollte darum gehen, das Gespräch miteinander zu suchen und dabei auch die Bedingungen des eigenen Theologie- Treibens zu hinterfragen: um diese eigene Tradition als eine von vielen möglichen zu kontextualisieren, diskutierbar zu machen und zu transformieren – und so zu erkennen, dass vermeintliche Grenzen fließend sind. Das bedeutet auch, Rechenschaft über die eigene Tradition abzulegen, eigene blinde Flecken offenzulegen und diese zu bearbeiten. Während sich in ehemals kolonialisierten Regionen der Welt überall postkoloniale Theologien entwickelt und ausdifferenziert haben, braucht es in der deutschsprachigen Theologie eine Dekolonialisierung des eigenen Denkens – das heißt, vermeintlich Selbstverständliches zu hinterfragen.

Daher möchten wir auch in einen produktiven Austausch an unserer Hamburger Universität treten. Aus dieser Intention heraus ist unser erster Studientag mit dem Titel »Deutsche Theologie zwischen Postkolonialer Theologie und Dekolonisierung « entstanden. Als wir am Morgen die letzten Vorbereitungen trafen, konnten wir noch nicht ahnen, dass mehr als 50 Lehrende, Studierende und Interessierte teilnehmen würden. Auch einige internationale Studierende waren gekommen, so dass wir den Austausch spontan auf Englisch moderierten. Als geladene Expert:innen haben Ulrike Auga, Anthony Reddie und Nick Elorm Ahialey-Mawusi Einführungen in postkoloniale Theologien gegeben, aber auch schon an einigen Beispielen gezeigt, wie diese für eine Reflexion der kirchlichen Praxis angewandt werden können. So sprach Nick Elorm über Migrationskirchen und zeigte, inwieweit bereits die Namensgebung problematisch zu betrachten ist: Sind Gemeinden in zweiter, dritter Generation immer noch »Migrationskirchen«? Wann fällt diese Trennung? Der Studientag zeigte: Das Interesse der Studierenden ist da und wächst! Wir wollen daher in jedem Semester mindestens eine Veranstaltung zu diesem Thema organisieren. Im Juni 2021 fand der zweite Workshop unter dem Titel »Postkoloniale Exegese – Eine Methode zwischen Zentrum und Rand« statt. Die Leitfrage bestand darin, wie Methoden postkolonialer Bibelauslegung in den Aufgaben- und Fragenkatalog der historisch-kritischen Exegese integriert werden können. Zunächst stellte Marcel Krusche die Methodik der historisch-kritischen Exegese vor, daran anknüpfend präsentierte Simon Wiesgickl die Anliegen postkolonialer Methoden. In Kleingruppen und Podiumsdiskussionen kritisierten viele Teilnehmende die Leitfunktion der historisch-kritischen Exegese und die Positionierung postkolonialer Exegese am Rand. Durch diese Beobachtung wurde die Tür zu einer konstruktiven Diskussion geöffnet, die sich der Vereinbarung diverser Lesarten biblischer Texte widmete.

Die bestärkenden Rückmeldungen motivieren uns weiterzumachen. Unser Anliegen ist es:

  • Machtstrukturen zu dekonstruieren
  • westliches Theologisieren zu dezentralisieren und
  • bisher marginalisierte Theologien zu fokussieren.

Wir stellen auch an uns eine Veränderung durch die Beschäftigung mit diesen Themen fest – dass wir Literaturlisten und Lehrpläne nicht mehr unhinterfragt lassen, sondern vielfältigere Stimmen fordern; dass wir uns selbst als Subjekte in der Forschung wahrnehmen, die durch die Brille einer bestimmten Sozialisierung am Diskurs teilnehmen und nicht neutral und objektiv außerhalb dessen stehen können, aber auch, dass wir etwas bewirken können. Wir versuchen zu lernen, zuzuhören und uns selbst zurückzunehmen, um wohlüberlegte Fragen zu stellen, bevor wir vorschnelle Antworten geben. Diese Haltung wünschen wir uns auch für deutschsprachige Theologien.

Mit diesem Wunsch sind wir nicht allein. An vielen Universitäten haben sich ähnliche Arbeitsgruppen gegründet, mit welchen wir uns zunehmend vernetzen, da uns alle dasselbe Ziel verbindet: die Dekolonisierung der Theologie.

Ausgabe 1/2022

FOTO: DECOLONIZE THEOLOGY
Im Rahmen ihres Instagram-Projekts Decolonize Theology stellt das Kollektiv der Hamburger Theologiestudierenden postkoloniale und dekoloniale Theologien und deren Vetreter:innen vor.

Anmerkung

1 Reflektionsgegenstand der »Womanistischen Theologie« sind die Erfahrungen und Perspektiven Schwarzer Frauen, insbesondere afroamerikanischer Frauen. Die Womanist-Theologie entstand als Korrektiv zur frühen feministischen Theologie, die von weißen Feministinnen verfasst wurde und sich weder mit den Auswirkungen der »Rasse« (Race) auf das Leben der Frauen befasste noch die Realitäten Schwarzer Frauen in den Vereinigten Staaten berücksichtigte.