Pauline Jaricot und Evangelisierung

Länderbericht Russland

 

Der Staat fordert Loyalität

Russland: Die Religionsfreiheit ist in Gefahr

Von Jean Regina Elsner

Die russische Föderation ist ein vielfältiges Land – historisch, kulturell, geografisch, religiös. Das Ende der Sowjetunion vor 30 Jahren beendete die atheistische religionsfeindliche Politik. Seit dem Beginn der 2010er-Jahre werden jedoch wieder individuelle und zivilgesellschaftliche Freiheiten eingeschränkt, auch die Religionsgemeinschaften sind betroffen. Außerdem gibt es Konflikte zwischen der Russischen Orthodoxen Kirche, die eine besondere Nähe zu staatlichen Organen pflegt, und anderen christlichen Kirchen.

Autorin

Regina Elsner

ist katholische Theologin und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) in Berlin. Nach dem Studium war sie von 2005 bis 2010 für die Caritas Russland in St. Petersburg tätig. Sie promovierte zum Verhältnis von russischer Orthodoxie und Moderne, ihr Forschungsschwerpunkt ist die Sozialethik der Orthodoxen Kirchen in Osteuropa.

 

Die Russische Föderation ist das flächenmäßig größte Land der Welt. Laut offiziellen Angaben leben etwa 146,5 Millionen Menschen in Russland.[1] Seit dem Ende der Sowjetunion hat die Bevölkerungszahl stetig abgenommen, zum einen durch die Abspaltung von Republiken, zum anderen aufgrund massiver wirtschaftlicher und sozialer Schwierigkeiten in den 1990er-Jahren. Russland ist ein historisch gewachsener Vielvölkerstaat. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts war es eine Monarchie, die sich seit dem 11. Jahrhundert durch die Vereinigung von kleineren Fürstentümern und durch Kämpfe gegen andere Staaten und Völker von Kiew über Moskau bis in den Fernen Osten und Zentralasien ausgedehnt hatte. Unter der Herrschaft der Tataren im 13. und 14. Jahrhundert breiteten sich asiatische Einflüsse aus, bis dahin waren vor allem die enge Beziehung mit Byzanz und das byzantinische Christentum prägend. Mit Zar Peter I. wuchsen seit dem 18. Jahrhundert die Einflüsse aus Westeuropa; seine Reformen prägten die Verwaltung und das Bildungssystem, aber auch religiöse und kulturelle Vorstellungen.

Das Ende des Zarentums und der Beginn der Sowjetunion Anfang des 20. Jahrhunderts führten zu einer radikalen wirtschaftlichen und politischen Neuausrichtung, zu kultureller Vereinheitlichung und weltanschaulichen Repressionen. Obwohl sich die Sowjetunion immer als Vielvölkerstaat präsentierte, unterlag die kulturelle und ethnische Vielfalt des Landes einer Folklorisierung, während indigene Sprachen, Kulturen und Religionen unterdrückt wurden. Während des Zweiten Weltkriegs wurde die radikale atheistische Politik unterbrochen, da sich Josef Stalin vor allem von den orthodoxen Gläubigen bei einer Lockerung der Repressionen größere Loyalität, Leidensbereitschaft und Patriotismus erhoffte. Während des Kalten Krieges schwankte der Grad der Unterdrückung von Religionen je nach dem Kalkül der Machthaber. Seit dem Ende der Sowjetunion ist die Russische Föderation ein demokratischer Rechtsstaat mit einem semipräsidentiellen Regierungssystem, das heißt, der Präsident hat weitreichende Entscheidungsgewalt in den parlamentarischen Prozessen. Nach einer Phase weitgehend liberaler, politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklungen in den 1990er-Jahren verstärkten sich seit 2000 und mit der Wahl von Wladimir Putin zum Präsidenten die autoritären Regierungspraktiken. Obwohl demokratische Institutionen formal fortbestehen, ist die politische Macht beim Präsidenten zentralisiert.

Vielfältige Religionslandschaft

Durch die große kulturelle und ethnische Vielfalt innerhalb Russlands sind auch zahlreiche Religionsgemeinschaften im Land zu finden. Verlässliche Zahlen zu den Mitgliedern beziehungsweise Anhängern einzelner Gemeinschaften gibt es jedoch nicht. Auch Umfrageergebnisse geben teilweise nicht die tatsächliche religiöse Zugehörigkeit, sondern vor allem eine kulturelle Zugehörigkeit wieder. Die Russische Orthodoxe Kirche (ROK) ist mit etwa 19.000 registrierten Organisationen landesweit am stärksten vertreten. [2] Dazu gehören neben Gemeinden mit Sakralbauten auch Klöster, Ausbildungseinrichtungen und wohltätige Organisationen. Die Finanzierung der Arbeit der orthodoxen Organisationen erfolgt durch Spenden und Kollekten, die Bezahlung ritueller Dienste, den Verkauf von Devotionalien, staatliche Zuschüsse und Projektfinanzierung. Die ROK ist zentral organisiert mit dem Sitz des Patriarchen in Moskau und aktuell 314 Bistümern in 60 Metropolien innerhalb Russlands.

Der Islam ist mit knapp 6.000 Organisationen registriert, in erster Linie sind dies Gemeinden, wohltätige Organisationen und Ausbildungseinrichtungen. Traditionell ist der Islam besonders in den Regionen des nördlichen Kaukasus und in den Republiken Tatarstan und Baschkirien an der Wolga angesiedelt. Die Ausrichtung des Islam unterscheidet sich stark: Es gibt den kulturellen, eher weltoffenen und teilweise säkularisierten Islam in der Wolgaregion und einen eher traditionellen bis fundamentalistischen Islam im Nordkaukasus. Eine weitere Gruppierung stellen die zahlreichen hauptsächlich muslimischen Arbeitsmigrant:innen aus Zentralasien dar. Offiziell stellt sich Russland als Musterbeispiel gelingender interreligiöser Toleranz und der Integration des Islam dar. Gleichzeitig sind vor allem muslimische Gruppierungen im Rahmen des Extremismusgesetzes verboten; im Nordkaukasus hat sich ein quasi rechtsfreier Raum unter religiösen Vorschriften gebildet, der ein innenpolitisches Pulverfass für Russland darstellt.

Der Buddhismus ist traditionell auf Regionen in Sibirien beziehungsweise im Fernen Osten konzentriert und besonders in den Republiken Burjatien, Altai und Kalmükien südöstlich des Baikalsees anzutreffen. Mit knapp 270 registrierten Organisationen spielt er eine eher untergeordnete Rolle.

Das Judentum hat ebenfalls nur knapp 270 registrierte Gemeinden und Einrichtungen in Russland, die sich auf Gemeinden in den Hauptstädten konzentrieren. Entgegen der sowjetischen Propaganda waren in der Bevölkerung massive antisemitische Vorurteile verbreitet, die bis heute Nachwirkungen zeigen. Nach dem Ende der Sowjetunion wanderten viele Juden aus.

Die katholische Kirche ist in vier Bistümern organisiert und verfügt über knapp 250 registrierte Organisationen – Gemeinden und karitative Einrichtungen. Nach schwerwiegenden Konflikten mit der ROK und staatlichen Behörden am Beginn der 2000er-Jahre aufgrund der Einrichtung von Bistümern hat sich die Anerkennung der Arbeit der katholischen Kirche inzwischen stabilisiert. In St. Petersburg unterhält die katholische Kirche ein Priesterseminar. Da die karitative Arbeit der Caritas vorwiegend aus dem Ausland finanziert wird, unterliegt sie besonderen Anforderungen, was die Berichterstattung an die staatlichen Strukturen angeht.

Verschiedene protestantische Kirchen und Gemeinschaften sind mit insgesamt über 2.000 Organisationen registriert, darunter sind Evangeliumschristen-Baptisten, Pfingstkirchen und Evangelikale die größten Gruppen. Lutheraner sind mit wenigen Gemeinden und sozialen Einrichtungen vor allem in den Hauptstädten sowie in den Regionen im Ural und an der Wolga anzutreffen. Auf lokaler Ebene haben protestantische Gemeinden oft mit Hindernissen bei der offiziellen Anerkennung zu kämpfen, da sie pauschal als ausländische Missionare angesehen werden. Dennoch sind vor allem ihre wohltätigen Einrichtungen wie Rehabilitationszentren für Suchtkranke im ganzen Land stark verbreitet.

Zu den bedeutenderen kleinen Religionsgemeinschaften zählen indigene Schamanismen sowie die Zeugen Jehovas, Scientology oder die »Internationale Gesellschaft für Krishna- Bewusstsein«. Viele neuere religiöse Bewegungen kamen mit der Öffnung nach dem Ende der Sowjetunion aus den USA oder Asien nach Russland, sie werden als nichttraditionelle Religionen betrachtet und erleben immer wieder Einschränkungen. Indigene Religionen wurden durch staatliche Programme unter einen gewissen Schutz gestellt, sind jedoch nicht als traditionelle Religionen anerkannt.

Völkerrechtlicher Rahmen

Als wichtigste Norm des globalen Völkerrechts gilt der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) [3] vom 16. Dezember 1966. Für die Russische Föderation als Rechtsnachfolgerin der Sowjetunion sind die Definitionen zur Religionsfreiheit in Artikel 18 des IPbpR, wonach jedermann das Recht auf Gedanken-, Gewissensund Religionsfreiheit hat, völkerrechtlich bindend. Staatliche Einschränkungen der im IPbpR enthaltenen Religionsfreiheit sind strengen Kriterien unterworfen, um die Substanz des Rechtes zu wahren. Dabei dürfen mögliche gesetzlich vorgesehene Einschränkungen zum Schutz der Sicherheit und der öffentlichen Ordnung sowie zum Schutze der Rechte anderer ausschließlich das forum externum betreffen, das die Verwirklichung und Betätigung der Überzeugung nach außen beschreibt. Der innere personale Schutzbereich des Menschen als Ort, an dem die innere Überzeugungsbildung stattfindet, wird als forum internum bezeichnet und gilt als absolut geschützt.

Internationale Menschenrechtsorganisationen haben in den vergangenen Jahren wiederholt auf massive Verletzungen der Religionsfreiheit in der Russischen Föderation hingewiesen. Die Verletzungen der Religions- und Gewissensfreiheit stehen in engem Zusammenhang mit einer generellen Einschränkung individueller und zivilgesellschaftlicher Freiheiten und Rechte in Russland. Nationale Menschenrechtsorganisationen wie Memorial [4] und das Analyse-Zentrum Sova [5], die unter anderem die Lage der Religionsfreiheit beobachten und dokumentieren, wurden 2016 durch das russische Justizministerium als »Ausländische Agenten« eingestuft. Am 28. Dezember 2021 beschloss das Oberste Gericht der Russischen Föderation wegen angeblicher Verstöße gegen das sogenannte »Ausländische-Agenten- Gesetz« die Auflösung von Memorial.

Religionsfreiheit konkret

Laut der 1993 verabschiedeten Verfassung sind in der Russischen Föderation Staat und Religion getrennt und alle Religionen sind vor dem Gesetz gleich (Art. 14), die Religions- und Gewissensfreiheit wird garantiert (Art. 28). In einer Verfassungsredaktion im Jahr 2020 wurde in Artikel 67 der Gottesbezug als Element des nationalen historischen Gedächtnisses eingefügt.[6] Dies kann als Ende der weltanschaulichen Offenheit des postsowjetischen Russland angesehen werden.[7] Grundsätzlich beruhen zahlreiche staatliche und nichtstaatliche Verletzungen der Religionsfreiheit in der Russischen Föderation auf der mangelnden Unabhängigkeit der Strukturen des Rechtssystems, weitreichender Korruption und verbreiteter Xenophobie. Aus diesem Grund sind staatliche und gesellschaftliche Missachtung von Religions- und Gewissensfreiheit oft nicht klar voneinander abgrenzbar. Die Gesetzgebung bezüglich Religionsfreiheit und Extremismusbekämpfung wird willkürlich angewandt. Von den Restriktionen sind in erster Linie die sogenannten nichttraditionellen Religionsgemeinschaften betroffen, vor allem protestantische und freikirchliche Gemeinschaften sowie neue Religionen. Im Fokus stehen eine Unterbindung missionarischer Tätigkeit sowie eine Einschränkung entsprechender theologischer Ausbildungseinrichtungen. Massive Probleme gibt es außerdem beim Erwerb oder der Nutzung von Räumen für die Tätigkeiten der Religionsgemeinschaften.

Privilegierung der ROK

Die Gesetze der Russischen Föderation entwickelten nach einer anfänglichen großen religiösen Freiheit gewisse Formen der Privilegierung der ROK. Diese Privilegierung wird mit der Größe der Kirche und ihrer Rolle in der Geschichte und Kultur Russlands begründet. Trotz einer grundsätzlichen Trennung von Staat und Kirche steht die ROK in besonderer Nähe zu staatlichen Organen. Auch wenn die ROK keinen direkten und messbaren Einfluss auf politische Prozesse und Gesetzgebungsverfahren hat, sind Vertreter:innen der ROK und orthodoxe Lobbyverbände bei Gesetzesinitiativen als beratende Akteure beteiligt, wenn es den religiösen Bereich im weitesten Sinne betrifft. Das war unter anderem der Fall bei dem Gesetz über die Religionsfreiheit oder dem Gesetz zum Verbot der sogenannten Propaganda gleichgeschlechtlicher Beziehungen unter Minderjährigen (2013). Als Höhepunkt des politischen Einflusses der ROK wurden die Änderungen der Verfassung im Jahr 2020 gewertet – die Ergänzung des Gottesbezuges, die Festschreibung der Ehe als Bund zwischen einem Mann und einer Frau sowie die Betonung des Schutzes traditioneller Familienwerte als Ziel der Regierung der Russischen Föderation gehen auf Initiativen der ROK zurück. Privilegien genießt die ROK auch in Hinblick auf den Zugang zum Militär und in Bezug auf Gebäude. Obwohl die Militärseelsorge grundsätzlich auch den anderen traditionellen Religionsgemeinschaften offensteht, verfügt die ROK über besondere Kooperationen mit dem Verteidigungsministerium. Das Gesetz zum Schutz religiöser Gefühle (Verbot von Blasphemie) wird meist zum Vorteil der ROK angewandt und stellt eine Einschränkung der Meinungsfreiheit dar. Neben Fällen, die große mediale Resonanz erreichen, wie dem Blogger, der in einer Kirche Pokemon-Go spielte, werden vor allem kritische oder satirische Äußerungen und Bilder in sozialen Netzwerken bestraft,[8] während antisemitische Veröffentlichungen im Internet kaum von Einschränkungen betroffen sind.

Einschränkung des Islam

Der Islam genießt als traditionelle Religion und zweitgrößte Religionsgemeinschaft grundsätzlich Anerkennung, mehrere zentrale Strukturen vertreten die Interessen der muslimischen Gemeinschaft auf föderaler und lokaler Ebene. Diese vom Staat anerkannten Vertretungen führen jedoch zu einer Marginalisierung von muslimischen Gruppen, die sich den zentralen Organisationen nicht unterstellen wollen. Immer wieder werden muslimische Prediger mit Strafen für unerlaubte Missionierung belegt, weil sie keine Zulassung durch die zentralen Strukturen vorweisen können. Zahlreiche muslimische Gemeinschaften sind als extremistische Organisationen eingestuft und verboten, obwohl sie tatsächlich nicht extremistisch tätig sind. Besonders beunruhigend ist die Situation in den nordkaukasischen Republiken. Die lokale Gesetzgebung hat den Wahhabismus zur extremistischen Ideologie erklärt, ohne dies jedoch genauer zu definieren. Das führt zu willkürlichem Vorgehen gegen Muslime, die nicht der offiziellen Linie der Führungen der Republiken angehören. Insgesamt wird die durch die Regierung vertretene traditionelle, teilweise fundamentalistische Form des Islam in dieser Region als Druckmittel gegen Andersdenkende eingesetzt, auch wenn dies im Einzelfall der föderalen Gesetzgebung Russlands widerspricht. Sicherheitsdienste und mafiöse Strukturen verfolgen Bewohner: innen der Region aus religiösen Gründen, oft auch nach deren Umzug. Die russische Regierung deckt diese verfassungswidrigen Aktivitäten aufgrund der angespannten Sicherheitslage im Nordkaukasus.

Verletzungen der Religionsfreiheit auf der Krim

Seit der völkerrechtswidrigen Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim im März 2014 setzte Russland seine Gesetzgebung dort durch, dies betrifft auch die Regulierung der Religionsfreiheit. Alle nach ukrainischem Recht registrierten religiösen Organisationen mussten sich einer erneuten Registrierung nach der russischen Gesetzgebung unterziehen, zahlreiche Organisationen stellten daraufhin ihre Tätigkeit ein oder führten sie als religiöse Gruppe fort. Einige religiöse Organisationen, darunter die römisch- katholischen und die lutherischen Gemeinden, mussten sich einer Expertise des russischen Justizministeriums unterziehen und für die Registrierung ihre Verbindung zu ukrainischen Stellen – Bistümern oder Verwaltungen – aus den Statuten entfernen.[9] Vor der Okkupation waren 1.546 religiöse Organisationen auf der Krim registriert, ein Jahr später war nur etwa ein Prozent nach russischem Recht registriert. Die in der Ukraine legalen Zeugen Jehovas werden seit dem Verbot als extremistische Organisation in Russland 2017 auch auf der Halbinsel Krim verfolgt. Besonderem Druck sind die krimtatarischen Muslime und weitere muslimische Gemeinschaften ausgesetzt, die sich einer Unterstellung unter die russische Islamische Zentralverwaltung verweigern. Auch die Gemeinden der Orthodoxen Kirche der Ukraine verweigern die Registrierung nach russischem Recht, ihre Gottesdienste werden darum regelmäßig durch Polizei und Sicherheitskräfte abgebrochen, ihre Gebäude sollen enteignet werden. Die Gemeinden der zum Moskauer Patriarchat gehörenden orthodoxen Gemeinden genießen hingegen besonderen Schutz.

Verfolgung der Zeugen Jehovas

Die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in Russland nachgewiesenen Zeugen Jehovas wurden nach der sowjetischen Verfolgung erst 1996 rehabilitiert; seit 2004 unterliegen sie neuer staatlicher Verfolgung. Während zunächst vor allem lokale Gemeinden unter Druck gerieten und die Literatur der Gemeinschaft als extremistisch verboten wurde, werden seit 2009 auch Gläubige für ihre Religionsausübung verfolgt. Dabei berufen sich die Gerichte auf das Gesetz zur Extremismusbekämpfung; nach Einschätzungen des Expertenrates des Justizministeriums sind sowohl die Ablehnung von Wehrdienst, Bluttransfusion und Wahlbeteiligung als auch die generelle Einstellung zum russischen Staat als extremistisch einzuschätzen. 2017 folgten nach Jahren der Rechtsunsicherheit und willkürlicher Verfahren das generelle Verbot der Zentralverwaltung der Zeugen Jehovas in Moskau und damit die Auflösung der Religionsgemeinschaft in Russland. Infolge dieses Beschlusses begannen in ganz Russland Verfolgungen und Enteignungen.

Intoleranz und Xenophobie

Durch die enge Verknüpfung von russischer Identität mit der orthodoxen Kirche und den traditionellen Religionen stehen andere Religionen tendenziell unter Verdacht, ausländische Sekten zu vertreten. Dies betrifft vor allem freikirchliche Gemeinschaften und neue religiöse Gemeinschaften. Von gesellschaftlicher Intoleranz sind auch Juden und Muslime betroffen. Während sich Antiislamismus in gewalttätigen Übergriffen vor allem auf Arbeitsmigrant: innen äußert, kommt Antisemitismus vor allem in alltäglichen Vorurteilen zum Ausdruck. Die Berichte des analytischen Zentrums Sova weisen jährlich auf die Verbindung von nationalistischen und ultrarechten Bewegungen mit orthodoxen Akteuren hin.[10] Zahlreiche dieser Vereinigungen berufen sich darauf, das Erbe der »Heiligen Rus« und konservative orthodoxe Werte zu vertreten. Anhänger dieser Vereinigungen sind maßgeblich an Protesten gegen LGBTI*-Personen, Migrant:innen sowie Veranstaltungen mit religionskritischer Kunst beteiligt. Mehrere dieser Organisationen wurden in den vergangenen Jahren als extremistische Vereinigungen verboten, eine öffentliche Distanzierung der ROK erfolgt nur im Fall gewaltsamer Eskalation. Die enge Verbindung von autoritärer Staatsführung und Russischer Orthodoxer Kirche haben in den vergangenen Jahrzehnten zu gesellschaftlichem Protest gegen eine zunehmende Klerikalisierung geführt, der teilweise in Vandalismus eskaliert. Auch über antimuslimischen und antisemitischen Vandalismus wird regelmäßig berichtet, betroffen sind meist Kultusgebäude oder Friedhöfe. Polizei und Gerichte verfolgen diese Vorfälle meist als »Vandalismus« und nicht als Fälle gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, was ein höheres Strafmaß bedeuten würde.

Dialogpotenzial

Entsprechend der multikulturellen und -konfessionellen Identität Russlands bestehen auf verschiedenen Ebenen interreligiöse Strukturen, die der Verständigung und der gemeinsamen Interessenvertretung dienen. Der Interreligiöse Rat Russlands wurde 1998 auf Initiative der Russischen Orthodoxen Kirche gegründet, Patriarch Kyrill ist der Ehrenvorsitzende. Der Rat vereint die mit dem Gesetz von 1997 definierten traditionellen Religionen Russlands und vertritt deren Interessen auf föderaler Ebene. Bisher setzt sich der Rat jedoch vor allem für den Schutz traditioneller Werte ein und äußert sich nur zu Einschränkungen der Religionsfreiheit außerhalb Russlands, besonders zur Verfolgung der Christen im Nahen Osten.

Aufgrund der generellen Einschränkungen zivilgesellschaftlichen Engagements und der staatlichen Vereinnahmung sämtlicher Dialogformate verläuft der Einsatz für Religions- und Gewissensfreiheit in erster Linie als Aufklärungsarbeit über internationale Netzwerke und auf der lokalen Graswurzelebene. In der ROK kann öffentliches Eintreten für religiöse Minderheiten zu innerkirchlicher Kritik und Abmahnung führen, so dass entsprechende Initiativen selten erfolgen. Der vorhandene zivilgesellschaftliche Einsatz gegen die Unterdrückung religiöser Minderheiten und gegen die staatliche Bevorzugung der ROK wird zunehmend durch die staatliche Listung unabhängiger Medien und Nichtregierungsorganisationen als »ausländische Agenten« erschwert. In dieser Situation liegt besonderes Potenzial zur Stärkung der Religionsfreiheit und dem Schutz vor Verletzungen von Religions- und Gewissensfreiheit in der lokalen und niedrigschwelligen Kooperation von unterschiedlichen Religionsgemeinschaften. Auch wenn die Verletzung von Religionsfreiheit selten im Dialog diskutiert wird, sorgen gemeinsame Projekte und persönliche Kontakte für eine geringere Vulnerabilität kleinerer Religionsgemeinschaften.

Allianz zwischen Regierung und ROK

Die Lage der Religions- und Gewissensfreiheit in der Russischen Föderation ist im Kontext der allgemeinen Verschlechterung der Menschenrechtslage in Russland besorgniserregend. Auch wenn Religionsfreiheit durch die Verfassung zugesichert wird und Russland sich durch die Unterzeichnung verschiedener internationaler Vereinbarungen zum Schutz der Religionsfreiheit verpflichtet hat, sind religiöse Minderheiten und religionskritische Bewegungen großem Druck ausgesetzt. Die Verfolgung der Zeugen Jehovas und verschiedener muslimischer Vereinigungen als extremistische Organisationen zeigt, wie Russland die Gesetzgebung im Interesse loyaler und patriotischer Gemeinschaften ausgehöhlt hat. Die staatlich gestützte gesellschaftliche Xenophobie führt zu Vandalismus und Alltagsdiskriminierung, gegen die kein ausreichender Rechtsschutz vorhanden ist. Die Sonderstellung der Russischen Orthodoxen Kirche ist in dieser Situation äußerst problematisch. Die ideologische Allianz zwischen Staat und Kirchenführung untermauert aktuell die Marginalisierung anderer Religionsgemeinschaften. Die ROK ist in der privilegierten Position, Verletzungen der Religionsfreiheit zu definieren, Ermittlungsverfahren anzustoßen und die Gesetzgebung zu beeinflussen. Sie nutzt dieses Potenzial bisher ausschließlich im eigenen Interesse. Solange sich die staatlichen Einschränkungen der Zivilgesellschaft unter anderem auf den Schutz der quasi-orthodoxen Kultur berufen, ist mit einem Einsatz der ROK für religiöse Minderheiten und Gewissensfreiheit im eigenen Land kaum zu rechnen.

Forum Weltkirche | Heft 3/2022

FOTO: MAKSIM BLINOV/SPUTNIK/DPA
Ein Unterstützer der Menschenrechtsorganisation Memorial steht vor dem Moskauer Stadtgericht. Am 28. Dezember 2021 hat das Oberste Gericht der Russischen Föderation beschlossen, Memorial wegen angeblicher Verstöße gegen das »Ausländische-Agenten-Gesetz« aufzulösen.
FOTO: KNA-BILD
Ikonen sind für orthodoxe Christ:innen keine Kunstwerke, sondern Fenster in den Himmel. Denn sie glauben, dass Christus und die Heiligen sie durch ihre Abbilder, die Ikonen, anblicken.
FOTO: KNA-BILD
Zu einem ersten Treffen zwischen einem römischen Papst und dem Patriarchen der Russischen Orthodoxen Kirche kam es im Februar 2016 am Flughafen von Havanna. Kyrill I. steht wegen seiner Unterstützung Putins im Krieg gegen die Ukraine aktuell stark in der Kritik.
FOTO: KNA-BILD
Erstkommunion in einer Gemeinde in Moskau. Die katholische Kirche ist in Russland in vier Bistümern organisiert. In St. Petersburg gibt es ein Priesterseminar.

Russland auf einen Blick

Hauptstadt: Moskau
Fläche: 17 Mio. km2 (das flächenmäßig größte Land der Welt)
Einwohner: 146,5 Mio.
Amtssprache:
Russisch
Religion: 66 % Orthodoxe; 6 % Muslime; 1 % andere; 20 % keine Religionszugehörigkeit
Regierungsform: Semipräsidentielle Republik
Human Development Index (2020): Rang 52 von 189

Quellen: OSZE; WZIOM; Auswärtiges Amt

Russland auf einen Blick

Anmerkungen

1 Vgl. Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, https://data.oecd.org/russian-federation.htm     (Zugriff: 04.01.2021).
2 Vgl. Angaben des zentralen Statistikamtes der Russischen Föderation, https://rosinfostat.ru/religioznye-organizatsii/      (Zugriff: 27.09.2021).
3 United Nations General Assembly, International Covenant on Civil and Political Rights, 16 December 1966, entry into force 23 March 1976 (999 UNTS 171). Deutsche
Übersetzung: https://www.institut-fuermenschenrechte.de/fileadmin/Redaktion/PDF/DB_Menschenrechtsschutz/ICCPR/ICCPR_Pakt.pdf      (Zugriff: 10.01.2022).
4 Vgl. https://memohrc.org/ru/tags/svoboda-sovesti      (Zugriff: 27.09.2021).
5 Vgl. https://www.sova-center.ru/religion/     (Zugriff: 27.09.2021).
6 Verfassung der Russischen Föderation auf der Homepage der russischen Regierung: http://www.kremlin.ru/acts/constitution/item#chapter3      (Zugriff: 27.09.2021); in
deutscher Übersetzung: Die Verfassung der Russländischen Föderation, in: Osteuropa Recht 67 (2021) 1, S. 58–114, https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0030-6444-2021-1-58/die-verfassung-der-russlaendischen-foederation-jahrgang-67-2021-heft-1?page=1      (Zugriff: 27.09.2021).
7 Vgl. Kristina Stoeckl, The End of Post-Soviet Religion. Russian Orthodoxy as a National Church. Public Orthodoxy, 20.07.2020, https://publicorthodoxy.org/2020/07/20/the-end-of-post-soviet-religion/      (Zugriff: 27.09.2021).
8 Vgl. Bericht der Internationalen Menschenrechts-Gruppe AGORA 2019, https://www.svoboda.org/a/29940416.html      (Zugriff 12.12.2021).
9 Vgl. https://forum18.org/archive.php?article_id=2076      (Zugriff: 27.09.2021).
10 SOVA-Zentrum, Bericht über Hassverbrechen und den Kampf gegen Xenophobie und radikalen Nationalismus in Russland in der ersten Jahreshälfte 2021, 15.7.2021, https://www.sova-center.ru/racismxenophobia/publications/2021/07/d44564/      (Zugriff: 27.09.2021).

WEITERFÜHRENDE LITERATUR:

  • Olga Sibireva, Freedom of Religion or Belief in Russia, Restrictions and Challenges in 2020, 03.05.2021, https://talkabout.iclrs.org/2021/05/03/forb_in_russia/      (Zugriff: 27.09.2021).
  • Randall Poole/Paul Werth (Hrsg.), Religious freedom in modern Russia, Pittsburgh 2018.
  • Geraldine Fagan, Believing in Russia – Religious Policy after Communism, London 2013.

HINWEIS:

Dieser Artikel ist eine gekürzte Fassung des neu erschienenen missio- Länderberichts Religionsfreiheit: Regina Elsner, Religionsfreiheit: Russland, hrsg. vom Internationalen Katholischen Missionswerk missio e.V. und von Renovabis e.V., (Länderberichte Religionsfreiheit 55), Aachen 2022. Diesen können Sie auch online
kostenlos herunterladen: https://bit.ly/3htM7Zi