Relevanz der Weltkirche

»Fuck White Tears«

 

Ein Filmabend, der aufrüttelt

von Franziska Moosmann

Seit 2016 demonstrieren Studierende in Südafrika für die Dekolonialisierung des Bildungssystems, welches nach wie vor eurozentristisch geprägt ist und dessen Strukturen von kolonialen Kontinuitäten durchdrungen sind. Eine Chancengleichheit ist zudem aufgrund rassistischer Infrastrukturen aus Kolonial- und Apartheidzeit und den daraus resultierenden enormen ökonomischen Ungleichheiten zwischen Schwarzen, coloured und weißen [1] Südafrikaner:innen bislang nicht gegeben.

Autorin

Franziska Moosmann

studiert Katholische Theologie und Sozialanthropologie an der Eberhard Karls Universität in Tübingen. Von Juli bis August 2022 absolvierte sie ein Praktikum im #strongbymissio-Team beim Katholischen Hilfswerk missio in Aachen.

In diesem Kontext fand sich Annelie Boros 2016, damals noch Studentin an der Hochschule für Film und Fernsehen in München, im Rahmen eines Journalismusseminars wieder. Ihr Seminarprojekt sollte ein Dokumentarfilm über südafrikanische Studierende in Kapstadt und deren Alltag werden. Am Ende wurde es »ein Film, über einen Film, den ich nicht machen kann, weil ich weiß bin«, so Annelie. Die beiden Kollektive #strongbymissio und Missionar* innen auf Zeit (MaZ) luden Annelie Boros am 11. Juli 2022 zu einem Film- und Diskussionsabend in die Katholische Hochschulgemeinde (KHG) Aachen ein, um mehr über die Hintergründe und Konflikte rund um den Film Fuck White Tears zu erfahren und mit Annelie und den Besucher*innen einen Austausch zu ermöglichen.

 

Ablehnung in Kapstadt

Nachdem alle den Film gemeinsam angeschaut hatten, lautete Annelies erste Reaktion: »Ich bin gerade wieder sauer darüber geworden, dass es möglich war, dass ich so unvorbereitet hingefahren bin.« Im Film ist zu sehen, mit welcher Ablehnung die Studierenden in Kapstadt darauf reagieren, dass eine deutsche, weiße Filmstudentin über die südafrikanischen Demonstrationen berichten möchte. Der Vorwurf: Annelie halte die Kamera auf die Studierenden wie auf »Tiere« und bereichere sich an ihnen, indem sie das Filmmaterial mit nach Hause nehme und damit ihre eigene Karriere fördere. Eine weiße Person könne nicht Schwarze Befreiungskämpfe objektiv dokumentieren. War das Filmprojekt also von Vornherein zum Scheitern verurteilt?

 

Bei eigenen White Tears ertappt

Annelie berichtete auf dem Podium von ihrer ersten Reaktion auf diese Kritik: »Da habe ich mich selbst bei meinen White Tears ertappt.« White Tears und damit die Bedeutung des Filmtitels, erklärte Annelie, bezeichnet die Wut darüber, dass weiße Menschen bei der Konfrontation mit ihrem eigenen Rassismus verletzlich reagieren. Auf die Wut der Studierenden hin musste sich Annelie mit ihren White Tears auseinandersetzen. Sie realisierte, dass sie nicht objektiv berichten kann, sondern ihre eigene Rolle als weiße Person in Südafrika mitthematisieren muss. Sie erklärte auch, dass sie von ihren Hochschullehrer:innen für dieses Vorhaben wenig Unterstützung erfuhr, weil diese befürchteten, sie mache sich zu sehr gemein mit der Studierendenbewegung: »Ich wurde nicht begleitet auf einer antirassistischen Reise. Ich wurde begleitet auf einer journalistischen Reise. Das ist nicht genug, wenn man in Südafrika als weiße Person einen Film machen will.« Es wurde deutlich, dass der Aufenthalt in Kapstadt Annelies journalistisches Selbstverständnis grundlegend veränderte. Journalist:innen hätten zwar theoretisch das Recht, über alles zu berichten, so Annelie, aber sie wolle das nur, wenn sie sichtbar machen könne, aus welcher Perspektive sie erzähle und durch welche Brille sie schaue: »Was ich erzähle ist keine Wahrheit, sondern ein Blickwinkel. Ich kann nicht sagen: ›So ist die Situation in Südafrika‹, sondern: ›So ist die Situation in Südafrika für eine weiße Person, die dort hingeht und sie wahrnimmt.‹«

 

Kritische Selbstreflexion

Die Besucher:innen des Abends stellten unterschiedliche Rückfragen. Zum einen interessierte sich eine Teilnehmerin dafür, ob Annelie denn mit ihrem Film zufrieden sei. Diese reagierte mit den Worten: »Es ist ein bisschen fremdschämend, den Film jetzt anzugucken.« Sie werde mit ihrem unwissenden Ich von damals konfrontiert und habe gleichzeitig den Eindruck, das Bewusstsein für Rassismus sei in den letzten Jahren gestiegen und man könne jetzt an einem anderen Punkt ansetzen: »Es ist immer noch viel zu tun, aber 2016 hatte ich das Gefühl, an der Uni denken alle, ich spinne«. Dennoch ist Annelie froh, dass es den Film gibt, denn sie hat davon ausgehend viele konstruktive Diskussionen mit Menschen geführt, die sich zuvor nie mit ihrem eigenen Weißsein auseinandergesetzt haben. Auch Stimmen der Teilnehmer: innen spiegelten wider, dass sie den Film gelungen finden, um über Weißsein ins kritische Nachdenken zu kommen. Annelie wird selbst im Film nicht sichtbar, aber die Zuschauer:innen nehmen ihren Blickwinkel der White fragility [2] ein. Durch den Erzählstil und die Kameraführung können sie zu einem antirassistischen Lernprozess inspiriert werden, so die Idee des Films.

 

Wer kann sich Filmemachen leisten?

Diese Idee wurde während des Abends allerdings auch kontrovers diskutiert. Es wurde gefragt, ob Annelie noch mehr auf die kritischen Stimmen der Studierenden hätte eingehen sollen, denn im Nachgang passierte genau das, was diese prophezeiten: Sie gewann Preise und Anerkennung mit dem Filmmaterial aus Kapstadt. Außerdem merkte ein Teilnehmer an: »Geht der Film nicht gegen die eigentliche message? Der Titel heißt Fuck White Tears, aber es geht die ganze Zeit um deine Probleme. « Zudem stand die Frage im Raum, warum überhaupt deutsche Journalist:innen nach Südafrika reisen, es könne ja auch über Rassismus im eigenen deutschen Kontext berichtet werden. Annelie wünscht sich diesbezüglich große Veränderung im Filmkontext: »Es muss die Möglichkeit für alle Menschen geben, Filme zu machen. Filmhochschulen sind weiß dominierte Räume. Da ist die Frage: Wer kann es sich überhaupt leisten, Filme zu produzieren?«

 

Weißsein und Weltkirche?

Das Team von #strongbymissio und MaZ freute sich besonders darüber, dass so ein angeregter Austausch möglich war und die Teilnehmer: innen engagiert diskutierten. Die strukturellen Ungerechtigkeiten konnten selbstverständlich an diesem Abend nicht aufgelöst werden, aber dass ein kritischer Diskurs darüber entsteht, ist sehr wichtig. Es wurde ersichtlich, dass alle Beteiligten des Abends an unterschiedlichen Punkten wichtiger Lernprozesse stehen und es notwendig ist, gemeinsam im Gespräch zu bleiben. Für #strongbymissio und MaZ stellte sich die Frage, wie diese Lernerfahrungen bezüglich Weißsein und Antirassismus das weltkirchliche Selbstverständnis beeinflussen und welche Rolle sie in einer internationalen Glaubensgemeinschaft einnehmen.

FOTO: #STRONGBYMISSIO
Die deutsche Filmemacherin Annelie Boros (re.) war im Juli 2022 zu Besuch in Aachen und hat mit dem Kollektiv und den anwesenden Gästen ihren Dokumentarfilm Fuck White Tears diskutiert.

HINWEIS

Für neugierig Gewordene: Annelie Boros war ebenfalls im #strongbymissio-Podcast zu Gast und erzählt in der Folge noch mehr über die Hintergründe und Entstehungsprozesse des Films. Außerdem kann der Filmabend auf dem Instagramkanal @strongbymissio nachgeschaut werden. Für Updates zu Veranstaltungen und spannenden Themenreihen von #strong bymissio darf direkt dem Instagramkanal gefolgt werden.

ANMERKUNGEN
[1] Klassifizierungen aus der Apartheidzeit, welche die Gesellschaft Südafrikas bis heute strukturieren.
[2] White fragility bezeichnet die Abwehrmechanismen weißer Menschen, wenn sie mit Rassismus und den damit einhergehenden Privilegien konfrontiert werden.