Bénézet Bujo gehört zu den wenigen Afrikanern, die im deutschsprachigen Raum einen Lehrstuhl innehaben. Der inzwischen 63-jährige Priester aus der Diözese Bunia / Demokratische Republik Kongo hat sein theologisches Studium in Kinshasa (1969: Lizenziat) und Würzburg (Promotion 1977 und Habilitation 1983) absolviert. In die Heimat zurückgekehrt, wurde er bald unbequem. Die Freiheit des Theologen nutzend, nahm er für sich das Recht in Anspruch, laut und unverblümt das zu artikulieren, was ihm wichtig erschien. Er kritisierte unter anderem die sich damals anbahnende Praxis der Fallschirmspringerbischöfe (Evêques parachutistes), die auf Befehl vom Vatikan in Bistümer landeten, von denen sie keine einzige Sprache kannten, von der lokalen Kirchengeschichte ganz zu schweigen. Den Mut, kein Blatt vor dem Mund zu nehmen, bezahlte er mit dem Verlust seines Lehrstuhls an der theologischen Fakultät von Kinshasa. Seit 1989 lehrt und forscht er im Fachbereich Moraltheologie an der Universität Fribourg in der Schweiz.
Die zahlreichen Veröffentlichungen des kongolesischen Theologen teilen sich in drei Gruppen. Aus seiner Feder stammen zunächst Arbeiten die ganz der westlichen Tradition gewidmet sind. Seine Promotion wie auch seine Habilitation haben die Lehre von Thomas von Aquin zum Gegenstand. Dieser intensive Umgang mit dem bekanntesten und bei weitem einflussreichsten Schüler des Albertus Magnus hat ihm die Prämissen der christlichen Theologie römisch-katholischer Prägung erschlossen.
Eine andere Reihe von Schriften, die der gebürtige Kongolese vorgelegt hat, richten das Augenmerk des Lesers ausschließlich auf Afrika. Dazu gehören unter anderem sein Plädoyer zugunsten der afrikanischen Theologie, sein Buch über die Bedeutung der zehn Gebote im heutigen Afrika und seine Weihnachtsmeditationen. In diesen Werken tritt uns ein Vertrauter der kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Landschaften südlich der Sahara entgegen.
Als Schwarzafrikaner, der in Europa lehrt und forscht, kann Bénézet Bujo nicht umhin, sich den Fragen nach der Vermittlung zwischen diesen beiden Welten zu stellen. Von diesem Dialog, den er führt, zeugen u. a. zwei grundlegende Publikationen: »Die ethische Dimension der Gemeinschaft« (1993) und »Wider den Universalanspruch westlicher Moral« (2000).
Der wesentliche Beitrag Bujos zur afrikanischen Theologie liegt meines Erachtens in der »Begründung des Sittlichen«. Eines der durchgehenden Motive seiner Veröffentlichungen ist in der Tat die Normfindung und Normsetzung. Dabei ist der Theologe entschieden gegen jede ethische Monokultur. Unmissverständlich distanziert er sich von jeder Einbahnstraßen-Methode bei der Begründung ethischer Normen. Dagegen plädiert er mit aller Entschlossenheit für einen Pluralismus, der den verschiedenen Sprachen, Kontexten und Kulturen Rechnung trägt. Es versteht sich von selbst, dass er in diesem Konzert die Musik Afrikas zum Erklingen bringen will.
Laut Bujo wurzelt die Ethik in der Anthropologie. Nicht in einer abstrakten Vorstellung, sondern in einer konkreten Gemeinschaft nimmt sie ihren Ausgang. Von europäischem Standpunkt betrachtet, könnte sie als irrational erscheinen. Doch ihr liegt eine eigene Logik zugrunde. Für den Theologen Bujo ist es wichtig, mit Nachdruck zu betonen, dass die afrikanische Anthropologie eine Tri-Dimensionalität aufweist. Sie verbindet die Lebenden sowohl mit den Vorfahren als auch mit den Noch-nicht-Geborenen. Sie berücksichtigt sowohl die sichtbare als auch die unsichtbare Welt. Der Mensch lebt aus der Gemeinschaft mit dem Anderen, mit anderen und mit dem Kosmos. Streng genommen darf aus der afrikanischen Perspektive heraus von keiner autonomen Moral die Rede sein. Weltethos und Heilsethos, profan und sakral, sind hier engstens miteinander verwoben: »Denn in der afrikanischen Ethik wird Recht und Moral nicht so unterschieden, dass das Weltliche bzw. die Politik und das Religiöse aus einanderfallen«. Die Ethik, die auf diesem tri-dimensionalen Menschenbild basiert, wird immer die Erinnerung an die Botschaft der Ahnen bzw. Stammesgründer wach halten, wobei es dabei nicht darum geht, starre Traditionen tautologisch zu wiederholen, sondern gerade im Geist der Vorfahren das Herkömmliche zu aktualisieren. Und das Wesentliche an der Botschaft dieser Vorfahren ist, so Bénézet Bujo, die Weitergabe des Lebens in Fülle. An diesem Maßstab werden also alle Verhaltensweisen, ethisch vertretbar bzw. unvertretbar, gemessen.
Den Fundort dieses Menschenbildes siedelt Bujo in den vielen Sprichwörtern, Märchen, Rätseln, Tänzen, Masken, Initiationsriten usw. an. Ihm zufolge ist es kein Zufall, dass bei der unvermeidlichen Aktualisierung des Geistes der Vorfahren dem gegenseitigen Austausch im Palaver eine besondere Bedeutung zukommt. Denn das Wort ist, wie die Bambara ausMali es schön ausdrücken, so unermesslich, dass kein einziger Mund es erschöpfen kann. Der Dialog unter den lebenden Nachfahren spielt demnach eine unverzichtbare Rolle. Es ist infolgedessen nicht übertrieben, wenn die afrikanische Ethik, die nur auf dem Hintergrund des eben entworfenen Menschenbildes zu begreifen ist, als Palaverethik bezeichnet wird. Damit wird hervorgehoben, dass Normfindung und Normsetzung gemeinschaftlich stattfinden.
Doch man täusche sich nicht. Indem Bénézet Bujo auf dieses anthropologische Fundament des Sittlichen aufmerksam macht, ist er keineswegs bestrebt, eine arrogante Selbstlegitimierung der afrikanischen Kulturen an den Tag zu legen. Gewiss begründet er die afrikanische Ethik. Doch er spricht sie nicht heilig. Er beleuchtet den Hintergrund einiger Sitten und Bräuche (Viel- Ehe, Witwen-Ehe, Zauberei, Tabus usw.), ohne sie für unantastbar zu halten. Ihm liegen jede polemische Absicht und jeder Absolutheitsanspruch fern. Vielmehr geht es ihm um einen offenen Dialog, um ein Geben und Nehmen.
Wie tritt nun der afrikanische Theologe, der die europäische Tradition durchquert hat, mit einigen gegenwärtigen Denkweisen ins Gespräch? Eine Ethik die auf dem Naturrecht basiert, wird beispielweise auf die Fragen nach der Empfängnisverhütung, der Viel-Ehe oder der Witwen-Ehe mit dem Verweis auf das in der Natur verankerte Ziel reagieren. Ob nun die Natur selber eine so klare und deutliche Sprache spricht, dass die Entlarvung ihrer Absicht nicht mühsam wäre, bleibt eine offene Frage. Texte vom Heiligen Stuhl wie »Humane vitae« und der »Katechismus der katholischen Kirche« bewegen sich offensichtlich im Horizont dieses Naturrechtsdenkens. Demgegenüber betont Bujo, dass die afrikanische Ethik von einer konkreten Gemeinschaft ausgeht. Nicht abstrakt, sondern narrativ verfährt sie. Sie zielt nicht auf eine Letztbegründung des Sittlichen ab, sondern sie bleibt in ihrer Bescheidenheit offen für die Ergebnisse des gemeinschaftlichen Palavers.
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Von der Perspektive der tridimensionalen afrikanischen Anthropologie her wirft Bénézet Bujo einen nicht unkritischen Blick auf den Kommunitarismus, wie etwa Ferdinand Tönnies ihn beschreibt. Wie die afrikanische Ethik, so betont der letztere auch die Dimension der Gemeinschaft. Von Bedeutung sind ihm der Kontext, die Geschichte und die Narrativität. Über diese Gemeinsamkeiten hinaus erblickt der kongolesische Theologe doch einen grundlegenden Unterschied, nämlich die Ausblendung der unsichtbaren Dimensionen des Lebens. Die afrikanische Ethik bezieht unbedingt die Ahnen und die Noch-nicht-Geborenen mit ein. Und während dieser Kommunitarismus letzten Endes dem Menschen als Individuum die letzte Entscheidung überlässt, unterstreicht die afrikanische Ethik die gemeinschaftliche Dimension.
Der Diskursethik, wie Habermas sie vertritt, hält der Moraltheologe vor, sie lege einen zu starken Akzent auf die Rolle der Vernunft bei der Findung und Setzung von Normen. Und gegen die Repräsentanten der Situationsethik, wie etwa Kierkegaard, Robinson und Fletscher, die im Endeffekt die Umsetzung von ethischen Normen dem individuellen Gewissen überlassen, argumentiert Bujo, dass die darin lauernde Gefahr der Diktatur durch das gemeinschaftliche afrikanische Gewissenverständnis abgewehrt werden kann. Es ist allerdings ein unbestreitbarer Vorteil des Palavers, dass dank ihm das persönliche Gewissen durch die Meinungen anderer derart erweitert und bereichert wird, dass derWillkür des Einzelnen entgangen werden kann.
Nach diesen kurzen Ausführungen stellt sich unweigerlich die Frage nach dem Lehramt. Dass das Lehramt eine wichtige und unverzichtbare Funktion in der Kir che ausübt, räumt Bénézet Bujo ein. In dem Papst bzw. Bischof sieht er den älteren Bruder, dessen Aufgabe in der afrikanischen Großfamilie darin besteht, die Erinnerung an die Botschaft der Stammesgründer wach zu halten. In diesem Zusammenhang bezeichnet Bujo Jesus als den Protoahn, der, der Chronologie wie der Bedeutung nach, allen Ahnen vorausgeht. Dem Lehramt wirft er jedoch vor, ausschließlich entlang des Naturrechts zu argumentieren und vor allem bei der Normfindung und Normsetzung kein Palaver mit dem gesamten Volk Gottes zu führen. Im Klartext: Das Lehramt könnte durch die Palaverethik ergänzt werden.
Heißt dies nun, dass Bénézet Bujo die afrikanische Ethik heilig sprechen will? Keineswegs. Die Schwachstellen der afrikanischen Traditionen will er durch seine Schriften weder vertuschen noch beschönigen. Es sei hier lediglich auf drei Verhaltensweisen aufmerksam gemacht, die er schonungslos geißelt und unmissverständlich ablehnt: die moderne Viel-Ehe, die Pflicht zur Solidarität und der Missbrauch politischer Macht. Die hier angeprangerten Verhaltensweisen – man könnte noch viele anderen hinzuzählen – lassen sich weder mit der afrikanischen Tradition noch mit dem Christentum rechtfertigen. In der Tat: Legt man die Maßstäbe des Evangeliums und der Botschaft der Ahnen an, dann kommt es in den gerade erwähnten Bereichen zwangsläufig zu Kurskorrekturen. Die heute in vielen Großstädten praktizierte Polygamie dient nicht mehr dem Leben der Gemeinschaft. Im Gegenteil: Sie verletzt die Würde der ersten Frau und sorgt oft für Spannungen, die den Zusammenhalt der Familie gefährden. Bei allem Verständnis für die Bedeutung der Großfamilie darf sich die Sippensolidarität nicht zum Schmarotzertum entwickeln, wie es leider immer häufiger der Fall außerhalb der Dorfgemeinschaften wird. Schließlich: Es widerspricht sowohl dem Geist der Ahnen als auch dem des Christentums, dass sich einige Machthaber schamlos auf Kosten der gesamten Bevölkerung bereichern und absichtlich an den Nöten der ihnen anvertrauten Menschen vorbeireden.
Achille Mutombo-Mwana
Dr. theol., Pfarrer in der Seelsorgeeinheit Hohenneuffen