Gewiss gibt es Spannungen zwischen der Aymara- Spiritualität und dem religiösen Selbstverständnis der christlichen Kirchen. Ich selber bin als Frau und Aymara das Opfer sexistischer und rassistischer Auffassungen unter den Pastoren meiner eigenen Kirche, der methodistischen Kirche, geworden und habe mich deshalb auch nicht zur Pastorin ordinieren lassen«. In dieser Aussage finden sich in sehr verdichteter Form der Werdegang und die Problematik der bolivianischen feministischen Aymara-Theologin Vicenta Mamani Bernabé, die hier kurz vorgestellt werden soll. Schon in ihren beiden Familiennamen spiegelt sich die Geschichte der indigenen Völker von Abya Yala (wie Lateinamerika unter den Einheimischen genannt wird), die eine Geschichte der Beherrschung, Vermischung und Marginalisierung ist. »Mamani« ist von Ursprung her Ketschua-Aymara und bedeutet »Adler« und »Bernabé« ist spanischen Ursprungs. Vicenta Mamani bewegt sich seit ihrer Kindheit – und natürlich auch in ihrer Theologie – zwischen diesen beiden so unterschiedlichen Welten.
Vicenta kam als älteste von drei Schwestern in der kleinen Bauerngemeinschaft Ticohaya am nordöstlichen Ufer des Titicaca-Sees, nahe der peruanischen Grenze, auf die Welt. Die Eltern waren Kleinbauern und widmeten sich vor allem dem Ackerbau (Quinua, Kartoffeln, Bohnen, Gerste) und der Kleinviehzucht (Schafe, Lamas, Hühner, Schweine). Ihre Muttersprache ist Aymara, und erst auf der Grundschule erlernte Vicenta mühsam das Spanisch, das bis heute von der Syntax des Aymara geprägt ist. Ihre Mutter blieb bis zu ihrem Tod vor vier Jahren Analphabetin. Als einzige der drei Schwestern schaffte Vicenta das Abitur, und in der Abschlussklasse war sie das einzige Mädchen.
Mit 15 Jahren trat die ganze Familie von der katholischen zur methodistischen Kirche über, die im Gebiet von Escoma, woher Vicenta stammt, eine lange und engagierte Präsenz aufweist. Die Konversion hatte mit familiären Problemen zu tun, war ihr Vater doch oft betrunken und schlug ihre Mutter. Als einziger Ausweg in einer von Alkohol und Machismus (»Männlichkeitswahn «) geprägten Gesellschaft galt damals und gilt auch heute noch der Übertritt zu einer evangelischen Kirche, um dem Teufelkreis von Alkohol und Gewalt zu entkommen. Vicenta betont, dass sie von Kindsbeinen an immer gearbeitet habe und deshalb das harte Leben der Campesinos und Indígenas am eigenen Leib erfahren habe.
Eigentlich wollte sie Lehrerin werden, aber die Gebühr für die Aufnahme ans Lehrerseminar in Warisata war zu hoch, sodass sie auf Anraten des methodistischen Pastors, aber gegen den Willen der Eltern, nach La Paz zog und dort mit dem Theologiestudium begann: zuerst am CET (Centro de Estudios Teológicos), dann am ISETRA, was später zum ISEAT (Instituto Superior Ecuménico Andino de Teología) wurde. Nach dem theologischen Diplom ging sie für das Lizentiat nach Costa Rica, wo sie an der Biblischen Universität Lateinamerikas (Universidad Bíblica Latinoamericana UBL) den akademischen Titel erlangte. Ihre Abschlussarbeit zur Aymara-Identität und -Spiritualität wurde später dank der Unterstützung durch die Basler-Mission (»Mission 21«) veröffentlicht.
Im Anschluss an ihr Lizentiat arbeitete Vicenta lange am Centro de Teología Popular (Zentrum für Volkstheologie) in La Paz. Schließlich schaffte sie 2004 den Master an der UBL, diesmal mit einer Arbeit zur »Aymara-Frau, die auswandert«. Danach arbeitete sie bei den Maryknoll und dem Institut für Missionswissenschaft in Cochabamba und lernte nebenbei Englisch. Die letzten vier Jahre lebte sie wieder in ihrer ursprünglichen Bauerngemeinschaft, um ihre verstorbene Mutter zu ersetzen, und war zudem »indigene Autorität « (Mallku) ihres Dorfes. Vor kurzem heiratete sie den methodistischen Theologen Carlos Intipampa und lebt seitdem in La Paz. Sie möchte noch ein Doktorat zur indigenen Theologie (Teología India) erlangen, was aber in Bolivien nicht möglich ist.
Vicenta Mamani versteht sich gleichzeitig als feministische und indigene Theologin, wodurch sie mit verschiedenen Strömungen und Positionen in Konflikt gerät. Als Frau und ausgebildete Theologin hat sie gegen die Vorurteile in ihrer eigenen Kirche (der methodistischen) zu kämpfen, wonach eine Frau noch immer um das Pastorenamt zu kämpfen hat und sich auch als Theologin beweisen muss, auch ist sie viel besser ausgebildet als ihre männlichen Kollegen. Sie meint auch ganz unumwunden, dass es einen typisch indigenen Machismus und Sexismus gibt und gerät damit in Konflikt mit der Ideologie indigenistischer Kreise, wonach die Diskriminierung der Frau spanischen und damit abendländischen Ursprungs sei. Als indigene Theologin gerät sie zudem in Spannung mit der vor allem in evangelischen Kreisen beheimateten Kritik am »Neuheidentum « indigener Spiritualität und Religiosität.
Theologie ist für Vicenta Mamani ein Nachdenken über den konkreten Glauben der Menschen, in diesem Falle der Aymaras Boliviens, und zwar ausgehend von der konkreten Erfahrungs- und Erlebniswelt der Aymara-Frauen. Immer wieder betont sie, dass ihre Theologie Ausdruck dessen sei, was sie lebe; und was sie lebe, sei Ausdruck einer tiefen indigenen christlichen Spiritualität. In ihren Publikationen geht es immer wieder um die Spannung zwischen der einheimischen Kultur, Spiritualität und Religiosität einerseits und der biblischen und abendländischen theologischen und religiösen Tradition andererseits.
Dazu kommt noch, dass Vicenta Mamani ihre Tätigkeit ganz entschieden im Rahmen einer feministischen Theologie versteht, allerdings nicht im Sinne der in Europa oder den USA beheimateten feministischen Tradition, sondern eben als indigene feministische Theologie. Und dabei geht es auch um Themen der Ökotheologie, der Kritik an indigenen Formen von Sexismus, Machismus und kirchlichem Vertikalismus und einen genuinen Aymara-Feminismus. Im Moment interessiert sie besonders die interkulturelle Bibelhermeneutik aus feministischer Perspektive, die einen Brückenschlag zwischen einem patriarchalisch geprägten biblischen Kontext und der umfassenden Befreiung der indigenen Aymara-Frauen in der heutigen Zeit schlagen möchte. »Die Freundschaft, die Begegnung, die Feier des Lebens, ein neues Engagement: wir öffnen weite Horizonte zugunsten der Frauen, vor allem der indigenen Frauen im Andenhochland Boliviens«. Vicenta Mamani tritt auch bei akademischen Anlässen nach wie vor mit der typischen Pollera (weite wie Zwiebelschalen übereinander getragene Röcke) und dem hohen runden Hut auf.
JOSEF ESTERMANN
Leiter des Romero-Hauses in Luzern, Schweiz; von 1998 bis 2003 Leiter des Missionswissenschaftlichen Instituts Missio e.V., Aachen
Auf Spanisch erschienen:
Zur Teología India siehe: