Victor Codina SJ

Foto: Víctor Codina

»Tagebuch eines nachkonziliaren Theologen« heißt das zuletzt erschienene Werk von Víctor Codina SJ. Als Untertitel trägt die Publikation den Titel »Zwischen Europa und Lateinamerika«. In den sehr persönlich gehaltenen Tagebuchnotizen ist der Lebensund Denkweg des Autors zu verfolgen, der mit einer Vielzahl von Büchern und mehr als 400 Beiträgen ein beachtenswertes theologisches Werk vorweist. Nach Einschätzung des früheren Generalministers der Franziskaner und missio-Präsidenten Hermann Schalück zählt Codina zu den wichtigsten Vertretern der Befreiungstheologie (s. dazu: ThEW, Band 4, Freiburg 2013).

Im »Who is Who« der lateinamerikanischen Ordensleute bezeichnet sich Víctor Codina selbst scherzhaft als »Dinosaurier«, als eine Art Überbleibsel vergangener Tage. 1931 kommt er in Barcelona zur Welt. Seine Schulzeit verbringt er in Katalonien und tritt nach dem Abitur in das Noviziat der Gesellschaft Jesu ein. Philosophie und Theologie studiert er in Barcelona, Innsbruck, Münster, Paris und Rom, wo er seine Studien 1966 mit dem Doktorat abschließt. Das theologische Promotionsstudium im Bereich der Spiritualität wird ein grundlegender Baustein für seine weiteren Tätigkeiten als Dozent und Seelsorger sein. Auch die Auseinandersetzung mit der Patristik wird eine Quelle, aus der Codina reichlich schöpfen wird. Gerade in seinen Werken zur Pneumatologie leuchtet seine weitreichende Kenntnis der Väterzeit auf, die er mit der Lebenswirklichkeit Lateinamerikas zu verbinden weiß. In die 1970er Jahre fällt der erste intensive Kontakt mit der bolivianischen Kirche, wo inzwischen sein Bruder Gabriel Codina SJ lebt und arbeitet. Der zunächst punktuelle Kontakt mit Bolivien wird Codina jedoch zu einem entscheidenden Schritt bewegen: Nach langjähriger Lehrtätigkeit an der Jesuitenhochschule von Barcelona geht er im Jahr 1982 – mit über 50 Jahren – nach Bolivien. Das Andenland wird ihm zur Heimat, wenn er auch auf den weiteren Austausch und regelmäßige Besuche in seiner katalanischen Heimat bedacht ist. In Bolivien wird er seine profunden, in Europa gelernten theologischen Grundlagen vertiefen und sie im Kontext der lateinamerikanischen Kirche ausbuchstabieren und weiterdenken. So wird er zum Grenzgänger zwischen Europa und Lateinamerika, zwischen Nord und Süd, zu einem Garant des Austauschs zwischen unterschiedlichen Lebenswelten.

Eine innere Motivation, den Weg nach Südamerika einzuschlagen, ist die Ermordung des ihm aus dem Noviziat bekannten Weggefährten Luis Espinal SJ, der in der Nacht des 22./23. März 1980 in La Paz von den Militärs umgebracht wird. Das Leben und das Sterben Espinals, der als Märtyrer der gesamten südamerikanischen Kirche verehrt wird, sind für Codina Auftrag und Verpflichtung. So wird er immer wieder auf »Lucho« Espinal verweisen, um sein Erbe wachzuhalten und um auf die Kraft der Märtyrer zu verweisen. In einem Brief an »Lucho« schreibt er: »30 Jahre nach deinem Martyrium, möchte ich Dir sagen, dass Dein Leben und Dein Tod Sinn hatten, dass es Wert ist, sein Leben für die anderen zu geben, sich einzusetzen, so wie Du es in einem Deiner bekanntesten Gebete ›Gastar la vida‹ [Das Leben hingeben] schreibst; dass es möglich ist, den Glauben an Jesus von Nazareth mit der Gerechtigkeit des Reiches Gottes zu verbinden, dass es möglich ist, die Mystik des Evangeliums mit der Prophetie zu leben.« (V. C., Carta a Luis Espinal. In: Una Iglesia nazarena, Santander 2010, 212).

Codina selbst beginnt seinen bolivianischen Weg im Andenhochland. In der krisengeschüttelten Minenstadt Oruro arbeitet er als Seelsorger in einer Pfarrei und erlebt die Konsequenzen der Verarmung der Bergleute existentiell mit. Das Zusammenleben mit dem armen Volk und der Kontakt mit den arbeitslosen Minenarbeitern, den Witwen und den Kindern auf der Straße prägt seine Theologie wesentlich. Codinas theologisches Nachdenken ist stets mit dem Engagement an der Basis verbunden und an den Alltag der Menschen rückgebunden. Die Option für die Armen ist in diesem Sinn konkret. Die pastorale Arbeit und die Theologie bedingen einander und stehen in einem wechselseitigen Verhältnis. Über die pastorale Tätigkeit hinaus arbeitet er an der Theologischen Fakultät in Cochabamba mit. Bis 2011 wird er dort, z.T. durch längere Auslandsaufenthalte unterbrochen, Dogmatik mit den Schwerpunkten der Sakramententheologie, Ekklesiologie und Spiritualität unterrichten.

Biographische Daten

  • Geboren am 05.11.1931 in Barcelona; 1948 Eintritt in den Jesuitenorden
  • Studium der Theologie und Philosophie in Barcelona, Innsbruck (u. a. bei Karl Rahner), Rom und Münster
  • 1966 Doktorarbeit an der Päpstlicen Universität Gregoriana »El aspecto cristológico en la espiritualidad de Juan Casiano«
  • 1965–1984 Lehrtätigkeit in Barcelona
  • Seit 1982 in Bolivien u. a. als Professor an der Theologischen Fakultät der Katholischen Universität in Cochabamba, als Seelsorger, Exerzitienbegleiter und theologischer Berater.

Eine Auswahl von Publikationen

Auf Spanisch erschienen:

  • Diosito nos acompaña siempre … y otros escritos al filo del camino, Cochabamba 2013.
  • Diario de un teologo del posconcilio. Entre Europa y América Latina, Bogotá 2013.
  • Una Iglesia nazarena. Teología desde los insignificantes, Santander 2010.
  • »No extingáis el Espíritu« (1 Ts 5,19). Una iniciación a la Pneumatología, Santander 2008.
  • Creo en el Espíritu Santo. Pneumatología narrativa, Santander 1994.
  • La mistagogía ignaciana. In: Revista Iberoamericana de Teología, 5 (2009) 8 –9, H. 9, S. 7–26.
  • Teología narrativa. In: Revista CLAR, 50 (2012) S. 43–53.
  • Eclesiología de Aparecida. In: Revista Iberoamericana de Teología, 4 (2008) 6 –7, H. 6, S. 69– 86.

Auf Deutsch erschienen:

  • Vorwärts zu Jesus zurück. Von der modernen Theologie zur solidarischen Nachfolge, Salzburg 1990.
  • Ordensleben (zusammen mit Noé Zevallos), Düsseldorf 1991.
  • Die lateinamerikanische Ekklesiologie der Befreiung. In: Castillo, Hrsg., Die Kirche der Armen in Lateinamerika. Eine Theologische Hinführung, Freiburg (CH). 1987.
  • Sakramente. In: Ignacio Ellacuría / Jon Sibrino, Hrsg., Mysterum Libertationis, Madrid 1990, Band II, 267–294.
  • Die Weisheit der lateinamerikanischen Basisgemeinden / Übers.: Victoria M. Drasen-Segbers. In: Concilium, 30 (1994) 348–354.
  • Theologie und Glaube in Lateinamerika. In: Münchener Theologische Zeitschrift, 42 (1991) 121–140.
  • Der Geist des Herrn erfüllt das All: Eine Reflexion aus Lateinamerika / Übers.: Bruno Kern. In: Concilium 47 (2011) 451–460.

Wegweisend ist für Codina dabei eine Theologie, die sich im Kontext der Armut den Fragen der Menschen stellen muss: Will Gott die Situation des Leids, des Elends, des »frühzeitigen Sterbens« (Las Casas)? Wie angesichts einer Situation des Todes von Gott sprechen? In diesen Fragestellungen sind ihm der Austausch und das existentielle Ringen um Antworten mit dem Jesuitengefährten Ignacio Ellacuría, mit dem er seit der gemeinsamen Studienzeit in Innsbruck befreundet ist, bedeutsam. In der dreifachen Begegnung mit der »Wirklichkeit« sucht er nach Gottes Spuren. Die Schlüsselworte dazu heißen: »Hacerse cargo de la realidad« (sich mit der Realität auseinandersetzen), »Encargarse de la realidad« (die Realität annehmen) und »Cargar con la realidad« (die Realität tragen). In der Anerkennung der Wirklichkeit bedeutet das im Kontext Lateinamerikas folglich, die Situation der Armut anzuschauen und sie zu tragen beziehungsweise zu ändern. Im Gesicht des Armen ist nach Víctor Codina das leidende Antlitz des Gottesknechtes zu entdecken, der kein schönes Aussehen hat und voller Schmerzen ist (Jes 53). Der Arme ist Sakrament Christi. So schreibt Codina im Grundsatzartikel des Standardwerkes »Mysterium Liberationis« zum Sakramentenbegriff: »Die Sakramente sind jene symbolischen Gesten der Kirche, die sich auf die Realisierung des Gottesreiches ausrichten – in Kontinuität mit den Heilstaten Jahwes im Alten und Jesu im Neuen Bund. Sie sind Vollzüge der Kirche von besonderer Dichte und Transparenz für das Reich Gottes, sie sind österliche Orte des Durchgangs durch den Tod zum Leben […]. Sie sagen die gute Botschaft vom Reich an, sie klagen die Sünde an und fordern die Veränderung der personalen und geschichtlichen Realität.« (V. C., Sakramente. In: Myst Lib., 282). An weiterer Stelle stellt Codina die Bedeutung der Sakramentalien heraus; für ihn sind es die »Sakramente der Volkes«. Aus eigener Anschauung und Erfahrung weiß er um die unkomplizierte und natürliche Religiosität des bolivianischen Volkes, das zu den vielen (Marien-)Wallfahrtsorten pilgert, im Zyklus des Jahreskreislaufes um den Segen für die Frucht der Erde bittet, für die Ernte dankt oder in den Riten der jeweiligen Kultur (Quechua, Aymara, Guaraní, Trinitarios u. a.) feiert und das Leben unter den Schutz Gottes stellt. Ein ganzes »Konglomerat von Symbolen, Bildern, Nachtwallfahrten« zeigt die Vielfältigkeit der Frömmigkeit auf. Codina entdeckt darin das besondere Vertrauen der Menschen in das Leben, das getragen und gesegnet ist. Denn: »Diosito nos acompaña siempre«. Gott (eigentlich: unser »Gottlein«, unser »kleiner Gott«; Diosito = Diminutiv) ist immer für uns da, begleitet uns, schützt uns. Für Codina ist diese zärtliche Aussage aus dem Mund einer Mutter zu ihrem Kind ein starkes Glaubenszeugnis des einfachen Volkes, das keinen Zugang zur akademischen Wissenschaft hat, dennoch in einem tiefen Gottesglauben lebt (Mt 11,25). So entdeckt Codina in den alltäglichen Begegnungen die Spuren Gottes und erkennt darin den Wert der narrativen Theologie. Zuletzt hat Codina die von ihm gesammelten Glaubensgeschichten zusammengetragen und unter dem programmatischen Titel »Diosito nos acompaña siempre« veröffentlicht. Für ihn selbst, der mit ganzem Herzen Priester und Ordensmann ist, mag der programmatische Titel ein wesentlicher Ausdruck seines persönlichen Glaubens sein, der ihn weiterfragen lässt: Inwieweit tragen die Sakramente tatsächlich zu einer tiefen und weitgehenden Evangelisierung bei? Werden die Sakramente nur rituell vollzogen? Gibt es durch sie eine Rückkoppelung zwischen der Feier des Glaubens und der Wirklichkeit des gesellschaftlichen und politischen Lebens?

Als Beispiel nennt er die Taufpraxis und unterscheidet im Kontext des lateinamerikanischen Kontinentes zwischen »Getauften« (bautizados) und »Evangelisierten « (evangelizados). Es ist an der Zeit, die Kirche »der oberflächlichen Katechese« zu verlassen und eine »Kirche der Jüngerschaft« zu entwickeln. Aus diesem Grund fordert er in seinen ekklesiologischen Überlegungen in die »Schule« des Jesus von Nazareth zu gehen, um ihm als »Jünger« nachzufolgen. Damit steht er im Einklang zum Dokument von Aparecida (2007), das die Kirche zur Ausbildung und zur Formung von »Jüngern und Missionaren« ermutigt. Ein besonderes Augenmerk richtet Codina in der Ekklesiologie auf die »Communidades Eclesiales de Base« (CEBs), zu denen er seit Jahren einen intensiven (internationalen) Kontakt pflegt und zu denen er schon früh visionär gearbeitet hat. In einem ins Deutsche übersetzen Beitrag heißt es: »Die Basisgemeinden sind eine neue, andere Art von Gesellschaft und von Kirche. Sie beginnen, ein gemeinschaftliches, organisiertes Modell von Kirche zu leben, das mit den Bedürftigen solidarisch und human ist […]. Sie stehen für einen Glauben, der eng mit dem Leben verbunden und in die verschiedenen Kulturen eingebunden ist, der in den Festen gefeiert wird und der der Hoffnung des Volkes Nahrung gibt«. (V. C., Die Weisheit der lateinamerikanischen Basisgemeinden. In: Concilium 30 [1994] 353). Der vor 20 Jahren geschriebene Beitrag hat nichts an Aktualität eingebüßt; er kann in den aktuellen pastoralen Suchbewegungen ein Impuls sein, der die Verantwortung und die Sendung aller Getauften betont. Über das Engagement für die Basisgemeinden hinaus hat Víctor Codina seine theologische Arbeit immer wieder in den größeren Horizont der Kirche Südamerikas gestellt, wenngleich es in den 1980er Jahren zu Irritationen zwischen dem Magisterium und seiner Person kam. Die Kirche Boliviens wird ihn jedoch als einen großen theologischen Ratgeber schätzen lernen. 1992 begleitet er beispielsweise die Bolivianische Bischofsdelegation zur vierten Kontinentalkonferenz nach Santo Domingo, deren Ergebnisse weder für ihn noch für die bolivianischen Bischöfe zufriedenstellend sind. Als ein gelungenes Beispiel seiner theologischen Schaffenskraft und Inspiration kann die Synode des Erzbistums Santa Cruz (1997 – 2001) gelten. Kardinal Julio Terrazas CSsR, mit dem Codina seit seiner Ankunft in Oruro freundschaftlich verbunden ist, berief ihn als theologischen Berater der Diözesansynode, die durch ihre Dynamik nicht nur das Leben der Ortskirche von Santa Cruz inspirierte, sondern viele positive Akzente im gesamten südamerikanischen Land zu setzen vermochte. Die Schwerpunktsetzung des synodalen Abschlussdokumentes sind die Pastoral der Partizipation, Entwicklung und Förderung des menschlichen Lebens, Basisgemeinden, Laien und Jugendliche.

Diese Wegmarkierungen der pastoralen Planung der Erzdiözese Santa Cruz sind auch Widerhall der Theologie Víctor Codinas, der trotz seines fortgeschrittenen Alters mit wachem Geist und jugendlicher Frische die Geschehnisse in Welt und Kirche beobachtet. Seine neuerlichen Überlegungen zur Pneumatologie und zur »Iglesia Nazarena«, einer Kirche im Geist der Einfachheit des Lebens Jesu in Nazareth, sind gewichtige theologische Zwischenrufe, die nicht nur in Bolivien oder seiner katalanischen Heimat gehört werden sollten. Sie betonen die Rückbesinnung auf das Evangelium Jesu Christi, das alle Menschen und Völker ansprechen will, besonders aber den Armen, Schwachen, Verletzten und Gestrauchelten gilt. Víctor Codina steht als Jesuit, Theologe und Grenzgänger der Kontinente glaubwürdig für diese Rückbesinnung auf das Evangelium ein.

MICHAEL MEYER
Dr. theol., ist Kaplan in der Pfarreiengemeinschaft Völklingen St. Eligius und war Referent der Abteilung »Theologische Grundlagen« bei missio Aachen