Über Ivone Gebara, eine der bekanntesten lateinamerikanischen Theologinnen, zu schreiben bricht traditionelle akademische Diskurse; der Anfang müsste ein anderer sein – ein Blick auf eine Blume an einem Sommermorgen, den Tautropfen, der ihren Stängel hinunter sich einen Weg in das Erdreich bahnt, oder auf die Menschenknäuel in einer überfüllten Vorstadt- Metro, wie in ihrem Miteinander trotz der müden Abendgesichter ein Lebensschimmer aufleuchtet. Das Leben in aller Nacktheit und Kargheit erhaschen, in der Schönheit der Alltäglichkeit, entäußert aller Masken, reduziert auf das Wesentliche, auf den Kern, der Schritte in die Zukunft ermöglicht: »Option für das Leben«. Das wäre der Beginn einiger Anmerkungen über die brasilianische Theologin Ivone Gebara, es wären Anmerkungen über die Zukunft der Theologie aus brasilianischer Perspektive, aus Perspektive einer Frau, eine poetische Theologie, getragen von der Dynamik des Zukunft je neu eröffnenden Geistes Gottes, frei von unnötigem Ballast der Vergangenheit, aber auch frei von jedem nutzlosen Klagen und Leiden an der Kirche, eine konstruktive Theologie im Dienst des Lebens, in der Aufmerksamkeit auf die kleinen und großen Regungen des Lebens in der Gegenwart der Alltäglichkeit. Ivone Gebaras Theologie kann nicht in Rubriken eingezwängt werden – »Theologie der Befreiung «, »holistische Theologie« oder »Ökofeminismus«; sie ist ein Weg, in der Lektüre der Zeichen der Zeit der Theologie neue Horizonte zu eröffnen, gerade angesichts des Wegfalls aller Sicherheiten in Zeiten der Globalisierung und der Bedrohung der gesamten Schöpfung durch vielfältigste Formen der Gewalt für den in der Tiefe und Nacktheit der Existenz ansetzenden Schrei nach Leben aufmerksam zu bleiben.
Ivone Gebara wurde 1944 in São Paulo geboren als zweite von drei Schwestern. Mit 22 Jahren, nach ihrem Studium der Philosophie an der Päpstlichen Universität in São Paulo, trat sie in die Gemeinschaft der Notre- Dame-Schwestern ein (Congregação de Nossa Senhora – Cônegas de Santo Agostinho), eine Gemeinschaft französischen Ursprungs, die seit über 100 Jahren in Brasilien erzieherisch und missionarisch tätig ist, vor allem in der Ausbildung von Mädchen und jungen Frauen an Schulen und Universitäten. Zunächst gab sie Philosophieunterricht an einer Schule und begann mit dem Studium der katholischen Theologie in São Paulo. Der für Ivone Gebara in diesen Jahren wegweisende Lehrer war José Comblin, einer der führenden katholischen Intellektuellen in der brasilianischen Kirche, der den Aufbruch zu einer sozial und politisch aktiven Kirche auf Seiten der Armen und Entrechteten entscheidend begleitete. Auf Anregung Comblins setzte Ivone Gebara, die ihren Lehrer bereits im Philosophieunterricht an der Katholischen Universität in São Paulo vertreten hatte, ihr Theologiestudium in Löwen fort und erwarb dort gleichzeitig den Doktortitel in Philosophie mit einer Arbeit über die Frage nach dem Bösen in der hermeneutischen Phänomenologie Paul Ricoeurs. Als sich nach Übernahme der Macht durch die Militärs die politische und soziale Situation in Brasilien zuspitzte, mußte Comblin ins Exil gehen. 1973 übernahm Ivone Gebara Aufgaben Comblins am ITER, dem »Instituto Teológico Recife«, der 1968 von Dom Helder Camara als interdiözesanes Seminar gegründeten Ausbildungsstätte von Priestern, Ordensleuten und Laien verschiedener Diözesen im Nordosten Brasiliens; sie unterrichtete Philosophie und Fundamentaltheologie. Das theologische Institut in Recife, das für den Aufbruch in der lateinamerikanischen Kirche und Theologie der 70er Jahre steht, eine Ideenwerkstatt der Befreiungstheologie und Sozialanalyse, neuer Formen der Pastoral an der Seite der Armen und sozial Schwachen, wurde zu dem Ort, der ihren theologischen Weg ganz entscheidend prägen sollte.
Von Anfang an zeichnet die Theologie Ivone Gebaras ein kreativer Umgang mit den Impulsen aus dem befreiungstheologischen Umfeld aus; die Aufbruchssituation der Nachkonzilszeit und die gemeinsame Suchbewegung in Recife gaben ihr die Motivation, auf der Spur des Schöpferischen im Leben zu sein und von dort zu ihrer theologischen Sprache zu finden. Nur wenn Theologie diesen Lebensfaden entdeckt, kann sie zu ihrem Wort finden und wirklich zur »Lehre von Gott« werden. Dabei ist Leben nie etwas Abstraktes; ihre Erfahrungen als Frau und Theologin, ihr konkreter Lebensort in Randzonen von Recife, in Begleitung vor allem der armen Frauen, deren Leben auf vielfältigste Weise mit den Füßen getreten wird, gab ihrem Zugang zum Leben seine Dichte. Durch die gemeinsame Bibellektüre konnten die Frauen ihren Lebens- und Todeserfahrungen eine Sprache geben und die biblischen Geschichten wurden neu zu Lebens- und Auferstehungsgeschichten der Frauen. Diese – auch in vielen Pastoralkursen im ITER praktizierte – Methodik, eine biblische Hermeneutik in Verbindung mit einem sozialen und anthropologischen Zugang zur Lebenswelt der Frauen, wurde für Ivone Gebara zu einem ersten wichtigen Schritt hin zur feministisch-theologischen Kritik an den Fundamenten »klassischer« Theologie. Dieser Methodik folgt auch die Neuinterpretation der Mariologie, ihr zusammen mit Maria Clara Bingemer verfasstes Buch, das als erstes auch auf Deutsch erschienen ist. Maria als Symbol des Lebens und des Göttlichen in der lateinamerikanischen Volksfrömmigkeit, vor allem der Frauen, eröffnet einen Zugang zum Göttlichen vom Menschlichen aus – »in seiner ganzen Fleischlichkeit, in seiner gefährdeten Ganzheit«. Diesen Weg und mit ihm eine Kritik an abstrakter, lebensleerer Christologie, Gottes- und Trinitätslehre gestaltet Ivone Gebara in den Jahren ihrer Tätigkeit in Recife weiter aus. Angeregt wird sie auch durch Impulse aus dem nordatlantischen Raum wie der Prozesstheologie oder durch Arbeiten feministischer Theologinnen wie Rosemary Radford Ruether und Sally McFague, vor allem aber in Zusammenarbeit mit feministischen Theologinnen in anderen lateinamerikanischen Ländern. Ihrem Denken nahe stehen die um die Zeitschrift »Conspirando « gruppierten chilenischen Theologinnen, deren »Ökofeminismus« mit dualistischen Formen traditioneller Anthropologie bricht, einen »holistischen«, von den Erfahrungen des Körpers und der Verbundenheit allen Lebens ausgehenden Ansatz vertritt. Ein ganz entscheidender Einschnitt bedeutete 1989 die Schließung des ITER durch den Vatikan – eine der vielen römischen »Maßnahmen« gegen den befreiungstheologischen Aufbruch in der lateinamerikanischen Kirche. Betroffen waren 103 Seminaristen und 300 Studenten der Theologie, die pastorale Arbeit im ganzen Nordosten Brasiliens. Ivone Gebara sah sich zunächst als »Nomadentheologin«; sie nahm verschiedene Lehraufträge in den USA, Kanada und Europa an und setzte in Recife ihre Arbeit mit Frauen in den Randzonen der Stadt fort. Es lag nur in der Konsequenz des römischen Vorgehens gegen die lateinamerikanische Befreiungstheologie, dass auch Ivone Gebara – ähnlich wie Anfang der 80er Jahre Leonardo Boff – zum »Fall« wurde: Auslöser war ein Interview zur Diskussion um die Straffreiheit der Abtreibung, das sie 1993 der brasilianischen Zeitschrift »Veja« gegeben hatte. Gerade auf dem Hintergrund ihrer »Option für das Leben« und im Blick auf die von vielfältigen Formen der Gewalt bestimmte Lebenssituation von Mädchen und Frauen in den brasilianischen »favelas« – Prostitution, Vergewaltigung, heimlicher Abbruch von ungewollten Schwangerschaften (in Brasilien werden 31 von 100 Schwangerschaften heimlich abgebrochen) – plädierte sie für ein offenes, situationsethisch begründetes Vorgehen. Trotz Einsatzes von Dom Luciano Mendes de Almeida, dem Präsidenten der brasilianischen Bischofskonferenz, wurde Ivone Gebara nach einer Begutachtung ihrer Schriften durch die Glaubenskongregation ein zweijähriges »Bußschweigen« auferlegt. Die Jahre 1995 bis 1999 verbrachte sie in Europa, vor allem in Belgien, wo sie 1999 in Louvain-la-Neuve ihren theologischen Doktortitel erwerben konnte. In dieser Arbeit – »Le mal au féminin. Réflexions théologiques à partir du féminisme «, 2000 auf Deutsch erschienen unter dem Titel »Die dunkle Seite Gottes. Wie Frauen das Böse erfahren« – ist Ivone Gebara sich treu geblieben; sie entfaltet eine »Phänomenologie des Bösen«, das Frauen in einer männerzentrierten Kultur auf vielfältige Weisen erfahren, über den Körper, im häuslichen Bereich und den politischen und gesellschaftlichen Strukturen und das auch ihre Interpretation des Göttlichen prägt.
Seit ihrer Rückkehr nach Brasilien arbeitet und lebt Ivone Gebara wieder in ihrem bairro in Camaragibe bei Recife. Sie gehört zu den Theologinnen, deren Lebensund Denkweg die Radikalität des epistemologischen Neuansatzes feministischer Theologie widerspiegelt. Faszinierend und darin wegweisend für die Zukunft der Theologie in Lateinamerika und in Europa ist die »Option für das Leben«, die ihren theologischen Ansatz als roter Faden durchzieht. Eine solche Theologie kann nicht stillstehen; wenn sie selbst Worte des Lebens zu sagen haben und lebensstiftend sein will, muss sie je neu auf die schöpferischen Kräfte hören und Gott als die geheimnisvolle Kraft »mitten unter uns, in allem, was lebt«, entdecken. Aus dieser Lebenskraft, einer großen Liebe und Zärtlichkeit für das Leben in allem, erwächst die Achtung sich selbst und der ganzen Schöpfung gegenüber. Eine solche Theologie weist Wege in die Zukunft, sie weiß um den »Seufzer der Schöpfung«, verliert aber auch darin nicht den Blick für ihre Schönheit und die großen und kleinen Auferstehungserfahrungen in der Alltäglichkeit des Lebens.
MARGIT ECKHOLT
Professorin und Lehrstuhlinhaberin der Dogmatik und Fundamentaltheologie an der Universität Osnabrück
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