Luis Gutheinz SJ

Foto: Luis Gutheinz

Ein langer Weg nach China

Luis Gutheinz wurde am 12. November 1933 als zweites Kind der Eheleute Leopold Gutheinz und Anna Grad in Tannheim in Tirol geboren. Auf die beiden Brüder Raimund und Luis folgten noch zwei Schwestern, Agnes und Martha, und als dritter Sohn Erich. Die familiären Bindungen mit den vielen Verwandten und Bekannten, die er im Tannheimer Tal hat, sind trotz der räumlichen Trennung nie abgerissen. Sein chinesischer Name: »Gu Han Song«, was man ungefähr mit »Tanne im Wintertal« übersetzen kann, weist ebenfalls auf seine Herkunft aus Tannheim hin. Die Erfahrungen des einfachen Lebens in Tirol, verbunden mit der Leidenschaft für das Bergsteigen und die heimischeMusik haben den jungen Luis Gutheinz geprägt. Die beiden Leidenschaften, das Musizieren auf dem Horn und das Bergsteigen, haben Luis Gutheinz auf seinem späteren Lebensweg nach Taiwan begleitet. Schließlich ist der Yu-Shan mit 3952 Metern der höchste Berg in Taiwan und überragt noch die Wildspitze, den höchsten Berg Nordtirols, um 200 Meter. Den Yu-Shan hat Luis Gutheinz in den nächsten Jahren mehrmals bestiegen, oft begleitet von seinem Horn, auf dem er die Freude über den gelungenen Aufund Abstieg musikalisch ausdrücken konnte.

Nach Abschluss der Grundschule verließ Luis Gutheinz 1945 Tannheim, um im Kleinen Seminar Paulinum in Schwaz seine Gymnasialausbildung zu machen. Mit seiner vielseitigen Begabung standen ihm eine Reihe möglicher Lebenswege offen. In die große Welt des Fernen Ostens hat ihn dann seine frühe Lebensentscheidung, Priester und Jesuit zu werden, geführt, die er mit 18 Jahren im Internat in Schwaz nach langem Überlegen und Gebet getroffen hat. Nach dem Abitur trat er 1953 in das Noviziat der Jesuiten in St. Andrä in Kärnten unter der Bedingung ein, nach Durchlaufen der ordensüblichen Ausbildung später in die der österreichischen Provinz zugewiesenen China- Mission geschickt zu werden. Darauf folgte 1955–1958 das dreijährige Philosophiestudium im Berchmanskolleg in Pullach bei München. Das Thema seiner Lizentiatsarbeit: »Die Familienethik bei Konfuzius« war von ihm schon ganz im Hinblick auf seinen späteren Einsatz in der China-Mission gewählt worden. Bevor er seinen Herzenswunsch erfüllt sah, »in die Mission zu gehen«, war er noch drei Jahre in Linz am dortigen Jesuitengymnasium als Musiklehrer tätig. Der nächste Ausbildungsschritt war 1961 die Ausreise als angehender »China-Missionar« in einer fünfwöchigen Seefahrt von Rotterdam aus, die ihn wegen der Zeitumstände nicht aufs Festland-China, sondern nach Taiwan führte, wo er in Hsinchu zwei Jahre lang Mandarin-Chinesisch lernte. In Taiwan herrschte zu dieser Zeit Chiang Kaishek, der nach seiner Niederlage im Bürgerkrieg gegen die Kommunisten unter Mao Zedong weiterhin den Anspruch erhob, die legitime Regierung Chinas zu stellen, was international zu diesem Zeitpunkt von den Staaten der »Freien Welt« anerkannt war und durch den Ständigen Sitz im Sicherheitsrat, den Taiwan innehatte, unterstrichen wurde. Die Hoffnung von Chiang Kaishek und seiner Partei der Guomindang, schon bald wieder auf das Festland zurückkehren zu können, ist, wie die Geschichte zeigt, allerdings Illusion geblieben. Auch die Jesuiten mussten die politischen Gegebenheiten anerkennen, dass ausländischen Missionaren der Zugang zur kommunistischen Volksrepublik verschlossen war. Statt in Shanghai, wie es mal üblich war, musste Luis Gutheinz von 1963–1967 seine theologischen Studien, ziemlich entfernt vom chinesischen Kontext, in Baguio auf den Philippinen machen, wo die Jesuiten der China-Provinz eine theologische Ausbildungsstätte unterhielten. Nach seiner Priesterweihe 1966 blieb er weiter in den Philippinen, um in Novali ches in der Nähe von Manila das Tertiat, die letzte Ausbildungsstufe, zu machen. Nach einem ersten Einsatz in seiner späteren Lebensaufgabe, »Theologieprofessor zu sein«, unterrichtete er in Taipei 1968–1970 systematische Theologie. Danach ging es nach Rom, wo er 1970–1972 zunächst am Bibelinstitut ein Lizentiat in Biblischen Studien erwarb, um danach 1972–1974 an der Gregoriana ein Doktoratsstudium in Theologie anzuschließen. Seine Doktorarbeit: »Die Funktion der Praxis in der Methode der systematischen Theologie« wurde 1977 in Rom veröffentlicht. Es war ein langer, mit vielen Studieneinheiten gespickter Weg, bis Luis Gutheinz endlich zurück nach Taiwan kam, um 1974 mit seiner Lehrtätigkeit als Professor der systematischen Theologie in der theologischen Fakultät der Fujen- Universität in Taipei beginnen zu können, eine Aufgabe, die er bis zu seiner Emeritierung 2005 ausübte, nur unterbrochen von zwei Sabbatjahren. Die Lehrtätigkeit hat Luis Gutheinz immer sehr ernst genommen und vielen seiner Studenten geholfen, einen Zugang zur Theologie und wissenschaftlichen Arbeit zu finden. Neben einer Reihe von Monographien zu den klassischen Gebieten der Theologie hat Luis Gutheinz mehr als 50 Beiträge in den Collectanea Theologica, der theologischen Zeitschrift der theologischen Fakultät der Fujen Universität, veröffentlicht. Die Monographien umfassen drei Bände einer chinesischen christlichen Anthropologie, die um die zentralen Begriffe »Himmel-Erde-Mensch« kreisen. In seinem Beitrag zur Gotteslehre hat Luis Gutheinz die chinesische Vorstellung der dynamischen Einheit von »Yin und Yang« als Ansatz genommen, das bleibende Geheimnis Gottes dem chinesischen Denken nahezubringen. Die zunehmende Industrialisierung hat auch in Taiwan zu großen ökologischen Problemen und zur Umweltzerstörung geführt. In seinem Beitrag zu einer »Christlichen Ökologischen Theologie« hat er in einer schöpferischen Verbindung seiner theologischen Anthropologie mit der Gotteslehre auf die ökologischen Herausforderungen in Taiwan eine theologische Antwort zu geben versucht.

Die Bedeutung der Ökumene

Große Verdienste hat sich Luis Gutheinz um die ökumenische Zusammenarbeit mit protestantischen Theologen erworben. Da ist einmal die langjährige gemeinsame Studienarbeit im Projekt der »Taiwan Area Research Group on Theological Issues« (TARGTI) zu nennen, bei dem katholische und protestantische Theologen, Philosophen und Soziologen gemeinsam in zwei Studiengängen (1978 –1983 und 1990–1993) die vielfältigen Faktoren zu erforschen suchten, welche die Lebensqualität der Menschen in Taiwan ausmachen. Luis Gutheinz stand auch dem Ansatz der sog. »Heimatland-Theologie« nahe, der von in Taiwan beheimateten presbyterianischen Theologen als eigenständiger Beitrag für eine in Taiwan inkulturierte Theologie entwickelt wurde.

Der Inkulturation verpflichtet

In einem Interview hat Luis Gutheinz einmal zwei Aufgaben benannt, die ein Missionar in China oder in Taiwan zu erfüllen habe. Da ist einmal die Aufgabe der Glaubensverkündigung, die in seinem Fall weniger in der direkten Pastoralarbeit vor Ort als vielmehr in seiner Lehrtätigkeit als theologischer Lehrer in der Ausbildung von angehenden Priestern, Ordensleuten und Laien bestanden hat. Als zweite Aufgabe nannte er den Brückenbau zwischen dem Christentum in westlicher Form und demWachstum eines in den chinesischen kulturellen und religiösen Traditionen verwurzelten einheimischen Christentums. Diese Aufgabe, einen Beitrag zur Inkulturation des Christentums in die chinesische Kultur und Gesellschaft zu leisten, hat Luis Gutheinz in beispielhafter Weise in einem selbstlosen Dienst zu seiner Sache gemacht. Es handelt sich um seine prägende Mitarbeit in der 1969 gegründeten Vereinigung für theologische Publikationen der Fujen Universität, die sich die Publikation theologischer Monographien in chinesischer Sprache zum Ziel gesetzt hat und die ohne die Fähigkeit des Tiroler Bergsteigers, lange Wege zu gehen und dicke Bretter zu bohren, nicht realisiert worden wäre. Da ist zunächst das Theologische Lexikon, das 1996 nach 11 Jahren der Vorbereitungsarbeit zunächst in Taiwan erschien und das mit vereinfachten Schriftzeichen und mit kleineren Eingriffen der staatlichen Zensur auch in der Volksrepublik China erscheinen konnte. Für die theologische Arbeit war und ist dies ein unersetzliches Arbeitsinstrument. Als Ergänzung folgte 2005 ein Lexikon christlicher theologischer Begriffe und Personen. Ein weiteres großes Vorhaben, das fünf Jahre harter und kontinuierlicher Arbeit erforderte, war die Übersetzung ins Chinesische der von Denzinger und zuletzt von Hünermann herausgegebenen Dokumentensammlung der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, die 2013 fertig gestellt wurde. Es war nicht nur die Arbeit der Übersetzung der sperrigen juristischen und theologischen Terminologie ins Chinesische, sondern die zusätzliche Arbeit, mit Hilfe von erläuternden und ergänzenden Fußnoten, die in der Originalausgabe nicht vorhanden waren, chinesischen Lesern den Zugang zu erleichtern, die – wie Luis Gutheinz in einem Interview sagte – »alle Kräfte anforderte«.

Der Brückenbauer

Brückenbauen bedeutet auch immer, dass die so entstehende Verbindung von sonst voneinander getrennten Orten, Kulturen und Personen einen Austausch nach beiden Seiten ermöglichen muss. Luis Gutheinz hat nicht nur an der Vermittlung christ lichen Gedankenguts in den chinesischen Raum gearbeitet, das war seine vorrangige Lebensaufgabe, sondern er hat auch die Vermittlung chinesischer Kultur, Lebensweise und Weltsicht nach Europa als seine spezielle Mission angesehen. Davon zeugen seine zahlreichen Beiträge in europäischen Zeitschriften zu Fragen der Inkulturation, der Mission und des interkulturellen und interreligiösen Dialogs. 1984 hat er an der Philosophischen Hochschule der Jesuiten in München eine Vorlesungsreihe über das chinesische Denken im Umbruch seit dem 19. Jahrhundert gehalten, in der er die Hörer und späteren Leser zu einer Entdeckungsreise in die Geheimnisse der chinesischen Denkwelt einlädt. Zweimal hat Luis Gutheinz, 2000 und 2009, die Gastprofessur im Projekt »Theologie interkulturell« im Fachbereich Katholische Theologie an der Universität in Frankfurt wahrgenommen. Daraus sind die Publikationen »China im Aufbruch. Kultur und Religionen Chinas und das Christentum« und »Chinesische Theologie im Werden. Ein Blick in die Werkstatt der christlich- chinesischen Theologie« entstanden.

Der Dienst an den Leprakranken

Während seiner Lehrtätigkeit an der theologischen Hochschule an der Fujen-Universität hat Luis Gutheinz seit 1975 über Jahre hinweg regelmäßig das nahegelegene Leprosarium besucht und intensive Kontakte mit den Leprakranken unterhalten. Nachdem die Regierung Chinas den Religionsgemeinschaften den Freiraum eröffnete, auf den sozialen und medizinischen Gebieten tätig zu werden, hat Luis Gutheinz seinen Einsatz für Leprakranke aufs Festland China ausdehnen können. In der Volksrepublik China leben etwa 300.000–500.000 Leprakranke, von denen besonders die in entlegenen Dörfern im Süden des Landes lebenden Patienten auf freiwillige Hilfeleistungen angewiesen sind, um die begrenzten Möglichkeiten der örtlichen Gesundheitsdienste zu ergänzen. 1983 hat Luis Gutheinz erstmals die Volksrepublik China betreten können, die er danach regelmäßig bereist hat, um zum Beispiel im Priesterseminar von Sheshan bei Shanghai Theologie zu unterrichten oder wie in den folgenden Jahren die Leprakranken im Süden Chinas zu besuchen, Exerzitien für die in der Lepraarbeit stehenden Schwestern zu geben oder eine Reisegruppe von Freuden aus Europa zu führen. Nach einem Besuch bei Leprakranken in der VR China, der von P. Luis Ruiz SJ von der Caritas in Macau organisiert war, hat Luis Gutheinz 1999 in Taiwan einen Verein »China Leprosy Service « gegründet, dessen Leitung er seitdem innehat. Mit der Unterstützung von Ordensschwestern ist dieser Lepradienst seitdem in vielen Dörfern in Südchina tätig geworden und hat etwa 5.000 Leprakranken medizinische Hilfe, persönliche Zuwendung, Ausbildungsmöglichkeiten und vielseitige materielle Hilfen zugute kommen lassen. Die vielen Berichte über die Kontakte mit den Leprakranken, die Luis Gutheinz in den letzten Jahren geschrieben hat und die begleitenden Fotos machen deutlich, wie eng und intensiv diese Begegnungen für ihn und die Leprakranken über die Jahre geworden sind, die er für sich als »Heilserfahrung« erlebt hat.

Die Geburt von Gu Han-Song Shenfu

Im Rückblick auf den langen Entwicklungsprozess, in dem aus einem Tiroler, in westlicher Philosophie und Theologie ausgebildeten Jesuiten langsam der chinesische Gu Han-Song Shenfu geworden ist, hat er einmal so beschrieben: »In der ersten Phase (circa 1961–1974) musste ich mich langsam assimilieren und die neue Welt kennenlernen. Niemand kommt um diese mühsame, aber auch lohnende Entdeckungsreise herum. Die zweite Phase (circa 1974 –1980) stand im Zeichen des Dialogs zwischen zwei Kulturwelten. Ich fühlte mich zwischen zwei Stühlen. Auf die Frage: ›Wie fühlen Sie sich eigentlich, mehr als westlicher oder als chinesischer Mensch?‹, fand ich nur schwer eine klare Antwort, schwebte hin und her. Das waren eigenartige und auch schmerzvolle Geburtswehen für eine Neugeburt in die dritte Phase. Diese dritte Phase (seit 1980) erscheint wie das Geschenk einer kaum beschreibbaren Integration zweier Kulturwelten, des christlichen Mitteleuropas und Chinas. Die dynamische Klammer der neu erlebten Integration ist der lebendige Gott, der ja immer schon als absolutes Liebesgeheimnis in beiden Welten gegenwärtig wirkt«. (L. Gutheinz, China im Wandel, München 1985, S. 11–12)

In einem anderen Rückblick auf sein Leben aus dem Jahr 2008 hat Luis Gutheinz diesen entscheidenden Moment und diese beglückende Erfahrung, die ihm in Exerzitien am 25. November 1985 geschenkt wurden, so beschrieben: »In der Gegenwart Gottes flossen die zwei Welten Ost undWest in Ein Heimatgefühl zusammen, so dass ich mich seit jenem Ereignis nicht mehr als Ausländer, also als ein von außen Kommender fühle, sondern als Immigrierter, als ein sich in Taiwan und China total zu Hause fühlender Freund chinesischer Menschen.«

In seinen regelmäßigen Rundbriefen, die Luis Gutheinz seit Jahren auf Deutsch und Englisch an seine vielen Freunde in der ganzen Welt verschickt, lässt er die Adressaten mit großer Offenheit und Begeisterung an seinen vielen Erfahrungen in Taiwan und China teilnehmen. An seinem 80. Geburtstag im November dieses Jahres kann Luis Gutheinz, alias Gu Han-Song Shenfu, auf ein erfülltes Leben als Brückenbauer und Wegbereiter für die Entstehung einer chinesischen Theologie zurückblicken und den Schatz seiner reichen Erfahrung weiter ausbeuten.

GEORG EVERS
Missionswissenschaftler