Rafiq Khoury wird von vielen palästinensischen Theologen als der Vordenker einer Theologie im Kontext des Heiligen Landes angesehen. Er ist Katholik lateinischen Ritus und lebt im Orient. Als Katholik hat er Teil an der großen katholischen Tradition mit all seiner Vielfalt. »Katholisch« versteht er in dem ursprünglichen Sinne der allumfassenden, universellen Kirche. Die Verbundenheit mit dem lateinischen Ritus bringt ihn – zusammen mit den vielen jungen Kirchen in Afrika, Asien und Lateinamerika – dem Westen näher, ohne Lateiner zu werden. Inkulturation der Theologie wird abverlangt. Der Bezug zum Orient hat für ihn doppelte Bedeutung: Die orientalische Kultur und kirchliche Wirklichkeit prägen durch und durch seine Identität. Darüber hinaus bedeutet Orient heute vor allem arabischeWelt. Dies ist seineWelt. Die Verbundenheit mit den verschiedenen Wirklichkeitssphären sind für ihn eine große Chance, einerseits konkret mit dieser arabischen Welt verbunden zu sein und andererseits eine enorme Freiheit und Distanz dieser Welt gegenüber zu genießen, die ihm große Möglichkeiten des Nachdenkens und des Engagements bietet.
Sein theologisches Schlüsselerlebnis hatte Rafiq Khoury 1970 in Rom während eines Kongresses über die Katechese in den sozio-politischen Kontexten der verschiedenen Länder der Welt. Dabei fragte er sich, wie die orientalischen Christen angesichts ihrer soziopolitischen Situation ihre Katechese präsentieren. Diese Frage hat ihn nie mehr losgelassen. Für Rafiq Khoury ist die theologische Reflexion mit der pastoralen Aktivität untrennbar verbunden. Die theologische Reflexion muss von der Realität ausgehen, diese befragen, in pastorales Handeln münden und aus dem pastoralen Handeln genährt sein. Seine theologischen Beiträge beschreiben unbefragen so zunächst die Wirklichkeit ausführlich, bevor theologische Schlüsse gezogen werden.
Schon vor der Promotion in Rom lehrte er am Seminar des lateinischen Patriarchats und später auch an der Bethlehem-Universität. Von 1992 bis 2000 war er Generalsekretär der Synode der Katholischen Kirchen im Heiligen Land und seit 2000 Generalsekretär des katholischen Pastoralkomitees. Er hatte entscheidenden Einfluss auf den Pastoralplan der katholischen Kirchen im Heiligen Land. In Rom ist er Konsultor des Rates für interreligiösen Dialog mit den Muslimen (seit 1988) und seit fünf Jahren auch für den Dialog mit den Juden. Er hat das Al-Liqa Zentrum mitbegründet, das entscheidende Impulse für eine kontextuelle palästinensische Theologie gegeben hat. Als Mitglied von »Justicia et Pax« Jerusalem befasst er sich seit längerem intensiv mit gesellschaftlichen Entwicklungen aus christlicher Sicht.
Rafiq Khoury lebt im Heiligen Land mit Palästinensern und Israelis, mit Juden, Christen und Muslimen zusammen – eine Gesellschaft voller Probleme und Spannungen. Als christlicher Palästinenser setzt er sich theologisch vor allem mit den Problemen auseinander, die sich aus der Gründung des Staates Israel ergeben, den Erfahrungen der christlichen Gemeinden im Nahen und Mittleren Osten, sowie den Schwierigkeiten und Chancen, die sich aus dem Zusammenleben von Christen, Muslimen und Juden ergeben.
Sein theologisches Denken ist dabei von der Inkarnation geprägt: »Wie inkarniert sich der christliche Glaube heute im Heiligen Land?« Für die Antwort auf die Frage ist die Erfassung des Kontextes die erste Aufgabe. Die Jerusalemer Kommission »Justicia et Pax« hatte 1980 in der Dokumentation »Unser christlicher Glaube und das politische Gewissen« zum ersten Mal christlichen Glauben und die politische Situation Palästinas in Verbindung gebracht. Die Fragen überwogen, und so musste noch ein langer Weg gegangen werden. Auf den Konferenzen des Al-Liqa-Zentrums hat Rafiq Khoury das Verhältnis von Glaube und Politik weiter erhellt.
Grundkomponente einer kontextuellen Theologie muss die Erfahrung der christlichen Palästinenser sein, dass mit der zionistischen Bewegung ein jüdischer Staat auf dem historischen Palästina errichtet wurde, und es infolge dessen zu Ungerechtigkeiten kam, die zu einer riesigen Fluchtbewegung führten. Rafiq Khoury versucht, die theologische Bedeutung der Leiden und der Unterdrückung der Palästinenser zu ergründen, ohne dabei die theologische Bedeutung Israels zu leugnen. Vier Themen stehen im Vordergrund:
Wie kann die Bibel im Lichte der palästinensischen Erfahrung gelesen werden? Ist das jüdische Verständnis des Alten Testamentes, das das Land als ausschließlichen Besitz Israels ansieht, das einzig richtige? Den Schlüssel sieht Rafiq Khoury in Jesus Christus. Von ihm aus wird auch das Alte Testament für palästinensische Christen verständlich. Das zweite Thema ist der universelle Gott und seine Verbindung zum auserwählten Volk und Gelobten Land. Als zentrales Thema der Theologie im palästinensischen Kontext sieht er das Land an. Dieses hatte Gott zu einem bestimmten Zeitpunkt der Geschichte auserwählt und einem Volk gegeben »als Zeichen dafür, dass Gott Interesse trägt für die ganze Erde und für alle Völker«.
Das große Thema der palästinensischen Theologie ist aber die Gerechtigkeit. Die Schwierigkeit liegt in der unterschiedlichen Wahrnehmung dessen, was Unrecht und was Recht ist. Gerechtigkeit – ein Schlüsselthema des Alten Testamentes – ist auch der Schlüssel für eine friedfertige Zukunft. Das dornigste Problem ist Jerusalem, weil es von allen drei abrahamitischen Religionen als heilige Stadt reklamiert wird. Aber Rafiq Khoury sieht in Jerusalem gerade deshalb auch den Schlüssel für die friedliche Zukunft der Region.
Als Minderheit müssen sich die Christen einem dreifachen Problem stellen. Obwohl es für sie selbstverständlich ist, Araber zu sein, müssen sie dies doch nachdrücklich betonen. Rafiq Khoury sieht darin eine Gefahr, wenn diese Zugehörigkeit so stark betont wird, dass dabei das Christsein nur noch auf Sparflamme brennen kann. Die andere Gefahr sieht er in einem übermächtigen Israel, das ein Christentum ohne nationale Zugehörigkeit sehen und somit einen Keil zwischen palästinensische Christen und Muslime treiben möchte. Für Christen ist die Versuchung groß, sich dem zu beugen. Den vielen Pilgern gegenüber – wenn sie denn ins Land kommen –, sieht Rafiq Khoury die Gefahr, dass die einheimischen Christen ihr Arabertum verstecken wollen, um nicht sofort mit Terrorismus in Verbindung gebracht zu werden.
Die christlichen Gemeinschaften im Heiligen Land haben nach Rafiq Khoury eine besondere Berufung. Wenn die politischen Ereignisse es zulassen, kommen große Pilgerscharen in das Heilige Land. Einige Christen kommen für immer oder für lange Zeit. Die hierdurch entstehende Offenheit zur ganzen Welt ist eine spezifische Berufung des Heiligen Landes. Dieser gerecht zu werden, ist Aufgabe der einheimischen Christen.
Nach Rafiq Khoury sollen die Religionen einen Beitrag zum Frieden leisten, aber besonders die drei Religionen im Nahen Osten unterliegen der Gefahr, für politische Zwecke benutzt zu werden: Das Judentum ist zu einem Machtinstrument geworden und das Alte Testament dient zur Rechtfertigung politischer Ansprüche. Der islamische Fundamentalismus missbraucht die Religion ebenso. Rafiq Khoury sieht solche Tendenzen aber auch im Christentum. Ursache für viele Konflikte sind die unterschiedlichen Erinnerungen: für die Juden die Shoa, für die Muslime der Kolonialismus und die Invasion und für die Christen das häufige Leiden als Minderheit. So wird der jeweils andere aus der Erinnerung heraus zur Bedrohung: für den Juden der Gojim (Nichtjude), für den Muslim der Ungläubige, für den Christen der Verfolger. Die Friedensfähigkeit hängt vor allem von den Antworten auf die Fragen ab »Wer ist Gott?«, »Wer ist der andere?« und »Wer bin ich?«. Rafiq Khoury ist der Überzeugung, dass alle drei Religionen aus den Antworten auf diese Fragen eine Sichtweise entwickeln können, die Frieden, Versöhnung und Verständigung fördert.
HARALD SUERMANN
Theologe und Orientalist, Leiter des Missionswissenschaftlichen Instituts Missio e.V., Aachen
Die meisten Publikationen sind Artikel in der Zeitschrift Al-Liqa (arab.) und Al-Liqa-Journal (engl.) oder Konferenzbeiträge. Bücher sind Sammlungen solcher Aufsätze.
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