Ihn kann man mit Fug und Recht als Altmeister der afrikanischen Theologie bezeichnen. Sein Name ist untrennbar verbunden mit der Catholic University of Eastern Africa (CUEA) in Nairobi, mit der Debatte über Befreiung und Inkulturation in Afrika, mit der Verbindung von scholastischer Terminologie und afrikanischer Theologie sowie mit einer von der afrikanischen Ahnenverehrung inspirierten Trinitätslehre, Christologie und Ekklesiologie. Im Dezember 2006 ist er 75 Jahre alt geworden: Charles Nyamiti. Geboren wird Charles Nyamiti am 9. Dezember 1931 als Kind einer kinderreichen Familie der Nyamwezi, einer Ethnie in Tansania, in Ndala-Tabora. Nach seiner Schulausbildung studiert er am Kipalapala- Priesterseminar in Tabora Philosophie und Theologie und entwickelt dort eine Vorliebe für die scholastische Philosophie und Theologie des Thomas von Aquin. Bis heute gilt er als Vertreter eine thomistischen afrikanischen Theologie, was bereits die Besonderheit seiner theologischen Beiträge andeutet. 1962 wird er auf den Titel der Erzdiözese Tabora in Tansania zum Priester geweiht. Er geht zum Promotionsstudium an die Katholische Universität von Löwen, wo er 1969 mit einer Arbeit über christliche und tribale Initiationsriten (»Vergleich zwischen christlicher Initiation und Initiationsriten der afrikanischen Völker Masai, Kikuyu und Bemba, im Hinblick auf die liturgische Anpassung«) zum Doktor der Theologie promoviert. Der musisch begabte Theologe legt auch ein Klavierexamen ab. Im Anschluss daran studiert er in Wien Musik und Völkerkunde. Er schreibt seine ethnologische Doktorarbeit über den Ahnenkult bei den Kikuyu und erwirbt ein Diplom in Musik (Fach: Kompositionslehre). Von 1976 bis 1981 lehrt er als Professor am Priesterseminar seiner Heimatdiözese in Kipalapala. 1983 wird er von seinem Bischof in die Gründungskommission des Catholic Higher Institute of Eastern Africa (der späteren CUEA) in Nairobi berufen, wo er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2001 als Professor für dogmatische Theologie lehrt und bis heute lebt und forscht. Diese Karriere führt, wie das für Afrikaner häufig der Fall ist, zu einer Vielzahl von Sprachen, die Charles Nyamiti beherrscht: Kinyamwezi, Kisuaheli, Kikuyu, Englisch, Französisch, Deutsch und die Fachsprachen Hebräisch, Griechisch und insbesondere Latein. Er gilt als ausgezeichneter Kenner der patristischen, mittelalterlichen und neuzeitlichen europäischen Theologie, die er immer wieder in den Dialog mit afrikanischer Philosophie, Weltsicht und Theologie zu bringen versucht. In seiner Literaturliste fällt auf, dass alle großen Themen der Theologie abgehandelt werden: Trinität, Inkarnation, Christologie, Kirchenverständnis, das Böse und nicht zuletzt die Frage nach der Methode. In allen seinen meist in Artikelform veröffentlichten Abhandlungen folgt Nyamiti einer klar definierten, deduktiven Methode.
Er stellt zunächst die Lehre der Kirche von den biblischen Ursprüngen über die patristische und mittelalterliche Tradition bis hin zu relevanten Erklärungen des kirchlichen Lehramts vor, beschreibt in einem zweiten Schritt die Besonderheiten der afrikanischen traditionellen Kultur bzw. des afrikanischen anthropologischen und religiösen Hintergrunds. Beide Seiten bringt er dann – dies ist die Besonderheit seines Vorgehens – in einen minutiösen Dialog mit Gegenüberstellung und gegenseitiger Erhellung bzw. Korrektur, so dass sich die doppelte Bewegung des Inkulturationsprozesses – nämlich der gegenseitigen Beeinflussung von traditionellem afrikanischen Verständnis und christlicher theologischer Ausprägung – ergibt und nachvollziehen lässt. Seiner Zielvollstellung einer afrikanischen spekulativen Theologie nähert er sich »durch die Identifizierung der offenbarten Geheimnisse mit afrikanischen soziokulturellen Themen«, die zu einem reflektierenden Vergleich und der gegenseitigen kreativen Interpretation traditionell christlicher und traditionell afrikanischer Vorstellungen führen soll. Drei in der Tradition der Theologie bekannte Techniken bestimmen sein methodisches Vorgehen: die katholische Lehre von der Analogia entis (die Welt bzw. Sein als – analog zu verstehendes – Symbol Gottes), die gegenseitige Durchdringung und Erklärung der christlichen Dogmen sowie das Interesse an den praktischen und pastoralen Konsequenzen der Glaubensgeheimnisse im Sinne eines frommen christlichen Lebenswandels. Zu diesen Leitlinien gesellt sich ein quasi unterliegendes Grundprinzip: im Sinne des metaphysischen Nichtwiderspruchsprinzips werden philosophische, anthropologische, soziologische, linguistische und historische Erkenntnisse an den von Offenbarung, Tradition und Lehramt vorgegebenen Glaubenslehren ausgerichtet. Hier zeigt sich die Besonderheit, deretwegen Charles Nyamiti häufig kritisiert wird und die er mit der ihm eigenen Klarheit, Logik und Ehrlichkeit immer wieder verteidigt: Seine Theologie ist am kirchlichen Lehramt ausgerichtet und zielt ab auf einen christlichen Lebenswandel, der sich vom Gebet und dem häufigen Empfang der Sakramente bestimmen lässt. Gerade diesen erkenntnisleitenden Interessen, denen Theologie zu folgen habe, diene, so Nyamiti, eine Auseinandersetzung mit der afrikanischen Anthropologie und Kultur in besonderer Weise. So ist es sein Hauptanliegen, der theologischen Tradition, die bleibend durch die Auseinandersetzung mit der griechisch-hellenistischen Philosophie geprägt ist, einen genuinen afrikanischen Beitrag hinzuzufügen, der »zu einem höheren Grad akademischer Reife« auch der afrikanischen Theologie führt. Eine afrikanische Metaphysik, so die tiefe Überzeugung von Charles Nyamiti, kann und muss ihren wichtigen und weiterführenden Beitrag zur Theologie weltweit leisten. In dem lange geführten Streit zwischen einer afrikanischen Theologie der Befreiung und einer Theologie der Inkulturation optiert Nyamiti deutlich für die Inkulturationstheologie, die seiner Meinung nach eher den theologischen Vorgaben des Lehramtes entspricht und zudem sowohl die Theologie insgesamt als auch die Kirche und Verkündigung in Afrika positiv befruchten könne. Dabei betont er, dass auch der Aspekt der Befreiung gerade in Afrika von bleibender Bedeutung ist, er selbst aber seinen Beitrag in der Grundlegung einer afrikanischen theologischen Systematik auf der Basis von Themen und Vorstellungen der traditionellen afrikanischen Kultur sieht. In diesem Sinne hat er begonnen, seine gesammelten Werke herauszugeben. Der erste, 2005 erschienene Band dieser Studies in African Christian Theology trägt den Titel: »Jesus Christus, der Ahne der Menschheit: Methodische und trinitarische Grundlegung«. Darin entwirft Nyamiti ein Verständnis der Trinität, das sich von der traditionellen afrikanischen Beziehungskultur zwischen den Ahnen und ihren Nachkommen inspiriert.
Er geht von der immanenten Trinität (»Gott an sich«) aus, deren Grundzüge er im Sinne der augustinisch- thomistischen Tradition nachzeichnet. Sodann beschreibt er einige grundlegende Merkmale der traditionellen afrikanischen Ahnenverehrung, die bestimmt wird von den Kategorien Sakralität, Exemplarität und einer durch Opfer und Reziprozität geprägten Kommunikation. Diese Kategorien wendet er sodann – in analoger Sprechweise – auf das christliche Trinitätsverständnis an und stellt eine Reihe von Gemeinsamkeiten fest: der Vater als der Ahn, der Sohn als der Nachkomme, der Geist als die reziproke Beziehung der Liebe, die sich im Opfergeschehen des Sohnes konkretisiert. Dabei kommt Nyamiti aber auch zu neuen Akzentsetzungen, die er dieser afrikanischen Sicht verdankt: die Gefolgschaft und der Gehorsam des Sohnes als Voraussetzung für das Erlösungsgeschehen, die Beziehung von Vater und Sohn im Heiligen Geist, die er als »anzestrale pneumatische Zeremonie« beschreibt, die Sakralität der ganzen Schöpfung, die in diese Zeremonie hineingenommen ist. Christus ist in diesem Verständnis zugleich der Nachkomme (descendant) und unser Bruder-Ahn, dessen Verhältnis zum Vater Urbild und Vorbild eines christlichen Lebens in Gotteskindschaft ist. Die Kirche ist die »extended family« der Nachkommenschaft dieses inkarnierten Bruder-Ahns, die alle Grenzen von Ethnie, Rasse und Geschlecht sprengt und in der Feier der Sakramente die Tradition authentisch weitergibt. Diese Themen wird Nyamiti in den angekündigten folgenden Bänden seiner Summa theologiae behandeln. Es zeichnet sich ein Gedankengebäude ab, das die ontologische, logoszentrierte und individualistisch geprägte Metaphysik westlich scholastischer Prägung durch die Betonung von Leben, Gemeinschaft und Gehorsam in, so sieht Nyamiti das Verhältnis, Ergänzung und Weiterführung vervollständigt. Hier scheint die bleibende Spannung im theologischen Werk von Charles Nyamiti zu liegen. Tradition ist, was lebendig weitergegeben wird. Der Prozess der Tradierung ist zugleich auch immer Neuschaffung von Tradition. Was aber wird im heutigen Afrika weitergegeben? Diese Frage stellt sich sowohl aus Sicht der traditionellen afrikanischen Kultur als auch aus Sicht der christlichen Kirchen und Theologien – besonders angesichts der radikalen Transformationsprozesse, denen die afrikanischen Gesellschaften heute ausgesetzt sind. Aus einem tiefen Dialog zwischen traditioneller afrikanischer Kultur und Christentum heraus entwirft Charles Nyamiti ein beindruckendes Gedankengebäude, das auf seinen Voraussetzungen beruhend kohärent und bereichernd ist. Ob es der afrikanischen Theologie allerdings gelingt, diese Aussaat im heutigen Afrika mit seiner vielfältigen Zerrissenheit fruchtbar zu machen und zu einer Ernte zu führen, die die Menschen und Gesellschaften Afrikas in ihrer Geschichte mit Gott voranbringt und dem pilgernden Gottesvolk in Afrika auf seinem Weg durch die Geschichte leuchtet, kann wohl nur als Hoffnung formuliert werden.
MARCO MOERSCHBACHER
Dr. theol., Afrikareferent am Missionswissenschaftlichen Institut Missio e.V., Aachen
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