Der salvadorianische Theologe Jon Sobrino ist baskischer Herkunft und wurde 1938 in Barcelona geboren. Er trat 1956 in das Noviziat des Jesuitenordens ein und wurde 1957 von seinem Orden nach El Salvador geschickt. Seine erste Ausbildungsphase erlebte er 1958– 60 in Kuba, von 1960 bis 1965 studierte er Philosophie und Ingenieurwissenschaften in St. Louis/USA. Nach zwei Jahren in El Salvador begann er 1967 sein Theologiestudium in St. Georgen, Frankfurt, das er dort 1974 mit einer Doktorarbeit über die Bedeutung von Kreuz und Auferstehung in den Christologien von Wolfhart Pannenberg und Jürgen Moltmann abschloss. Sobrino kehrte nach El Salvador zurück und lehrt dort bis heute Theologie am von ihm und von Ignacio Ellacuría gegründeten theologischen Zentrum der Katholischen Universität José Simeon Cañas in San Salvador. Sobrino sagt von sich selbst (Anm. 1), dass er in den 50er Jahren als »typischer Missionar« nach Zentralamerika kam, nämlich mit der Vorstellung, den Salvadorianern helfen zu wollen, ihre von Aberglauben durchsetzte Volksreligiosität zugunsten eines aufgeklärten Glaubens zu überwinden und die – europäische – Kirche in ihren lateinamerikanischen Ablegern zu fördern. Dieses von der europäischen Moderne geprägte Denken erfährt einen Bruch – Sobrino selbst spricht vom »Erwachen aus dem Schlummer der Unmenschlichkeit« –, als er in den siebziger Jahren die Welt der Armen als Wirklichkeit auch für die Theologie wahrzunehmen beginnt. Die Kirche El Salvadors hatte begonnen, die Impulse des II. Vatikanischen Konzils – die »Zeichen der Zeit erkennen « als Unterscheidungsmerkmale und als Ausdruck des Willens Gottes (GS 4 und 11) – und der Bischofsversammlung von Medellín 1968 – die herrschende Ungerechtigkeit als Zustand der Sünde überwinden – umzusetzen: Es geht um Befreiung. In einem wegweisenden Artikel über »Theologisches Erkennen in der europäischen und der lateinamerikanischen Theologie« bearbeitet er die Unterschiede, die er in den theologischen Reflexionen vor allen Dingen in dem Bezug auf gesellschaftliche Wirklichkeit und im Prozess des theologischen Erkennens sieht. In der lateinamerikanischen Theologie beziehe man sich auf einen anderen Aspekt der Aufklärung als in Europa. »Für Kant ist Aufklärung ›der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit‹… Die Befreiung, die insofern den ersten Aspekt der Aufklärung darstellt, ist die Befreiung der Vernunft von jedem Autoritarismus … Der zweite Aspekte der Aufklärung… zielt direkt auf die Befreiung aus dem Elend der Wirklichkeit, was nicht nur eine neue Weise – jetzt nämlich autonom – zu denken erfordert, sondern eine neue Weise zu handeln.«(Anm. 2) Obwohl Sobrino hier eine deutliche Differenz zwischen europäischer und lateinamerikanischer Theologie herausarbeitet, geht es ihm nicht darum, durch unterschiedliche Kontexte jeweils andere »kontextuelle Theologien« zu legitimieren, sondern vielmehr darum, zu begründen, dass eine Kirche und Christen an der Seite der Armen zu anderen Perspektiven und anderen Glaubenseinsichten kommen. Zwischen 1977 und 1980 gehörte Jon Sobrino zu den engsten Beratern des 1980 von Militärs ermordeten Erzbischofs Oscar A. Romero. Einer der vier Pastoralbriefe Romeros stammt aus der Feder Sobrinos. Und Sobrino schrieb die berühmt gewordene Rede, die Romero wenige Wochen vor seiner Ermordung anlässlich der Entgegennahme der Ehrendoktorwürde der Universität Löwen/Belgien hielt: »Die politische Dimension des Glaubens – Erfahrungen der Kirche in El Salvador « (Anm. 3). Dieser Text beschreibt in sehr dichter Weise den sozio-politischen Kontext der Kirche und des Glaubens: »Die Verteidigung der Armen in einer konfliktreichen Welt hat unserer Kirche etwas Neues gebracht, das in ihrer Geschichte unbekannt war: die Verfolgung… Die Kirche nimmt im Grunde nur das Schicksal der Armen auf sich.« Und er beschreibt, wie Menschen, die sich auf die Seite der Armen stellen, Glauben neu erlernen: »Zunächst wissen wir heute besser, was Sünde ist. Wir wissen, dass der Widerstand gegen Gott den Tod des Menschen verursacht. Wir wissen, dass Sünde wahrhaft zum Tode führt.… Sünde ist die Macht, die den Sohn Gottes getötet hat, und sie besteht fort als die Macht, die die Kinder Gottes tötet.«
Die Einsicht, dass die Sünde bis heute die Kinder Gottes tötet, ist auch einer der Kerngedanken der Christologie Sobrinos. Schon im Jahr 1976 veröffentlichte er als Zusammenfassung seiner christologischen Vorlesungen das Buch »Christologie von Lateinamerika aus« (Anm. 4), in 1982 folgte, auch um kritische Anfragen an das erste Buch aufzugreifen, das zweite unter dem Titel »Jesus in Lateinamerika« (Anm. 5). In 1991 und 1999 folgten dann zwei zusammengehörende christologische Bände, in denen Sobrino Christologie systematisch und befreiungstheologisch durchbuchstabiert: »Jesus Christus der Befreier. Eine historisch-theologische Lektüre des Jesus von Nazareth« (Anm. 6) und »Der Glaube an Jesus Christus. Ein Zugang von den Opfern aus« (Anm. 7). Um den Inhalt dieser beiden Bände geht es zur Zeit, wenn von der Kritik der Glaubenskongregation in Rom an der Theologie von Jon Sobrino die Rede ist. (Anm. 8) Anders als viele andere Christologien, die vom Erlösungstod am Kreuz oder von der Auferstehung Jesu ihren Ausgang nehmen, beginnt Sobrino in seiner Christologie konsequent mit dem Menschen Jesus aus Nazareth, mit dem, was wir von seinem Leben, von seiner Ankündigung des Reiches Gottes in Wort und Tat, von seinen Konflikten mit den Reichen und Mächtigen, von seiner Ermordung am Kreuz und schließlich von der Erfahrung wissen, dass dieser Tod am Kreuz nicht das letzte Wort war. In einer der frühen Reflexionen Sobrinos über den ermordeten Erzbischof Romero (Anm. 9) deutet er an, was er dann christologisch ausarbeitet: Die Analogie zwischen Erzbischof Romero und Jesus von Nazareth. »Erzbischof Romero zu folgen, war gleichbedeutend mit der Nachfolge Jesu im El Salvador von heute. Ich glaube, dass weder der Herr, Jesus Christus, noch der himmlische Vater eifersüchtig sind, wenn ich so über Erzbischof Romero rede. Schließlich war er für uns alle Gottes wertvollstes Geschenk in unseren Tagen. Und wenn jemand sich völlig von einem Glaubenszeugen wie Erzbischof Romero angezogen fühlt, den wir doch gesehen, gehört und berührt haben, dann kann er, so meine ich, wirklich sagen, dass er von der Frohen Botschaft und von Jesus selbst berührt worden ist.« (Anm. 10) Es gibt aber nicht nur eine Analogie zwischen demWirken von Jesus und Romero in der Vermittlung des Reiches Gottes, sondern auch im Schicksal des Todes. Eine zentrale Frage ist: Warum wurde Jesus umgebracht? Warum wurde Erzbischof Romero umgebracht? Warum werden die Armen getötet? »Das Kreuz Jesu verweist auf die gegenwärtigen Kreuze. Gleichzeitig aber weisen diese gegenwärtigen Kreuze auch auf das Kreuz Jesu hin. Sie stellen – historisch gesehen – die große Hermeneutik dar, um zu verstehen, warum Jesus umgebracht wurde. Und theologisch gesehen, werfen sie dieselbe nicht unterdrückbare Frage nach dem Geheimnis auf: Warum starb Jesus? Die gekreuzigten Völker der Dritten Welt sind heute der hervorragende theologische Ort, um das Kreuz Jesu zu begreifen.« (Anm. 11)
In den »gekreuzigten Völkern« von heute ist – im Umkehrschluss – der Wille Gottes erkennbar, denn es geht darum, diese »gekreuzigten Völker« vom Kreuz herunterzunehmen. In der Situation der Ungerechtigkeit und des vorzeitigen Todes gibt es eine Hoffnung, Jesus von Nazareth und seine Botschaft vom Reich Gottes. Dies bedeutet gleichzeitig eine Neubestimmung – oder Rückbesinnung? – des Erlösungswerkes Jesu: Es ist in erster Linie das Wirken Jesu, die Ankündigung des Gottesreiches, die den Willen Gottes erkennen lässt. Der Tod am Kreuz ist Folge der Sünde, Instrument der Anhänger des Anti-Reiches, die das Reich Gottes verhindern wollen und die Akteure des Gottesreiches, die Propheten, Jesus, die Märtyrer, die Christen verfolgen und töten. Schwerpunkt des theologischen Schaffens von Jon Sobrino ist sicherlich die Christologie, aber es reicht weiter: Er ist Mitherausgeber und Mitautor des Doppelbandes »Mysterium Liberationis. Grundbegriffe der Theologie der Befreiung«, mit dem in systematischer Weise das Zentrale der Befreiungstheologie dargestellt wird. Er gehört zum Direktionskomitee der internationalen theologischen Zeitschrift Concilium. Und auch seine Veröffentlichungen zur Ekklesiologie und zur Spiritualität (Anm. 12) gehören – nicht nur in Lateinamerika – zu den Grundlagen aktueller theologischer Literatur. Deutlich ist in allen Bereichen, dass er von der gesellschaftlichen Wirklichkeit ausgeht und diese »auf den theologischen Begriff bringt« und damit Gottes Wirken und Anwesenheit in der Welt zu erklären versucht. Im schon genannten Konflikt mit der Glaubenskongregation geht es vordergründig zwar um die Christologie, im Hintergrund aber steht eine andere Frage, nämlich eine ekklesiologische, die nach der Kirche und ihrem Ort. Angesichts der Tatsache, dass die Verfolgung der Kirche in vielen Ländern Lateinamerikas in den 70erund 80er-Jahren keine Verfolgung der ganzen Kirche war, sondern nur des Teils der Kirche, der sich auf die Seite der Armen gestellt hat, hat Sobrino die Frage nach der »wahren Kirche« gestellt. Wenn eine Kirche, die sich an die Seite der Armen stellt, in Konflikte gerät und verfolgt wird, dann erleidet sie das Schicksal der Armen und das Schicksal Jesu. Die Verfolgung um der praktischen Solidarität mit den Armen willen, das vielfache Martyrium (Anm. 13), ist Kennzeichen für die wahre Kirche, es ist die »Auferstehung der wahren Kirche« (Anm. 14). In den langwierigen Auseinandersetzungen mit Rom, ob Erzbischof Romero Märtyrer der Kirche oder – wie in Rom gedacht wird – nur Opfer politischer Auseinandersetzungen ist, geht es um genau diesen Punkt. Jon Sobrino hat seine ekklesiologischen Überlegungen vor kurzem noch einmal in einem Beitrag präzisiert, dessen Titel den traditionellen Satz »extra ecclesiam nulla salus « (außerhalb der Kirche kein Heil) abwandelt und erneuert in »extra pauperes nulla salus« (ohne Rettung der Armen kein Heil).(Anm. 15) Hier liegt der eigentliche Kern des Konflikts zwischen Befreiungstheologie und römischer Kirchenleitung: Eine eindeutige »Option für die Armen«, die angesichts von Ungerechtigkeit, Umweltzerstörung und kriegerischer Auseinandersetzungen an der Zeit ist, würde gesellschaftliche Marginalisierung bedeuten. Sie stößt also auf massiven Widerstand von Kirchenführungen, die den Einfluss der Kirche im Blick haben, der auf der Seite der Mächtigen immer noch am größten ist. Das theologische Schaffen Sobrinos und vor allen Dingen seine Kreativität kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Er hat Grundlagen befreiungstheologischer Reflexionen formuliert, dabei verschüttete Traditionen des Christlichen freigelegt und all dies in einer schöpferischen und kreativen Sprache formuliert und veröffentlicht. Dabei bedarf die Zusammenarbeit Jon Sobrinos mit Ignacio Ellacuría einer besonderen Würdigung. Sie ist als Glücksfall für die Theologie oder als segensreiches Wirken des Heiligen Geistes zu bezeichnen. Selbst über den Tag der brutalen Ermordung Ellacurías hinaus geht die kreative Zusammenarbeit weiter, wie die jährlich zum Todestag veröffentlichten Briefe Sobrinos an seinen Freund »Ellacu« zeigen, in denen er aktuelle theologische und politische Fragen aufgreift. Im Brief von 2006 schreibt er über die im Mai 2007 statt findende V. Generalversammlung der lateinamerikanischen Bischöfe (CELAM) in Aparecida und benennt wegweisend und durchaus prophetisch Erwartungen, Hoffnungen und Schwierigkeiten, indem er auch zurückblickt auf die Erfahrungen vor allen Dingen mit dem Aufbruch während und in Folge der II. Generalversammlung 1968 in Medellín.
LUDGER WECKEL
Theologe, Mitbegründer und Mitarbeiter im Institut für Theologie und Politik in Münster; Er hat die zwei Bände der Christologie Sobrinos ins Deutsche übersetzt
1 Vgl. seine biographischen Notizen in El principio-misericordia. Bajar de la cruz a los pueblos crucificados, San Salvador/ Santander 1992, S. 11–28.
2 Jon Sobrino, Theologisches Erkennen in der europäischen und in der lateinamerikanischen Theologie, in: Karl Rahner u. a. (Hrsg.), Befreiende Theologie, Stuttgart u. a. 1977, S. 123–143.
3 In: M. Sievernich (Hrsg.), Impulse der Befreiungstheologie für Europa. Ein Lesebuch, Mainz/München 1988, S. 56–68.
4 Cristología desde América Latina. Esbozo a partir del seguimiento del Jesús histórico, México 1976.
5 Jesús en América Latina, San Salvador/Santander 1982.
6 Jesucristo liberador, San Salvador/Santander 1991, dt. Übersetzung: Christologie der Befreiung, Mainz 1998.
7 La fe en Jesucristo. Ensayo desde las victimas, San Salvador/ Santander 1999 (dt. Übersetzung ist in Vorbereitung).
8 Zum Konflikt vgl. XX
9 J. Sobrino, Oscar Arnulfo Romero, Märtyrer der Befreiung. Theologische Analyse seiner Gestalt und seines Werkes, in: O.A. Romero, Die notwendige Revolution, Mainz 1992.
10 Sterben muß, wer an Götzen rührt. Das Zeugnis der ermordeten Jesuiten in San Salvador: Fakten und Überlegungen, Fribourg/Brig 1990, 32 S.
11 J. Sobrino, Christologie der Befreiung, Mainz 1998, 272 S.
12 Geist, der befreit. Lateinamerikanische Spiritualität, Freiburg u. a. 1989; El principio-misericordia. Bajar de la cruz los pueblos crucificados, San Salvador/Santander 1992.
13 Vgl. dazu L. Weckel, Um des Lebens willen. Zu einer Theologie des Martyriums aus befreiungstheologischer Sicht, Mainz 1998.
14 J. Sobrino, Resurrección de la verdadera Iglesia. Los pobres, lugar teológico de la eclesiología, San Salvador 1986.
15 J. Sobrino, Extra pauperes nulla salus. Pequeño ensayo utópico- profético, in: Revista latinoamericana de Teología 69, Sept/Dez. 2006, S. 219–261.