Länderbericht: El Salvador

Auf dem Kreuzweg des Volkes

El Salvador: anhaltender Kampf für Gerechtigkeit

von Theresa Denger und Eduardo Maciel

Knapp 40 Jahre liegt der Bürgerkrieg in El Salvador zurück. 75.000 Menschen verloren dabei ihr Leben, 8.000 sind im  Zuge dessen verschwunden. Doch die »Suche nach den verschwundenen Kindern« ist bis heute nicht abgeschlossen. Die gleichnamige Organisation Pro- Búsqueda de Niñas y Niños Desaparecidos setzt sich noch immer für die Anerkennung der begangenen Menschenrechtsverletzungen ein und entlarvt die Machenschaften des Militärs. Die trauernden Mütter El Salvadors beweisen durch ihr Handeln, dass die Einheit im Glauben im Kampf für Gerechtigkeit wurzelt.

Autoren

Theresa Denger

Dr. theol., studierte Katholische Theologie an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg i. Br. und an der Zentralamerikanischen Universität José Simeón Cañas in El Salvador. Gegenwärtig arbeitet sie als Fachkraft im Zivilen Friedensdienst in der salvadorianischen Menschenrechtsorganisation Pro-Búsqueda

Eduardo Maciel

Dipl. theol., ist argentinischer Herkunft und studierte Katholische Theologie an der Zentralamerikanischen Universität José Simeón Cañas in El Salvador, wo er zurzeit in Iberoamerikanischer Philosophie zum Thema der Erinnerungsarbeit in El Salvador promoviert. Seit 2012 hat er einen Lehrauftrag an der Lutherischen Universität von El Salvador inne

Verschwundene Kinder

Samstagmorgen, die Kirche in Guarjila, einem kleinen Dorf im Norden des Landes in der Nähe der Grenze zu Honduras, ist zum Bersten voll. Inmitten einer Berglandschaft macht Guarjila einen idyllischen Eindruck: Steile Kurven führen immer weiter aufwärts, den Wolken entgegen. Dass an diesem Ort in der jüngsten Bürgerkriegsvergangenheit so viel Unrecht geschehen ist, ist nicht erkennbar.

Heute sind etwa 500 Menschen gekommen. Die meisten sind Campesinos, einfach gekleidete Männer und Frauen, darunter viele Ältere. Einige von ihnen waren in den 1970er Jahren Katecheten und Aktivisten, hatten in ihren Gemeinden das Evangelium von ihrer Realität aus interpretiert und sich für soziale Veränderungen und Befreiung im Geist des Gottesreiches eingesetzt. Dafür wurden sie des Kommunismus bezichtigt und in Zeiten der Militärdiktaturen auf Leben und Tod verfolgt.

An einer Seite ist das Bild des Heiligen Oscar Romero zu sehen. Der einstige Erzbischof von San Salvador war am 24. März 1980 von einem regierungsnahen Scharfschützen erschossen worden, weil er im Namen Gottes und des leidenden Volkes die Repression der Sicherheitskräfte angeprangert hatte. Viele Historiker datieren seine Ermordung als Beginn des 12-jährigen Bürgerkriegs, der 75.000 Menschen das Leben kostete, und in dem mehr als 8.000 Menschen verschwunden sind.

In den ersten Kriegsjahren sind ganze Campesino- Dörfer vom Militär zerstört worden: Die Felder wurden verbrannt, das Vieh getötet und die Bewohner massakriert. Mit der »Politik der verbrannten Erde« – einer US-Militärstrategie zur Bekämpfung des Kommunismus mit allen Mitteln – sollte sichergestellt werden, dass in jenen Gegenden, die als Rückzugsgebiete der seit 1980 bewaffneten Guerilla galten, kein Leben verschont blieb. Dazu schreckten die Truppen selbst vor der Ermordung von Kindern nicht zurück. Die Soldaten gingen dazu über, vor allem Babys und Kleinkinder zu verschleppen. Den Familien blieb nichts anderes übrig, als zu fliehen – meist ins Nachbarland Honduras, wo sie fast ein Jahrzehnt lang in Flüchtlingslagern lebten. Als die Ersten ab 1986 in ihre Heimatdörfer zurückkehrten und langsam mit dem Wiederaufbau ihrer zerstörten Existenzen begannen, war es noch zu gefährlich, sich auf die Suche nach ihren verschwundenen Kindern zu machen. Erst als die einstige Guerilla Frente Farabundo Martí para la Liberación Nacional (FMLN) und die Regierung, die durch die rechtsextreme Partei Alianza Republicana Nacionalista (ARENA) repräsentiert war, 1992 Friedensverträge abschlossen, trauten sich die ersten Angehörigen, über ihren Verlust zu sprechen. Als die Gesandten der UN-Wahrheitskommission Ende 1992 das Land bereisten, um Zeugnisse von schweren Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren, begleitete der Jesuitenpater Jon Cortino viele Überlebende der Massaker zu ihren Zeugenaussagen. Dabei wurde ihm klar, dass die Entführung von Kindern durch die Truppen kein zufälliger Willkürakt, sondern Teil der Militärstrategie gewesen sein könnte.

Als fast zwei Jahre später – am zweiten Jahrestag der Friedensverträge, die erste Wiederbegegnung in Guarjila stattfand, kam in vielen anderen Familien die Hoffnung auf, dass auch ihre Kinder noch am Leben sein könnten. Gemeinsam mit Pater Cortino gründeten sie im August 1994 die Organisation Pro-Búsqueda de Niñas y Niños Desaparecidos (»Für die Suche der verschwundenen Kinder«). Von den bis dato 1.000 eingegangenen Fällen verschwundener Kinder konnte die Organisation bereits 446 lösen, und 278 Mal ist es schon zu Wiederbegegnungen gekommen. Pro-Búsqueda wird nicht müde, die Erkenntnisse jahrelanger Ermittlungsarbeiten öffentlich anzuklagen: Sei es die Mittäterschaft des Militärs und seine akute Weigerung, die Archive zu öffnen, das Verschulden der Guerilla oder das komplizenhafte Mitverschulden von Anwalts-netzwerken, Ärzten, Richtern, Leitern von Kinderheimen und Mitarbeitern von humanitären Organisationen wie auch Ordensleuten, welche in die irregulären – und lukrativen – Adoptionen [1] jener verschwundenen Kinder ins In- und Ausland verstrickt waren.

 

Ungezügelte freie Marktwirtschaft

Trotz langer ziviler und bewaffneter Kämpfe für eine Umverteilung des Landes, gerechte Löhne, Trinkwasser- und Gesundheitsversorgung während der 1970er und 1980er Jahre leben die Menschen nach wie vor in Armut. Die Friedensverträge von 1992 haben zwar die offene Repression durch die Staatsmacht überwunden, die staatlichen Sicherheitsapparate gesäubert, die Paramilitärs aufgelöst und die Guerilla als politische Partei anerkannt, aber auf der sozioökonomischen Ebene haben sie kaum etwas verändert. Im Zuge des Friedensschlusses wurde eine ungezügelte freie Marktwirtschaft begünstigt, so dass der Staat sich faktisch der sozialen Verantwortung entledigte. Aufgrund der Vernachlässigung des landwirtschaftlichen Sektors konnten viele Campesinos nicht mehr von ihrer Arbeit leben und hatten keine Alternative, als illegal in die USA auszuwandern, um mit Geldsendungen das Überleben ihrer Familien zu sichern. Andere fanden in der Hauptstadt Arbeit, etwa als Billigkräfte in Fabriken, als Wachmänner vor Geschäften und gated communities oder als Hausangestellte bei sozial Bessergestellten. Die große soziale Ungleichheit der Vorkriegszeit, welche eine der Hauptursachen des Krieges war, besteht nach wie vor. Heute sind 87 Prozent des Vermögens des Landes in den Händen von 160 Personen [2] .

Jenen Verlierern des Kriegs steht eine kleine Gruppe von Gewinnern gegenüber, welche sich zum einen aus den politischen Eliten der einstigen Guerilla und der heutigen FMLN-Partei und zum anderen aus der Führungsspitze des Militärs zusammensetzt. Die Feinde von damals erfreuten sich nach dem Friedensschluss daran, dass sie trotz ihrer (Mit-)Schuld an schweren Menschenrechtsverletzungen nicht strafrechtlich verfolgt und nicht dazu verpflichtet wurden, an der Aufarbeitung mitzuwirken. Auch mussten sie nicht darauf verzichten, politische Macht auszuüben, sondern bauten diese im Gegenteil noch stärker aus. Als nur fünf Tage nach der Veröffentlichung des Wahrheitsberichts der UN das mehrheitlich von der ARENA-Partei besetzte salvadorianische Parlament 1993 ein Amnestiegesetz verabschiedete, war der staatlichen Aufarbeitung der schweren Menschenrechtsverletzungen wie auch der strafrechtlichen Verfolgung der Täter der Weg versperrt. Unter dem Motto »Vergeben und Vergessen« wurde der Zivilgesellschaft befohlen, nach vorne zu blicken. Jedes Verlangen nach Gerechtigkeit wurde als Rachsucht und mit Rekurs auf die christliche Pflicht zur Vergebung als unchristlich verurteilt.

Zur großen Überraschung wurde im Juli 2016 das Amnestiegesetz vom Verfassungsgericht gekippt und damit die Hoffnung der Opfer und ihrer Angehörigen auf Gerechtigkeit neu geweckt. Jedoch wurde diese schnell enttäuscht, als ein Jahr später das Parlament eine Adhoc-Kommission berief, um sich der praktischen Umsetzung jenes Urteils des Verfassungsgerichts zu widmen. Zur Bestürzung der Opferverbände waren vier von den fünf Mitgliedern der Kommission – an verschiedenen Fronten – aktiv an Kriegsgeschehen beteiligt gewesen, zwei von ihnen wurden sogar im Bericht der Wahrheitskommission als Beteiligte an schweren Menschenrechtsverletzungen genannt. Ohne eine Einbeziehung und Konsultation der Opferverbände versuchten die Fraktionen von ARENA und der FMLN Ende Mai 2019 ein neues »Versöhnungsgesetz« zu verabschieden, welches de facto auf eine neue Amnestie hinausgelaufen wäre.

 

Bukele will Sicherheit herstellen

Am 30. August 2019 postet der seit Juni dieses Jahres amtierende Präsident Nayib Bukele auf Facebook die Titelseite der größten Zeitung des Landes La Prensa Gráfica: »Nayib Bukele erfreut sich der Zustimmung durch 90 Prozent der Bevölkerung.« Stolz kommentiert Bukele: »Das ist die höchste Zustimmungsrate, die ein Präsident je in der Geschichte El Salvadors gehabt hat.« Unter den zwei Millionen Followern des Präsidenten bricht ein Sturm der Begeisterung aus. Nur vereinzelt sind kritische Stimmen zu vernehmen, etwa die Vermutung, dass die plötzliche positive Presse der großen Medien des Landes mit ihrer von Bukele abgesegneten Steuerbefreiung in Verbindung stehen könnte.

Insgesamt entsteht der Eindruck, dass sich die Menschen in El Salvador mit ihrem Präsidenten identifizieren, der in den vergangenen Wahlen zusammen mit der rechtsextremen Partei Gran Alianza Nacionalista (GANA) mit 53 Prozent der Stimmen die für Korruption und Rückschrittlichkeit stehenden traditionellen Parteien ARENA und FMLN entmachtet hat und für Sicherheit und Fortschritt steht. Die Statistiken scheinen ihnen Recht zu geben: Seit Bukele im Amt ist, ging die Mordrate deutlich zurück und erreichte im August sogar einen historischen Tiefpunkt. Weniger bekannt ist, dass seit seiner Amtsübernahme nicht mehr alle Toten gezählt werden.

Anstatt die sozialen Probleme an der Wurzel zu packen und etwa Bildungschancen, Arbeitsplätze, Raum für politische Beteiligung, Kultur und Sport zu schaffen, überlässt die Politik die Jugendlichen aus marginalisiertem Umfeld – und damit die Mehrheit der Bevölkerung – sich selbst und stigmatisiert sie als vermeintlich Kriminelle. Seit Anfang 2000 gehen die Regierungen – ob rechts oder links – mit harter Hand gegen die Jugendbanden vor. Seit 2016 werden zu ihrer Bekämpfung Polizei- und Militäreinheiten mit dem Auftrag in die Armenviertel entsendet, möglichst viele (vermeintliche) Bandenmitglieder zu verhaften. Bei diesen Razzien kommt es zu bürgerkriegsähnlichen Konfrontationen; oft werden wahllos junge Menschen verhaftet, die allein aufgrund ihres Aussehens und ihres Wohnortes in das staatliche Beuteschema passen, und ohne gerichtliche Anhörung in eines der überfüllten Gefängnisse des Landes gebracht. Dies lässt stark an die schon einst von Oscar Romero angeklagte Doktrin der nationalen Sicherheit erinnern, unter welcher alle Vertreter der politischen Opposition – und als solche Verdächtigte – zu Feinden der Nation und Gefahr für die nationale Sicherheit erklärt und mithilfe staatlicher und geheimer Sicherheitskräfte überwacht, inhaftiert und in vielen Fällen ermordet wurden.

Unter Nayib Bukele hat sich die harte Hand zu einem Knüppel entwickelt. Sein Programm: ganze Stadtteile und Armenviertel von Banden säubern! Diese Terminologie mag bei den Überlebenden der Bürgerkriegsmassaker schmerzvolle Erinnerungen wecken, insofern jene Massaker vom Militär mit Titeln wie »Operation Säuberung « bezeichnet wurden. Den meisten Menschen in El Salvador macht die Sicherheitspolitik Bukeles jedoch Hoffnung auf ein Leben ohne Bandengewalt, ebenso das Wahlversprechen der an seiner Seite regierenden Partei GANA, die Todesstrafe für Bandenmitglieder einzuführen. Sie erfreuen sich am Anblick patrouillierender Soldaten in den Straßen und sehen es als Chance, wenn die Regierung innerhalb kürzester Zeit tausende neue Soldaten zu rekrutieren vermag.

 

Schmerz in Hoffnung verwandeln

30. August 2019: Seit drei Stunden befinden sich etwa 200 Menschen im Parque Cuscatlán im Zentrum San Salvadors zur feierlichen Begehung des Gedenktages der Verschwundenen. Seit mehr als 15 Jahren fordern Opferverbände und Menschenrechtsorganisationen die offizielle Anerkennung dieses Gedenktages durch das Parlament – bis jetzt vergeblich. Doch dies hält sie nicht davon ab, heute an der Seite vieler Angehöriger der im Bürgerkrieg Verschwundenen zu gedenken und damit für geschichtliche Aufarbeitung und Gerechtigkeit einzustehen. Sie werden von Vertretern verschiedener christlicher Kirchen begleitet, die gemeinsam ein Gebet sprechen.

In El Salvador gibt es keinen nichtreligiösen gesellschaftlichen Bereich. Nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts IUDOP aus dem Jahr 2010 geben 99,5 Prozent der Bevölkerung an, an Gott zu glauben; die große Mehrheit von ihnen bekennt sich zum christlichen Glauben. 50,4 Prozent gehören der katholischen Kirche an, 38,2 Prozent den aufstrebenden evangelikalen Pfingstkirchen, und ein sehr kleiner Teil der Bevölkerung (2,5 Prozent) teilt sich in Mitglieder der reformierten evangelischen Kirchen, einer jüdischen Gemeinde und einer muslimischen Gemeinde auf. Die Gründer der jüdischen und muslimischen Gemeinden waren Teil einer kleinen und sehr einflussreichen Migrationswelle, die Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts aus dem Osmanischen Reich und einigen Orten Europas nach El Salvador einwanderte. Der Vater Nayib Bukeles stand jüngst als Imam der 1.200 Mitglieder umfassenden schiitischen Gemeinde vor und wurde nach seinem Tod von seinem Sohn – einem Bruder Nayib Bukeles – abgelöst. Die jüdische Gemeinde umfasst heute 60 Familien. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts öffnete El Salvador der Mission der lutherischen, reformierten und anglikanischen Kirche die Türen. Doch erst gegen Ende des Bürgerkriegs Anfang der 1990er Jahre büßte die katholische Kirche ihre mit der spanischen Conquista erhaltene Vormachtstellung deutlich ein, als evangelikale Pfingstkirchen begannen, sich in El Salvador auszubreiten. Dies ging damals unter anderem auf eine Initiative der US-Regierung zurück, welche als Kampf gegen den Kommunismus schon in den 1970er Jahren die Befreiungstheologie und die christlichen Basisgemeinden eindämmen wollte. Noch heute zeichnen sich die Pfingstkirchen in ihrer großen Mehrheit durch eine charismatische und apolitische Spiritualität aus, die den Status quo als gottgewollt absegnet und die heute Leidenden mit einer versüßten Rede vom Jenseits vertröstet. Diese Spiritualitätsform ist heute verstärkt auch innerhalb katholischer Gemeinden zu finden und scheint sich quantitativ betrachtet als interkonfessionelles Glaubensmodell durchzusetzen.

Doch von einer vertröstenden Gottesrede ist heute im Parque Cuscatlán nichts zu spüren. Mit ihrer Präsenz und ihrem gemeinsamen Gebet geben Repräsentanten der katholischen, lutherischen, baptistischen und anglikanischen Kirchen davon Zeugnis, dass Gott das Leben in Fülle, Wahrheit und Gerechtigkeit schon für das Diesseits verheißt. Wie es einst der 1989 von der Regierung ermordete Jesuitenpater Ignacio Ellacuría auf den Punkt brachte, besteht für sie die Einheit des Glaubens im Kampf für Gerechtigkeit.

Es ist Mittag, die Menschen essen, während der anglikanische Bischof spricht; es herrscht eine ausgelassene Stimmung. Eine Gruppe von zehn älteren Frauen – jede mit einer roten Rose in der Hand – formiert sich zu einem Chor. Die Sängerinnen sind jene Mütter, die seit Jahrzehnten unermüdlich ihre verschwundenen Söhne und Töchter suchen und vom Staat Aufklärung und Gerechtigkeit einfordern. Am linken Rand ergreift Madre Sofía (Mutter Sofía) das Mikrofon und stimmt ein Klagelied an.

Madre Sofía und die anderen Mütter erinnern an jene Frauen, die einst zum Grab Jesu gingen, um seinen toten Körper zu salben. Zu ihrer großen Überraschung fanden sie das Grab leer vor; der Körper war verschwunden. Auf ungeahnte Weise verwandelte das leere Grab ihren Schmerz in Hoffnung, und ähnlich wie damals verwandelt jenes Geschehen heute den Schmerz vieler salvadorianischer Mütter in die Hoffnung auf eine Wiederbegegnung mit ihren Verschwundenen. So wie die Frauen aus dem Evangelium als Zeuginnen der Auferstehung die Kirche Jesu Christi begründeten, haben die Frauen aus dem Parque Cuscatlán Bewegungen ins Leben gerufen, die mutig gegen den Strom schwimmen und sich an verschiedenen Fronten für die in El Salvador nach wie vor bedrohten Menschenrechte einsetzen.

Einige jener Mütter wurden Teil der feministischen Bewegung und machten darauf aufmerksam, dass die im Bürgerkrieg begangenen schweren Menschenrechtsverletzungen in besonderem Maße die Frauen betrafen. So war die systematische Vergewaltigung und grausame Tötung von Frauen und Mädchen bei Massakern fester Teil der Militärstrategie der »verbrannten Erde«. Als Erbe des Krieges und der Straflosigkeit ist heute die machistische Gewalt allgegenwärtig. Sie kommt in der hohen Frauenmordrate und der großen Zahl von Kinder- und Teenagerschwangerschaften zum Vorschein. Jene Gewalt hat auch Eingang in die Gesetzgebung und Rechtspraxis gefunden. So werden vor dem Hintergrund des absoluten Abtreibungsverbotes mittellose Frauen nach dem Erleiden einer Fehlgeburt ohne Beweise der Abtreibung beschuldigt und bis zu 40 Jahre ins Gefängnis gesperrt. Bis heute hat die Frauenorganisation Agrupación Ciudadana por la Despenalización del Aborto 41 Frauen befreit.

Im Geist der singenden Mütter zeigt sich eine wachsende ökologische Bewegung auf den Straßen und Plätzen der Hauptstadt. Sie stellt sich der drohenden Privatisierung des knapper werdenden Trinkwassers, gefördert von der mächtigen Rohrzuckerindustrie, entgegen, überwacht die Einhaltung des Metallabbau- Verbots und protestiert gegen die voranschreitende Zerstörung der letzten Wälder zugunsten lukrativer Bauprojekte. Aus dem Schöpfungsglauben heraus begleitet die katholische Kirche an der Seite der zwar sehr kleinen, aber engagierten reformierten Kirchen entschieden und mutig diese Kämpfe. Auf vielen Demonstrationen fühlen sich die Menschen unterstützt durch die Anwesenheit des 2017 zum Kardinal ernannten Gregorio Rosa Chávez. Positiv überrascht sind viele Aktivisten vom zunächst als konservativ geltenden Erzbischof San Salvadors José Luis Escobar Alas, der sich nach der Veröffentlichung der päpstlichen Enzyklika Laudato si’ entschieden hinter die Initiative zum Verbot des Metallabbaus stellte und so gemeinsam mit Umweltorganisationen erreichte, dass El Salvador 2017 das erste Land weltweit mit diesem Verbot wurde. Anlässlich der jüngsten Befreiung von Evelyn Beatriz Hernández, die nach einer Fehlgeburt des Mordes angeklagt und inhaftiert worden war, klagte er das salvadorianische Rechtssystem als mangelhaft an.

In den beschriebenen Szenen des salvadorianischen Volkes bergen sich echte Erfahrungen von Kreuz, Tod und Auferstehung. In ihrer Einheit können sie als Vergegenwärtigung des Karfreitags, Karsamstags und Ostersonntags verstanden werden. Dass gerade der Glaube an die Auferstehung ein schwieriger Akt ist, zeigt schon jene alte Erzählung vom leeren Grab, an deren Ende der Auftrag steht, nach Galiläa zu gehen und dort den Auferstandenen zu suchen (vgl. Mk 16,7). Um auch in der Dunkelheit noch Hoffnung zu verspüren, muss man die Augen öffnen und sich auf die Suche des Lichtes begeben. Die Erfahrungen engagierter Christen aus El Salvador mögen dazu Vorbild sein.

FOTO: ASOCIACIóN PRO-BúSQUEDA DE NIñAS Y NIñOS DESAPARECIDOS
Unter dem Motto des 25. Jubiläums der Menschenrechtsorganisation Pro-Búsqueda steht ein Bild des Heiligen Oscar Romero, der 1980 am Altar erschossen wurde, weil er die Repressionen der Sicherheitskräfte gegen das Volk verurteilt hatte.
FOTO: ASOCIACIóN PRO-BúSQUEDA DE NIñAS Y NIñOS DESAPARECIDOS
Angehörige, die noch immer nach ihren verschwundenen Kindern suchen, tragen Fotos der Vermissten mit der Aufschrift »Wo sind sie?« zum Altar.
FOTO: ASOCIACIóN PRO-BúSQUEDA DE NIñAS Y NIñOS DESAPARECIDOS
Eine Angehörige eines Verschwundenen sucht mit einer Kerze und einer Rose in der Hand seinen Namen im Denkmal zur Erinnerung und Wahrheit.

El Salvador auf einen Blick

Fläche: 21.040 km2

Hauptstadt: San Salvador (etwa 1,1 Millionen Einwohner)

Bevölkerung: etwa 6,4 Millionen; überwiegend Mestizen, wenige Tausend Indigene; 38 % der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze von zwei US-Dollar pro Tag

Offizielle Landessprache: Spanisch

Religionen: 50,4 % Katholiken; 38,2 % Pfingstkirchler sowie wenige evangelischlutherische, jüdische und muslimische Gemeinden

Wirtschaft: Hauptexportgüter sind Kaffee, Zucker, Shrimps, Baumwolle, Gold, Chemikalien, Textilien; das BIP pro Kopf beträgt 4.596 USD (2018) 

Quellen: Auswärtiges Amt; The World Factbook

 

Anmerkungen

[1] Als ein Vorteil der psychosozialen Begleitung der wiedergefundenen jungen Menschen und der Vermittlungsarbeit zwischen leiblichen und Adoptivfamilien kann die Tatsache betrachtet werden, dass die meisten Adoptiveltern keine Komplizen der Täter waren, sondern in dem Glauben lebten, Waisenkinder adoptiert zu haben.

[2] Nach einer von Oxfam durchgeführten Studie besaßen 2014 in El Salvador 160 von 6,2 Millionen Einwohnern 21.000 Millionen US-Dollar. Diese Summe entsprach 2013 87 Prozent des Bruttoinlandsproduktes.