Länderbericht Kolumbien

Frieden in Kolumbien

Ein Weg zwischen großer Hoffnung und tiefen Zweifeln

von Monika Lauer Perez

Das Jahr 2016 wird als ein besonderes in die Geschichte Kolumbiens eingehen, denn der Friedensvertrag zwischen der Regierung des demokratisch gewählten Präsidenten und Friedensnobelpreisträgers Juan Manuel Santos Calderón und der größten und ältesten Guerilla- Organisation Lateinamerikas, den »Revolutionären Streitkräften Kolumbiens« – FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia) ist nach vier Jahren zäher Verhandlungen unterschrieben und wurde im Dezember 2016 vom Parlament ratifiziert. Können die Kolumbianerinnen und Kolumbianer nach einem jahrzehntelangen, von allen Beteiligten brutal geführten Bürgerkrieg jetzt aufatmen und auf Sicherheit hoffen? Ist der Weg für den Frieden geebnet und der Friedensprozess in Kolumbien tatsächlich unumkehrbar?

 

Autorin

Monika Lauer Perez
Länderreferentin für Kolumbien bei der Bischöflichen Aktion Adveniat

 

 

Wann der innerkolumbianische Konflikt begonnen hat und welches seine Ursachen sind, darüber sind sich selbst Historiker höchstens in groben Zügen einig. Die jahrhundertelange Geschichte der Gewalt in dem lateinamerikanischen Land ist sowohl sozialökonomisch als auch geopolitisch begründet. Sie geht auf die vererbten feudalistischen Strukturen zurück, die einigen wenigen Oligarchen gewaltig ausgedehnten Grundbesitz sicherten und als ein Vermächtnis der Kolonialzeit gelten müssen. Bis heute nie in Angriff genommene oder gescheiterte politische und wirtschaftliche Reformen sind als ursächlich für den Konflikt mit rund 7,5 Millionen registrierten Opfern, fast 30.000 Verschwundenen und 270.000 Toten seit 1985 anzusehen. Für die derzeit etwa 48 Millionen Kolumbianer sind blutige und mit Waffengewalt ausgetragene Kämpfe zwischen unterschiedlichen staatlichen, nichtstaatlichen und illegalen Akteuren seit Generationen an der Tagesordnung. Die Auseinandersetzungen waren anfangs in erster Linie politisch-sozial motiviert, doch mit der Zeit mutierten sie zu einem Anti-Terror- und Anti-Drogen-Kampf mit entscheidender finanzieller und militärischer Unterstützung durch die USA. Gewalt wurde in Kolumbien zu einem Teil des täglichen Lebens.

Eine lange Geschichte der Gewalt

Mit der Ermordung des populären liberalen Präsidentschaftskandidaten Jorge Eliecer Gaitán im April 1948 begann nach zunehmender Polarisierung zwischen den beiden traditionellen Parteien, den Konservativen und den Liberalen, die sich lange Zeit an der Macht abwechselten, die Violencia. Das spanische Wort für Gewalt bezeichnet eine Epoche entfesselter Gewalt, in der sich politische Gegner zum Teil nur deshalb umbrachten, weil sie der jeweils anderen Partei angehörten. Ganze Regionen wurden durch gewaltsame Vertreibungen und Terror durch bestialische Morde von politischen Gegnern »gesäubert«. Die der katholischen Kirche nahestehende konservative Partei erfuhr nicht selten durch Hasspredigten von den Kanzeln kraftvollen Beistand in der überwiegend katholischen Bevölkerung. In den 1950er Jahren beendete General Gustavo Rojas Pinillo als Staatschef mit diktatorischen Vollmachten die blutigen Auseinandersetzungen. 1958 einigten sich die Spitzen der verfeindeten Parteien im spanischen Exil auf eine paritätische, aber völlig undemokratische Verteilung der politischen Ämter zwischen den beiden Parteien, die bis 1974 umgesetzt wurde – ohne Rücksicht auf den Ausgang der jeweiligen Wahlen.

Im Jahr 1964 wurden in Zentralkolumbien, in der Provinz Tolima, aufständische Kleinbauern, die sich wegen nicht eingehaltener Versprechungen der Regierung bezüglich einer Agrarreform betrogen fühlten, von Regierungstruppen angegriffen und in die Berge zurückgedrängt. Dies gilt als die Geburtsstunde der FARC-Guerilla, die, weil sie sich für soziale Reformen stark machte und für die Rechte der Kleinbauern gegen die etablierten Eliten antrat, als ideologische Gefolgschaft des kommunistischen Regimes Fidel Castros angesehen wurde. Auch wenn die FARC bis heute immer wieder in Zusammenhang mit dem Kommunismus gebracht wird, so ist sie eher in der Tradition der Bauernaufstände zu sehen, die sich gegen die oligarchische Land- und Machtkonzentration gerichtet haben.

Marxistisch inspiriert und von der intellektuellen städtischen Studentenschaft ausgehend entstand im Jahr 1965 die »Nationale Befreiungsarmee« – ELN (Ejercito de Liberación Nacional), die zweitgrößte Rebellenorganisation Kolumbiens. Camilo Torres Restrepo, Soziologe, Studentenpfarrer und Priester der Erzdiözese Bogotá, schloss sich nach der von ihm selbst erbetenen Suspendierung vom Priesteramt der ELN an und fand unter bisher nicht gänzlich geklärten Umständen bereits bei seinem ersten Zusammentreffen mit dem Militär im Februar 1966 den Tod. Der spanische Priester Gregorio Manuel Pérez Martínez alias El Cura Pérez, ein glühender Bewunderer von Camilo Torres, kam gemeinsam mit zwei weiteren spanischen Priestern über die Dominikanische Republik nach Kolumbien. Sie arbeiteten zunächst in den hauptsächlich von Afrokolumbianern bewohnten Elendsvierteln der Hafenstadt Cartagena und schlossen sich, nachdem sie zuvor wegen ihrer revolutionären Ideen des Landes verwiesen worden waren, bei ihrer Rückkehr mit falschen Papieren der ELN an. El Cura Pérez wurde ab 1973 zum Chefideologen und Anführer der ELN. Er lenkte die bis heute andauernden terroristischen Aktivitäten der ELN-Guerilla auf die Erdöl-Industrie, die, wie er proklamierte, dem kolumbianischen Volk seinen Reichtum stehle. 1989 wurde er exkommuniziert, da die ELN für die Entführung und den späteren Tod des damaligen Bischofs der Diözese Arauca, Jesús Emilio Jaramillo Monsalve, verantwortlich gemacht wurde.

In den folgenden Jahren entstanden weitere Guerillagruppen. Die »Befreiungsarmee des Volkes« – EPL (Ejercito Popular de Liberación), die drittgrößte Guerillaorganisation Kolumbiens, wurde 1968 als bewaffneter Flügel der Kommunistischen Partei Kolumbiens gegründet. Eine weitere Gruppe, die Stadtguerilla »Bewegung 19. April« – M 19 (Movimiento 19 de Abril), besetzte 1985 den Justizpalast in Bogotá, was weltweit für Aufsehen sorgte. Das Aufkommen und Erstarken der Drogenkartelle in den 1970er und 1980er Jahren machte die Lage noch komplizierter und verstärkte die Gewalt. Die Drogenbosse verbreiteten einerseits Angst und Schrecken durch Folter und Tod, gebärdeten sich andererseits in den Armenvierteln als Beschützer der Menschen, finanzierten Sportplätze oder halfen Familien in Notlagen. Als die Guerilla begann, Familienangehörige der Drogenbosse zu entführen, um Lösegeld zu erpressen, gründeten diese ihrerseits paramilitärische Einheiten zu ihrem Schutz. Aber auch Großgrundbesitzer, Industrielle und Kaufleute, die die Übergriffe der Guerilla fürchteten, finanzierten paramilitärische Gruppen, die oft in enger Kooperation mit der inzwischen aufgelösten Geheimpolizei DAS (Departamento Administrativo de Seguridad), dem regulären Militär und der Polizei grausame Gewaltverbrechen an der Zivilbevölkerung verübten. Fast immer spielten wirtschaftliche Interessen dabei eine maßgebliche Rolle. Unter dem Vorwand der Guerillabekämpfung wurden ganze Landstriche mit Terror überzogen, um sie zu entvölkern und so agroindustriellen Firmen Zugang zu billigem Land zu verschaffen. Unter den unterschiedlichen Gruppierungen wie auch mit staatlichen Akteuren entwickelten sich mit der Zeit Verbindungen – über die Finanzierung der jeweiligen Aktivitäten durch den Drogenhandel –, die der bis heute grassierenden Korruption Vorschub leisteten.

Der Blick auf die Geschichte Kolumbiens zeigt, dass »der Konflikt« aus verschiedenen Teilkonflikten besteht und dass der Kampf um Macht eine lange Tradition hat. Da politischer Wandel immer wieder durch den Einsatz von Gewalt angestrebt wurde, bildete sich die Identität Kolumbiens nicht über gemeinsame Interessen, politische und soziale Ziele, sondern über Gemeinschaften von Gewalttätern.

Zahlreiche Bemühungen um den Frieden

Seit Anfang der 1980er Jahre versuchte fast jede Regierung auf ihre Weise, den inneren Konflikt des Landes zu befrieden. Während der Regierungszeit von Präsident Belisario Betancourt (1982–1986) unterzeichneten die Regierung und die FARC-Guerilla im März 1984 einen ersten Waffenstillstandsvertrag. Auch damals, genau wie im aktuellen Friedensvertrag, sollte die Guerilla als politische Kraft und ohne Waffengewalt das politische Leben in Kolumbien mitgestalten können. Doch stattdessen wurden etwa 2.500 Mitglieder der legalen linksgerichteten politischen Partei »Patriotische Union« – UP (Unión Patriótica), die sich als politischer Arm der FARC betrachtete, systematisch durch Paramilitärs, die Streitkräfte und die Polizei ermordet. Kolumbiens Oberster Gerichtshof bezeichnete das Gemetzel später als Genozid. Dieses Trauma hat die Guerilla-Organisation bis heute nicht überwunden und macht deutlich, wie schwer es den Mitgliedern der FARC auch heute, rund 30 Jahre später, fallen muss, sich erneut auf eine solche Konstellation einzulassen. Die fehlenden Sicherheitsgarantien, die Gewalt auch gegen die Zivilbevölkerung und die marodierenden Paramilitärs brachten die Bemühungen um einen Frieden in Kolumbien gegen Ende des Jahres 1985 endgültig zum Scheitern.

Die Regierung von Virgilio Barco (1986–1990) knüpfte mit ihrem Programm »Initiativen für den Frieden« an die Bemühungen der Vorgängerregierung an. Man nahm Verhandlungen mit einem Gremium auf, in dem alle Guerillagruppen vertreten waren, der Coordinadora Guerrillera Simón Bolivar. Immerhin gelang es im Jahr 1990, die erst 1970 gegründete Guerillaorganisation »M 19« durch Gespräche zu bewegen, die Waffen niederzulegen und sich in die Zivilgesellschaft einzugliedern. Bereits bei ihrer ersten Teilnahme an Wahlen im Jahr 1990 gewannen sie die Bürgermeisterämter in drei Städten und einen Sitz im Parlament. Dies ermunterte links gerichtete Gruppierungen, gemeinsam mit ehemaligen Mitgliedern der »M 19« eine neue Partei zu gründen: die »Demokratische Allianz M 19« (Alianza Democrática M 19). Als sich im Jahr 1990 der Ex-Kommandant der »M 19«, Carlos Pizarro, als Präsidentschaftskandidat aufstellen ließ, wurde er, wie zuvor schon drei andere Kandidaten, ermordet.

Die Regierung Cesar Gaviria (1990–1994) hielt ihr Wahlversprechen und berief eine Verfassunggebende Versammlung ein. 1991 wurde die neue und heute noch gültige Verfassung verabschiedet. Sie weckte viele Hoffnungen auf ein besseres Kolumbien, doch diese Hoffnungen harren größtenteils noch ihrer Erfüllung. Die Umsetzung vieler Punkte wird heute – 25 Jahre später – in dem Abkommen zwischen der Regierung Santos und der FARC-Guerilla erneut eingefordert. 1992 initiierte die Regierung Gaviria Verhandlungen in Tlaxcala (Mexiko) mit der Coordinadora Guerrillera Simón Bolivar, die aus FARC, ELN und EPL bestand. Doch nach der Entführung und der Ermordung des Exministers Argelino Durán durch die EPL scheiterten die Verhandlungen im Mai 1992. Während die FARC sich daraufhin entschloss weiterzukämpfen, konnte die Regierung Gaviria mit der »Revolutionären Partei der Arbeiter« – PRT (Partido Revolucionario de los Traba- jadores) und der bewaffneten indigenen Bewegung Quintín Lamé einen Friedensschluss aushandeln.

Während der Regierungszeit von Präsident Ernesto Samper Pizano (1994–1998) spielten Deutschland und speziell die Deutsche Bischofskonferenz eine wichtige Rolle bei den innerkolumbianischen Friedensbemühungen mit ELN und EPL. Mit Rückendeckung des Vatikans reisten einige Anführer der ELN nach Europa, um an Dialoggesprächen in Mainz und Himmelspforten bei Würzburg teilzunehmen. Die Friedenskonferenz im Kloster Himmelspforten kam im Juli 1998 auf Grund einer Vereinbarung zwischen dem damaligen Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Karl Lehmann, und dem Präsidenten der kolumbianischen Bischofskonferenz, Erzbischof Alberto Giraldo Jaramillo, zustande. Ziel der Gespräche war es, ein baldiges Ende des blutigen Bürgerkrieges zu erreichen, dem zum damaligen Zeitpunkt jährlich etwa 35.000 Kolumbianer zum Opfer fielen. Ebenso waren, wie auch im aktuellen Abkommen zwischen der Regierung Santos und der FARC-Guerilla, die Einleitung sozialer Reformen und die politische Partizipation der Guerilla unter Überwachung durch die internationale Gemeinschaft geplant. Im Juli 1998 wurde ein entsprechendes Abkommen unterzeichnet, an dem auch die Bundesregierung unter Helmut Kohl ein hohes Interesse hatte, da sie sich um die Sicherheit der damals in Kolumbien lebenden rund 4.000 Mitarbeiter deutscher Firmen wie Mannesmann, Siemens, BASF und anderen sorgte. Die Regierungswechsel in Kolumbien und Deutschland setzten den beiderseitigen Bemühungen ein Ende.

Den – vor dem aktuell beendeten – letzten formalen Dialogprozess mit der FARC-Guerilla initiierte schließlich Präsident Andrés Pastrana (1998–2002) mit den Friedensgesprächen im Caguán. Die damalige Verhandlungsagenda trug den Titel »Friedenspolitik für einen Wechsel«. Die Regierung überließ der Guerilla im Südosten Kolumbiens, in den Provinzen Meta und Caquetá, eine sogenannte »demilitarisierte Zone«, etwa so groß wie die Schweiz, in die sich die Guerilla zurückziehen und wo sie die Kontrolle ausüben sollte. Dieser von Anfang an holprige Prozess litt unter etlichen Defiziten, wie zum Beispiel fehlender Organisation und daraus resultierender willkürlicher Improvisation, und wurde letztendlich von der Guerilla eher dazu genutzt, militärisch aufzurüsten statt soziale Reformen durchzuführen und ein friedliches Zusammenleben vorzubereiten. In Reaktion auf die Guerillaaktivitäten nahmen paramilitärische und militärische Aktionen ebenso zu wie Entführungen, die Erpressung von Lösegeldern und Morde an der Zivilbevölkerung. Der Prozess scheiterte endgültig im Februar 2002, nachdem die Guerilla eine Brücke, auf der gerade ein Krankenwagen fuhr, in die Luft gesprengt und ein Verkehrsflugzeug und einen Kongressabgeordneten entführt hatte. Interessanterweise stimmte die Bevölkerung der damals abgetretenen Gebiete beim Entscheid über den aktuellen Friedensvertrag überwiegend mit »Nein«, mit besonders deutlicher Mehrheit in der Provinz Meta.

Das Scheitern der Verhandlungen im Caguán und das Erstarken der Guerilla waren Wasser auf die Mühlen von Präsident Àlvaro Uribe Vélez (2002–2010), der für zwei Amtsperioden die Regierung führte und als »Hardliner« bezeichnet wurde. Er wurde bereits im ersten Wahlgang zum Präsidenten gewählt und versprach dem kolumbianischen Volk, die »Terroristen auszurotten«. Für Uribe existierte kein interner Konflikt, sondern für ihn galt es, die Politik der »demokratischen Sicherheit« umzusetzen und die Guerilla mit militärischer Härte zu bekämpfen. Noch heute gibt es viele Kolumbianer, die der Meinung sind, dies sei die einzige Möglichkeit, dem Land wirklich Sicherheit und Frieden zu bringen. Unter Federführung der USA und gemäß ihren geo- und sicherheitspolitischen Interessen wurde während dieser Zeit der Plan Colombia entwickelt und umgesetzt. Der hauptsächlich militärisch ausgerichtete Maßnahmenkatalog zielte auf die Bekämpfung des Anbaus und Vertriebs von Kokain ab und sollte darüber hinaus zur Vernichtung der als Terroristen bezeichneten Guerilla führen. Zielsetzung und Auswirkungen des Plan Colombia waren von Beginn an umstritten. Staat und Bevölkerung litten unter der millionenfachen Binnenflucht, die ihre Ursache in der gewaltsamen Vertreibung der Landbevölkerung durch Paramilitärs und Guerillagruppen hatte. Uribe nahm Verhandlungen mit den mittlerweile in den »Vereinigten Bürgerwehren Kolumbiens« – AUC (Autodefensas Unidas de Colombia) organisierten Paramilitärs auf und erreichte im Jahr 2005 deren Demobilisierung, die von vielen bis heute als Pyrrhussieg angesehen wird. Über die Anzahl der unter Waffen stehenden Paramilitärs gab und gibt es widersprüchliche Aussagen. Rund 14.000 AUC-Kämpfer wurden im Zuge der Demobilisierung entwaffnet. Eine sinkende Präsenz der AUC in ihren Einflussgebieten konnte allerdings in der Folge nicht beobachtet werden. Nachfolgegruppen, die sich teils als kriminelle Banden (Bandas Criminales – Bacrim), teils als neue paramilitärische Gruppierungen wie die Gaitanistas organisierten, verbreiten heute in vielen Regionen Kolumbiens Angst und Schrecken. Gegen Ende der Regierungszeit Uribes und unter seinem Verteidigungsminister Juan Manuel Santos kam es in unvorstellbarem Ausmaß zu Morden an der Zivilbevölkerung. Die Toten wurden als falsos positivos, »falsche Gefallene«, bezeichnet: Arme Jugendliche wurden von Angehörigen des Militärs unter dem Vorwand, ihnen Arbeit zu verschaffen, in entlegene Gebiete des Landes gelockt, ermordet, in Uniformen gesteckt und als im Kampf gefallene Guerilleros ausgegeben, für die die Mörder ein Kopfgeld kassierten.

FOTO: JüRGEN ESCHER/ADVENIAT
»Paz«, Frieden. Eine Wandmalerei in Bogotá bringt die Sehnsucht der Menschen in Kolumbien zum Ausdruck.
FOTO: JÜRGEN ESCHER/ADVENIAT
Für das Friedensdenkmal »Schwerter zu Pflugscharen« des Bildhauers Rodrigo Arenas Betancur haben ehemalige Kämpfer der Guerilla M 19 in den 1990er Jahren ihre Gewehre und Handfeuerwaffen abgegeben, die dann eingeschmolzen wurden, aber zum Teil auch noch sichtbar sind.
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Reynel Barbarosa aus dem Ort La Meta ist ein Opfer des bewaffneten Konflikts in Kolumbien und reiste auf Einladung der Nationalen Versöhnungskommission als Vertreter der Opfer zu den Friedensverhandlungen in Havanna.
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Luis Augusto Castro Quiroga, Erzbischof von Tunja und Vorsitzender der Bischofskonferenz, setzt sich unermüdlich für Frieden und Versöhnung ein. 2010 erhielt er für sein Engagement den Nationalen Friedenspreis.
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Am 16. Dezember 2016 empfing Papst Franziskus Kolumbiens Präsident Juan Manuel Santos zu einer Privataudienz im Vatikan.

Kolumbien auf einen Blick

Fläche: 1.141.748 km²

Bevölkerung: 48.229.000

Sprachen: Spanisch, indigene Sprachen

Religionen: 80–90 % Katholiken, 10–15 % Protestanten

Human Development Index 2014: Rang 97 von 188 Staaten


Quellen: Fischer Weltalmanach 2017; hdr.undp.org

Johannes Weitzel 2016

Der aktuelle Friedensprozess

Von Präsident Uribe im Wahlkampf kräftig unterstützt, kam 2010 sein Verteidigungsminister Juan Manuel Santos Calderón an die Macht. Völlig unerwartet vollzog sich ein Paradigmenwechsel in der Regierungspolitik. Nachdem Santos bis dahin eine rigide militärische Position vertreten hatte, erkannte er nun die Existenz eines internen Konflikts und eine Mitverantwortung des Staates an. Santos zog damit den Hass seines Vorgängers und ehemaligen Förderers Àlvaro Uribe auf sich. 2011 nahm Santos geheime Gespräche mit der FARC-Guerilla auf, um eine gemeinsame Agenda für die Friedensverhandlungen aufzustellen, die im Oktober 2012 in Havanna begannen. Die Verhandlungen, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt und von vier Garantiemächten (Kuba, Venezuela, Chile und Norwegen) begleitet wurden, verliefen zäh und standen während der vierjährigen Verhandlungszeit wiederholt vor dem Abbruch. In diesen Momenten stand die katholische Kirche bereit, um zwischen den Verhandlungspartnern zu vermitteln und diese wieder an den Verhandlungstisch zu bringen.

Als weltweit einzigartig ist die im Jahr 2015 erfolgte Einladung von Vertreterinnen und Vertretern der Opfer zu den laufenden Friedensverhandlungen nach Havanna anzusehen. Sie schilderten sowohl der Regierung als auch der Guerilla ihre erschütternden Erlebnisse als Opfer der Gewalt unterschiedlicher bewaffneter Akteure. 60 von der katholischen Kirche, der Nationaluniversität und den Vereinten Nationen aus der immensen Zahl der Opfer ausgewählte Personen reisten nacheinander in fünf Gruppen nach Kuba. Als sie die Erzählungen der Opfer hörten, so berichten Zeugen, mussten viele Verhandlungsführer weinen. Es gibt Stimmen, die behaupten, dass nicht zuletzt die Opfer das Durchhaltevermögen der Verhandlungsparteien gestärkt hätten. Die FARC sahen sich zum ersten Mal veranlasst, ihre Täterschaft anzuerkennen, nachdem sie sich bis dato immer selbst als Opfer des Systems bezeichnet hatten. Die Berichte der Opfer wurden in einem Buch mit dem Titel »Das Herz der Opfer« veröffentlicht und sollen den Kolumbianern als Beispiel für mögliches Verzeihen dienen – auch nach fürchterlichsten Erlebnissen.

Schließlich lag am 26. September 2016 das umfangreiche Vertragswerk in Cartagena zur Unterschrift vor. Beide Seiten betonten, man habe nach wie vor gegensätzliche Ansichten und habe schmerzhafte Zugeständnisse machen müssen, aber ein nicht perfektes Abkommen sei dem mörderischen Krieg auf jeden Fall vorzuziehen. In Zukunft wolle man mit politischen Mitteln und nicht mit Waffen für notwendige Reformen kämpfen. Die Rolle der Opfer, die laut Aussage der Beteiligten im Mittelpunkt der Verhandlungen standen, wurde nochmals hervorgehoben, und man versprach erneut, ihr Recht auf Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und die Garantie der Nicht- Wiederholung zu respektieren.

Nur eine Woche nach der feierlichen Unterzeichnung des Vertrages stimmte das Volk über den Friedensvertrag ab. Bei recht geringer Wahlbeteiligung lehnte eine hauchdünne Mehrheit der Kolumbianerinnen und Kolumbianer das Abkommen ab und ließ das Land in eine Schockstarre verfallen. Aber weder die Regierung noch die FARC-Guerilla wollten den Friedensprozess abermals scheitern lassen. Man gab gemeinsam bekannt, dass der erst am 24. August 2016 unterzeichnete beiderseitige Waffenstillstand weiterhin in Kraft bleiben werde. Nach einer kurzen Atempause und mit dem an Präsident Santos verliehenen Friedensnobelpreis im Rücken begann ein umfassender Dialogprozess. In knapp einem Monat brachten bislang ausgeschlossene politische Gegner und zivilgesellschaftliche Akteure rund 500 Vorschläge zur Modifizierung des Abkommens ein. Anfang Dezember 2016 billigten beide Kammern des Parlaments die aufgrund der Vorschläge überarbeitete Fassung des Vertrags und stimmten der Umsetzung im Eilverfahren (Fast Track) zu. Einen neuerlichen Volksentscheid wird es nicht geben.

Zwischen großer Hoffnung und tiefen Zweifeln

Immer noch gibt es viele Gegner des Abkommens in der polarisierten und nach wie vor durch enorme soziale Ungleichheit gezeichneten kolumbianischen Bevölkerung. Denn die jahrhundertelange Erfahrung von Gewalt als Mittel der Politik hat die Kolumbianer gelehrt, dass Menschenleben und Menschenrechte in der kolumbianischen Politik keine respektierten Werte sind. Mit der Unterzeichnung des Friedensabkommens ist ein historischer Schritt vollzogen und ein formaler Grundstein gelegt. Wirklich dauerhaft wird der Frieden in Kolumbien nur dann sein, wenn die aktuellen Herausforderungen angegangen und bewältigt werden. Die im Abkommen vereinbarte umfassende Agrarreform und eine ganzheitliche Entwicklung der vernachlässigten Regionen des Landes, in denen es bisher keine institutionelle Präsenz des Staates gab, ist schon aus Sicherheitsgründen mehr als dringlich. Denn Gewaltakte der Paramilitärs, krimineller Banden und der zweitgrößten Guerilla-Gruppe ELN sind nach wie vor an der Tagesordnung. Diese Akteure könnten das Machtvakuum nutzen, das möglicherweise durch die anstehende Demobilisierung der FARC-Kämpfer entsteht, vor allem in den Regionen, in denen bisher die Guerilla die Kontrolle ausgeübt hat. Dies könnte alle Friedensbemühungen im Keim ersticken.

Angesichts der Polarisierung in der Bevölkerung sind eine verbesserte Kommunikation mit allen Teilen der Gesellschaft und die politische und gesellschaftliche Inklusion bisher übersehener Gruppen und Minderheiten notwendig. Um nicht eine neue Welle der Gewalt auszulösen, muss die Sicherheit besonders von drei Gruppen gesichert werden: der demobilisierten FARC-Kombattanten; der auf ihr Land zurückkehrenden Binnenflüchtlinge; und von Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten, auf die es im letzten Jahr der Friedensverhandlungen vermehrt gewalttätige Übergriffe gab und die in großer Zahl bedroht und ermordet wurden.

Chancengerechtigkeit, Inklusion, die Rückgabe von Land an Millionen von Binnenvertriebenen, die Entschädigung der Opfer, die Substituierung der Drogenökonomie, die politische Partizipation der Guerilla nach Niederlegung der Waffen, Bildung und Arbeit für die ehemaligen Kämpfer, die Einrichtung einer Wahrheitskommission und der ausgehandelten Übergangsjustiz sowie die Bekämpfung der Korruption sind große Herausforderungen, denen sich Kolumbien stellen muss. Dafür braucht das Land internationale Unterstützung. Investoren, die seit Beginn der Friedensgespräche darauf warten, in die kolumbianische Wirtschaft zu investieren, sollten bedenken, dass die Förderung des Friedensprozesses nicht nur ein marktorientiertes, sondern vor allem ein sozial und ökologisch verantwortliches, behutsames Vorgehen erfordert. Die internationale Nachfrage nach Drogen und die Nutzung von Konfliktrohstoffen durch die wirtschaftlich starken Länder – beispielsweise der kolumbianischen Kohle, die unter menschenunwürdigen Bedingungen abgebaut und auch in deutschen Kraftwerken verheizt wird – heizen den Konflikt eher an, als dass sie deeskalierend wirken. Für das Gelingen des Friedensprozesses werden nicht nur die Ergebnisse der Verhandlungen entscheidend sein, sondern vielmehr die Frage, wie diese umgesetzt werden.

Die Bischofskonferenz unter ihrem aktuellen Präsidenten, Erzbischof Luis Augusto Castro Quiroga, einem unermüdlichen Wegbereiter für Frieden und Versöhnung, gemahnt die Kolumbianer an die gemeinsame Verantwortung für den Frieden. Die Richtung gibt sie mit den Worten Papst Franziskus’ aus Evangelii Gaudium (218) vor: »Die sozialen Forderungen, die mit der Verteilung der Einkommen, der sozialen Einbeziehung der Armen und den Menschenrechten zusammenhängen, dürfen nicht unter dem Vorwand zum Schweigen gebracht werden, einen Konsens auf dem Papier zu haben oder einen oberflächlichen Frieden für eine glückliche Minderheit zu schaffen. Die Würde des Menschen und das Gemeingut gelten mehr als das Wohlbefinden einiger, die nicht auf ihre Privilegien verzichten wollen. Wenn jene Werte bedroht sind, muss eine prophetische Stimme erhoben werden.« Mit der Verpflichtung auf diese Worte des Papstes hat die katholische Kirche in Kolumbien eine besondere Verantwortung beim Aufbau des Friedens im Land übernommen.