von Michael Kuhnert
Die deutsche Gesellschaft neigt dazu, globale Probleme erst dann wahr- und ernst zu nehmen, wenn diese einen direkten Eingriff in die eigene Lebenswirklichkeit bedeuten und Freiheitsrechte beschneiden. Vorher ist es allzu verführerisch, die Augen zu verschließen, eventuell noch ein pflichtbewusstes Mindestmaß an solidarischer Anteilnahme am Leid des Rests der Welt zu bekunden. Längst ist die Corona-Pandemie auch in Deutschland angekommen. Die neu gewonnene Zeit könnte hier genutzt werden, um innezuhalten und zu reflektieren: Was macht das menschliche Zusammenleben wesentlich aus?
Michael Kuhnert
ist Krankenpfleger und Theologe. Von 1993 bis 1996 war er als AGEH-Fachkraft (heute Agiamondo) in den Slums von Cali (Kolumbien) tätig. Außerdem arbeitete er von 2004 bis 2007 in der Diözese Nueva Orán (Argentinien). Als Länderreferent war er langjähriger Mitarbeiter des Lateinamerikahilfswerks Adveniat. Seit 2013 ist er der Geschäftsführer des Missionsärztlichen Instituts Würzburg.
Zu Jahresbeginn 2020 verlief das Leben für die meisten von uns in Deutschland noch so normal wie gewohnt. Wir waren uns sicher, dass zumindest bei uns nichts Schlimmes passiert und dass das Leben im Großen und Ganzen ruhig weiter geht. Wir waren an unsere relative Sorglosigkeit gewöhnt, genossen unseren Wohlstand und hatten den Luxus, uns über Kleinigkeiten aufregen zu können. Wir hörten zwar von einem neuen Virus in China, aber es war weit weg und deshalb nicht unser Problem. Wir fuhren weiter Ski, feierten Karneval und planten den Sommerurlaub. Doch plötzlich war die Pandemie auch bei uns: Covid-19 hat unsere Unbeschwertheit und unsere vermeintlichen Sicherheiten hinweggerissen, und wir erfahren das Leben nun für eine gewisse Zeit fast so schockierend, unfair, bitter und zerbrechlich wie die Ausgeschlossenen in Afrika, Asien und Lateinamerika seit Generationen. Corona nehmen wir seit März 2020 ernst, weil es uns selbst betrifft. Andere Pandemien und Endemien, an denen Menschen sterben, bemerken wir kaum oder gar nicht. Wir schauen weg[1] und lassen, trotz des Appells der Vereinten Nationen, „ein gesundes Leben für alle Menschen jeden Alters zu gewährleisten und ihr Wohlergehen zu fördern“[2], immer noch viel zu viele Menschen auf dem Weg dorthin zurück. Wir ignorieren die Zeichen der Zeit.
1,5 Millionen Tuberkulose-Tote pro Jahr.[3] Über 220 Millionen Malaria-Infizierte und mehr als 400.000 Malaria-Tote. Gut drei Millionen verhungerte Kleinkinder. 2,5 Millionen verstorbene Neugeborene und drei Millionen weitere Kinder, die nicht einmal fünf Jahre alt werden. 300.000 während ihrer Schwangerschaft oder unmittelbar bei der Geburt verstorbene Frauen. Fast jedes zehnte Kind ohne Impfung. 16 Millionen HIV-Infizierte ohne Zugang zu lebensrettenden Medikamenten. Knapp eine Milliarde Menschen ohne adäquate Gesundheitsversorgung. Richtig erschüttert haben uns diese Zahlen und die dahinter verborgenen menschlichen Schicksale eigentlich nie.
Zwar gab es Anstrengungen, die Gesundheitslage zu verbessern: Die Lebenserwartung stieg weltweit seit 1980 von 63 auf 72 Jahre an und die Mütter- und Säuglingssterblichkeit sank seit 1990 um rund die Hälfte. Aber die oben aufgeführten Zahlen verbieten es, von einem Durchbruch zu sprechen. Ja, es wurde etwas getan. Aber es wurde und wird nicht genügend getan! Die Gesundheitsversorgung für alle und der Aufbau von stabilen, effizienten und jedem zugänglichen Gesundheitssystemen haben in der staatlichen wie auch in der kirchlichen Entwicklungszusammenarbeit - trotz der UN-Entwicklungsagenda und des Heilungsauftrags Jesu (Lk 10,9) - zu Beginn des Jahres 2020 leider immer noch nicht den Stellenwert, den sie haben müssten.
Unser Engagement für die Armen und unsere Solidarität mit ihnen hielten sich bereits vor Corona in Grenzen. Die Erhaltung unseres verschwenderischen Lebensstils auf Kosten derer, die wir nicht sehen und derer, die nach uns kommen, war uns wichtiger als das Teilen mit jenen, die weniger vom Glück bedacht sind als wir selbst. Verantwortung zu übernehmen bedeutete für uns meist, sich um uns selbst, um unsere Familien und selten auch einmal um unser Land oder andereMitmenschen zu kümmern. Solidarität war, auch für uns Christen, fast nie selbstverständlich, sondern eher außergewöhnlich. Eine Option für die Armen hatten wir nie. »Wir haben uns von Kriegen und weltweiter Ungerechtigkeit nicht aufrütteln lassen, wir haben nicht auf den Schrei der Armen und unseres schwer kranken Planeten gehört. Wir haben unerschrocken weitergemacht in der Ansicht, dass wir in einer krankenWelt immer gesund bleiben würden.«[4]
Und jetzt zieht zusätzlich Covid-19 um die Welt: Zuerst strich es durch Wochenmärkte, Flughäfen, Fußballstadien und Ski-Hochburgen. Es schlich sich nach Italien, Spanien, Deutschland, Frankreich. Dann nach Kapstadt, New York, London, Manaus, Moskau, Mumbai, Sao Paolo, Lima. Und jetzt fliegt es der Menschheit um die Ohren, weil es sich von den Anden bis nach Afghanistan verbreitet und sich längst eingenistet hat in Flüchtlingslagern und Elendsvierteln, im Amazonasgebiet, unter Wanderarbeitern und Indigenen.
Die Angst vor Corona und die Sorgen wegen seiner Folgen sind global geworden. Mails und Kurznachrichten von unseren Partnern in Indien, Afrika und Lateinamerika sprechen Bände davon: »Corona ist in der Nachbarstadt angekommen. Uns fehlt es an Medikamenten, Krankenhausbetten, geschultem Personal und Beatmungsplätzen.« »Bei uns ist doch schon immer Corona! « »Wir brauchen Masken, Schutzkleidung, Desinfektionsmittel. Eigentlich alles.« »Wegen des Lockdowns können die Armen nicht arbeiten. Sie brauchen dringend Lebensmittel«. »Keinem geht es gut in dieser Zeit. Aber den Armen geht es besonders schlecht, weil ihr Ernährungszustand immer schlechter wird, das nächste Krankenhaus für sie praktisch unerreichbar ist und es doch selbst kaum Mittel hat, umwirklich zu helfen. « Corona verschärft die (Gesundheits-)Probleme in den sogenannten Entwicklungsländern dramatisch. Die Armen dort sind vielleicht die Letzten, die Corona treffen wird. Aber ganz sicher gehören sie – wieder einmal – zu den Letzten, denen Hilfe zuteilwird. Unzählige werden an Corona versterben.
Aber noch viele weitere Menschen werden wohl wegen Corona ihr Leben lassen: Denn viele öffentliche Gesundheitssysteme sind während Corona zusammengebrochen und dringend benötigte Präventions- sowie
Impfprogramme sind nahezu zum Erliegen gekommen. Wegen der Ausgangssperren und -beschränkungen ist es fast unmöglich, einen Arzt aufzusuchen. Wer es trotzdem einmal in ein Krankenhaus schafft, muss oft feststellen, dass ihm dort aus Angst vor Corona nicht geholfen wird oder, trotz bestem Willen, aufgrund des chronischen Mangels an medizinischem Personal, Medikamenten, Diagnosemöglichkeiten und Ausstattung auch bei anderen schweren Erkrankungen gar nicht geholfen werden kann. Hinzu kommt die sich gravierend verschlechternde Ernährungssituation. Der »Corona-Hunger« steigt drastisch, weil es Engpässe bei der Nahrungsmittelversorgung gibt, die Lebensmittel teurer werden und viele Menschen wegen der Lockdowns und Quarantänemaßnahmen im Prinzip keine Möglichkeit mehr haben, für ihr Auskommen durch Arbeit auf dem informellen Sektor zu sorgen. Als Folge davon und wegen defizitärer oder gar nicht vorhandener Sozialprogramme in armen Ländern gehen Mangel- und Unterernährung durch die Decke. Fazit: Das Überleben unzähliger Menschen ist aufgrund des Coronavirus und der weitreichenden Maßnahmen und Folgen seiner Bekämpfung in großer Gefahr!
Dabei war das Leben für sie schon vor Corona ein oft vergeblicher Kampf um wenigstens eine geringe Teilhabe an Bildung, Gesundheitsversorgung, fair bezahlter Arbeit und menschenwürdigen Lebens-, Wohn- und Arbeitsverhältnissen. Wer arm war, lief schon immer Gefahr, aufgrund seiner Armut auch krank zu werden. Wenn ein armer Mensch während der Zeit von Corona erkrankt, wird er – falls er überlebt – automatisch noch ärmer aus der Krankheit hervorgehen. Es ist ein Teufelskreislauf, den die Menschen – trotz ihrer Kreativität und ihres Überlebenswillens – ohne Hilfe von außen niemals alleine durchbrechen können. Unsere Solidarität ist deshalb so gefragt wie noch nie in diesem Jahrhundert!
Covid-19 hält die Menschheit seit Monaten im Griff. Es raubt ihr den Atem, macht Angst, führt zu Verzweiflung. Es macht Schluss mit dem Selbstverständlichen. Es wirft dieMenschen auf sich selbst zurück und lässt sie ahnen, dass sie so wie bisher nichtmehr weitermachen können. Genau in dieser allgemeinen Verunsicherung könnte eine große Chance liegen. Wir könnten sie zum Anlass nehmen, um darüber nachzudenken, was bislang menschlich und politisch falsche Bahnen genommen hat und was nach Corona anders zu machen wäre. Was können wir tun, damit allenMenschen das gute Leben zuteilwird? Wir könnten der Frage nachgehen, was uns wirklich trägt, was wir brauchen, und vor allem, was unsere Mitmenschen brauchen. Wir könnten fragen, was uns Sinn, Halt und Hoffnung schenkt und wem wir selber
Sinn, Halt und Hoffnung vermitteln können? Wir könnten uns in dieser ganz speziellen »Fastenzeit« auf den Weg machen und uns auf die bisher leider nur sehr schmalen Pfade einer weltumspannenden Solidarität begeben. „Wenn aus dieser Pandemie eine bessere Welt hervorgehen soll, werden wir zueinander stehen müssen, bescheiden und solidarisch, so wie es dieser historische Augenblick erfordert.“[5]
In der Druckausgabe weiterlesen
1 Papst Franziskus am 14. Mai 2020: »Es gibt viele andere Pandemien, an denen Menschen sterben, und wir bemerken es nicht, wir schauen weg.« Zitiert nach: Papst betet für Ende der Corona-Pandemie, https://chrismon.evangelisch.de/nachrichten/49772/papst-betet-fuer-ende-der-coronapandemie (letzter Zugriff: 15.07.2020).
2 Vgl. die Susatainable Development Goals der Agenda 2030, Nr. 3 zum Thema »Gesundheit und Wohlergeben«, http://www.bmz.de/de/themen/2030_agenda/17_ziele/ziel_003_gesundheit/index.html (letzter Zugriff: 15.07.2020).
3 https://www.who.int/health-topics/tuberculosis#tab=tab_1 (letzter Zugriff: 15.07.2020).
4 Papst Franziskus am 27.03.2020 in Rom, https://www.zeit.de/2020/15/andacht-corona-krise-papst-franziskus (letzter Zugriff: 15.07.2020).
5 Orhan Pamuk, Süddeutsche Zeitung, 30.4./1.5.2020.