Kinderschutz

Religionsunterricht als Chance

 

Zur religiösen Selbstartikulierung von Kindern und Jugendlichen

von Stephan Pruchniewicz

Lange Zeit galt der Religionsunterricht als natürlicher kirchlicher Sozialisierungsraum junger Menschen. Inzwischen zeichnet sich jedoch ein deutlicher Trend ab, dass der Religionsunterricht und allgemein die Kirche als Institution an Relevanz für die Lebenswirklichkeit von Kindern und Jugendlichen verliert. Welche Aufgaben stellen sich vor diesem Hintergrund an die Religionspädagogik? Wie können die Interessen und Bedürfnisse junger Menschen wieder verstärkt ins Zentrum didaktischen Arbeitens gerückt werden?

Autor

Stephan Pruchniewicz

ist promovierter Theologe und Inhaber des Lehrstuhls für Praktische Theologie / Religionspädagogik an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Themen »Hermeneutik der Religionspädagogik « und »Interreligiöses und dialogisches Lernen: Grundlagen und Konzepte«.

 

Kinder und Jugendliche spielen in den Angeboten kirchlicher Gemeindearbeit von jeher eine nicht unbedeutende Rolle. Neben katechetischen Bemühungen, etwa zur Vorbereitung auf die Erstkommunion oder die Firmung, lagerten sich, über Jahrzehnte selbstverständlich, Gruppenstunden, Pfadfindergruppen, Ministrierendengruppen und die verschiedensten Freizeitaktivitäten an die herkömmliche Pfarreistruktur an. Katholische Jugendverbände galten und gelten nach wie vor als kritische Stimme der nachwachsenden Generation in Kirche, und sie waren über einen langen Zeitraum auch das Nachwuchsreservoir für kirchliche beziehungsweise pastorale Berufe. Hinzu kam für viele Kinder und Jugendliche die unhinterfragte Teilnahme am Religionsunterricht, der sozusagen den kirchlichen Sozialisationsprozess flankierte und kritisch zu begleiten suchte. Am Ende dieses, weitgehend von Erwachsenen organisierten, Weges stand – so die Hoffnung – der mündige Christ und Katholik, der sein Christsein im privaten wie gesellschaftlichen Leben reflektiert, zur Richtschnur macht und diesen Glauben an die nächste Generation weiterzugeben im Stande ist. Es ist kein Geheimnis, dass dieses Gesamtpaket christlich-kirchlicher Erziehung Risse bekommen hat und dass vielen Kindern und Jugendlichen, aus welchen Gründen auch immer, der Zugang in diese stark von der Gemeinde her gedachten Welt verschlossen bleibt oder für sie gar keine Option darstellt. Das Gespenst des kirchlichen Traditionsabbruchs geht seit Jahren um, ohne dass es trotz gut gemeinter Versuche auf vielen Ebenen eingefangen werden konnte. So bleibt die Feststellung, dass der Religionsunterricht oft der einzige Ort ist, an dem Kinder und Jugendliche noch mit Kirche, Religion und Glauben in Berührung kommen. Für die Verantwortlichen ist dies Aufgabe und Bürde zugleich. Eine Aufgabe, die vor allem darunter leidet, dass die Inhalte des katholischen Religionsunterrichts zwar in didaktischer und methodischer Hinsicht den Bedürfnissen und Bedarfen der Schülerinnen und Schüler passgenau entgegenkommen, es aber an einer Theologie des Kindes als Grundlage des Unterrichts mangelt. Dieser hier bewusst scharf postulierte Mangel soll nun im Folgenden etwas genauer konturiert werden, um letztlich der Frage nach dem Kindeswohl in einem theologischen und religionspädagogischen Kontext nachzugehen.

Die Frage, inwiefern religiöse Erziehung und Bildung einen Beitrag zum Wohl von Kindern und Jugendlichen leisten kann, wird nur dann zu beantworten sein, wenn die Ziele dieses Bildungs- und Erziehungsprozesses in den Blick genommen werden. Die überkommenen Zielsetzungen wurden eingangs umrissen und es gilt nun, nach solchen Zielen Ausschau zu halten, die nicht mehr nur von der Ermöglichung eines individuellen Glaubenslebens und einer generationsübergreifenden Sicherung der Institution Kirche her gedacht werden, sondern für die stärker die Bedeutung von selbstbestimmtem Leben, Resilienz und Verantwortung gegenüber den Mitmenschen und -geschöpfen prägend ist. All das fehlte sicher in den vergangenen Jahrzehnten nicht, aber es scheint notwendig, diese Bereiche bewusster in den Vordergrund zu rücken, gerade weil sich das in den Lernprozessen Angeeignete in der säkularen Gesellschaft bewähren muss. Dabei steht die Theologie vor zwei zentralen Herausforderungen: Zum einen muss sie sich damit beschäftigen, inwieweit Kindern und Jugendlichen eine eigene theologische Würde zukommen kann. Mit anderen Worten: Wird das Kinder- und Jugendalter nur als Durchgangsstation zum Erwachsenenleben verstanden, in dem vor allem die religiösen Grundsteine für den Erwachsenen gelegt werden, oder gelingt es, Kinder als Kinder und Jugendliche als Jugendliche zu stärken – und worin besteht dann diese Stärkung? Zum anderen steht all das institutionelle Erziehungs- und Bildungsbemühen, an dem Kirche federführend oder partizipativ beteiligt ist, seit dem Öffentlich-Werden des kirchlich-klerikalen Missbrauchsskandals in einer massiven Vertrauenskrise, die letztlich auch theologisch beantwortet werden muss, will Kirche weiter ihrer erzieherischen Aufgabe nachkommen. Diesen Erziehungsauftrag beschreibt das Zweite Vatikanische Konzil in der Erklärung Gravissimum educationis wie folgt: »Ein ganz besonderer Erziehungsauftrag ist der Kirche zu eigen, nicht nur weil auch sie als eine zur Erziehung fähige menschliche Gemeinschaft anzuerkennen ist, sondern vor allem deshalb, weil sie die Aufgabe hat, allen Menschen den Heilsweg zu verkünden, den Gläubigen das Leben Christi mitzuteilen und ihnen mit unablässiger Sorge zu helfen, daß sie zur Fülle dieses Lebens gelangen können. Diesen ihren Kindern hat daher die Kirche gleichsam als ihre Mutter jene Erziehung zu schenken, die ihr ganzes Leben mit dem Geiste Christi erfüllt; zugleich aber bietet sie ihre wirksame Hilfe allen Völkern an zur Vervollkommnung der menschlichen Persönlichkeit, zum Wohl der irdischen Gesellschaft und zum Aufbau einer Welt, die menschlicher gestaltet werden muß.« (GE 3)

In diesem nun 55 Jahre alten Text steckt, trotz der vielleicht unzeitgemäßen Sprache, immer noch einiges an Sprengkraft bezüglich der Fragestellung dieses Artikels. Wenn in Gravissimum educationis die Rede ist von der »Fülle des Lebens«, der »Vervollkommnung der menschlichen Persönlichkeit« und der »Welt, die menschlicher gestaltet werden muss«, dann sind das keine Worthülsen, sondern sie skizzieren eine Aufgabe, die ganz im Geiste des Konzils stets der Erfüllung bedarf und dabei Maß nehmen muss an den »Zeichen der Zeit« (Gaudium et spes 4).

Dazu bedarf es einer religiösen Erziehung und Bildung, die sich zunächst als Hörende versteht. Nicht das, was aus Kindern und Jugendlichen werden kann und soll, muss am Anfang stehen, sondern die Frage nach der Weltsicht der Kinder und Jugendlichen. Ihre, aus welchen Quellen auch immer gespeisten, Zugriffe auf das Leben und die Welt sowie ihre damit einhergehenden Fragen, Anmerkungen und kritischen Distanzierungen zum Erlebten müssen von der Religionspädagogik und Theologie aufgegriffen werden. Nur das Kind, nur der Jugendliche, der sich in seinen eigenen Verstehensbemühungen ernst genommen fühlt, vermag auch mit Antwortvorschlägen auf seine Fragen adäquat umzugehen. Religiöse Bildung stärkt den Menschen nicht, wenn sie Fragen und Antworten gleichermaßen vorgibt und wenn sie es nicht erträgt, dass die Fragen »querliegen«, »unangemessen erscheinen« oder »von mangelnder Sachkenntnis geprägt sind«. Die Forderungen des Konzils zielen auf eine Erziehung, die mutige Menschen hervorbringt, solche, die sich im Leben und angesichts des Lebens bewähren, denen dabei im besten Falle der Glaube Richtschnur bietet. Deshalb sollten Kinder und Jugendliche, nicht zuletzt im Religionsunterricht, den Glauben als Ermutigung zu einem selbstbestimmten Leben erfahren, als Freiraum, sich mit der Welt und ihren zahlreichen Abgründen kritisch auseinanderzusetzen und selbstbewusst für sich Partei zu ergreifen, gerade auch gegen die scheinbar immer gerechtfertigten Ansprüche der Erwachsenenwelt.

Hier steht noch einiges an Aufgaben aus, zeigt sich doch in einschlägigen empirischen Untersuchungen, dass immer mehr Jugendliche eine religiöse Dimension in ihrem Leben ganz leugnen oder einen deutlichen Unterschied machen zwischen ihrem persönlichen Glauben und dem, was sie unter dem Begriff »religiös« als institutionalisierte Religion ablehnen.[1] Tragisch an diesen Befunden ist vor allem die Begründung, die von den befragten Jugendlichen angeführt wird: Sie erleben die angebotenen Inhalte und institutionellen Angebote nicht mehr als lebensfördernd, sondern als Hindernis für ihre persönliche Entwicklung. Dieses »Zeichen der Zeit« gilt es ernsthaft wahrzunehmen. Der Religionsunterricht bietet als nach wie vor institutionell verankertes und damit für Kinder und Jugendliche leicht zugängliches Angebot die Chance, sie mit einer anschlussfähigen, religiös konnotierten Weltsicht zu konfrontieren und ihnen die Auseinandersetzung damit zu ermöglichen. Die konsequente Stärkung des biografischen Lernens innerhalb des Religionsunterrichts und eine zunächst bedingungslose Teilnahmemöglichkeit der Schülerinnen und Schüler an diesem Unterricht schafft ein Umfeld, dass einen wesentlichen Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung im Gesamtkontext schulischer Bildung leisten kann und vielfach schon leistet. Ziele dieser Persönlichkeitsentwicklung wurden bereits angedeutet und lassen sich nochmals zusammenfassen unter den Stichworten Resilienz und Mut. Sie schöpfen im Religionsunterricht ihren Gehalt aus einer theologischen Option für Kinder, die nicht länger verstanden werden darf als patriarchaler Gestus auf dem Weg ins Erwachsenenleben, sondern der von Papst Franziskus immer wieder eingeforderten Option für die Armen ähnlich, eine zentrale Richtschnur theologischen Denkens und pastoralen sowie religionspädagogischen Handelns sein muss. Es ist sehr zu wünschen – und viel mehr daran zu arbeiten, dass diese Option deutlicher als bislang auch in den Lehrplänen für den katholischen Religionsunterricht ihren sichtbaren Niederschlag findet. Will Kirche eine Zukunft haben, muss sie alles daransetzen, Kindern und Jugendlichen eine selbstbestimmte Zukunft zu eröffnen. Bildung und die Beteiligung an Bildungsprozessen sind hierbei zentrale Säulen.

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Der Religionsunterricht ist inzwischen oftmals der einzige Ort, an dem Kinder und Jugendliche noch mit Kirche, Religion und Glauben in Berührung kommen. Für Religionslehrerinnen und -lehrer stellt dies eine Herausforderung dar, denn es fehlt eine fundierte Theologie des Kindes.
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Das Kindeswohl sollte auch im Religionsunterricht wieder stärker in den Fokus gerückt werden. Es geht dabei nicht nur um die Artikulation eines individuellen Glaubens, sondern auch um die Frage, wie ein selbstbestimmtes Leben geführt und Verantwortung für die Mitmenschen übernommen werden kann.
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Kinder und Jugendliche sollten den Glauben als Ermutigung und Freiraum erfahren, sich mit der Welt und ihren zahlreichen Abgründen kritisch auseinanderzusetzen und selbstbewusst ihren Interessen nachzugehen, gerade auch gegen die Ansprüche der Erwachsenenwelt.

Anmerkung

1 Vgl. Friedrich Schweitzer et al., Jugend – Glaube – Religion. Eine Repräsentativstudie zu Jugendlichen im Religions- und Ethikunterricht (Glaube – Wertebildung – Interreligiosität 13), Münster 2018.