Synodaler Weg

Buchrezension

 

Mark Münzel (Hrsg.), Indigene Religionen Südamerikas

Von Regina Reinart

Für alle, die sich auf irgendeine Art und Weise mit Südamerikas Indigenen beschäftigen, stellt der vorliegende Sammelband eine Pflichtlektüre dar. Insgesamt sieben Autor:innen, deren kurze biografische Notizen sowohl auf ihre sechs Herkunftsnationen verweisen als auch auf ihre Vertrautheit mit vielen weiteren, insbesondere indigenen Kulturkreisen, eröffnen der Leser:innenschaft zentrale Inhalte der indigenen Religionen. Mit jeder neuen Seite tun sich wertvolle und inspirierende Bilder auf.

Obschon jedes einzelne der sechs Kapitel für sich eine Einheit bildet, formen sie zusammen – wie es der Herausgeber Mark Münzel bezeichnet – ein Kaleidoskop. In einer kurzen Einführung steckt Münzel sowohl den geografischen als auch ethnologischen Rahmen ab. Hilfreich dabei sind seine Erläuterungen zum Umgang mit der Bezeichnung »Indigene « in dem jeweiligen kulturellen Kontext. Begrüßenswert ist auch der unter fünf Schlagwörtern aufgeführte Index (Personen, Völker/Ethnien, Glaubenswesen, Orte, Stichworte), der unmittelbar zu den entsprechenden Quellen führt. Die Stichworte sind umfassend: von »Brandrodung« zu »Land ohne Übel«, von »New Age« zu »Weltzeitalter «. Das Kartenmaterial und die Abbildungen sind jeweils sehr aufschlussreich.

Die Lektüre ist wie eine Reise, die uns von Amazonien zum zentralen und östlichen Andengebiet, von den Territorien der Guaraní und Kaiowá zum Gran Chaco als auch zu den Mapuche führt. Münzel betont: »Heute gilt für die Religionen voreuropäischen Ursprungs […], dass individuelle Weiterentwicklung nicht von einer Kirche kontrolliert wird, sondern von der jeweiligen kleinen Gemeinschaft « (11). Diese zentrale Aussage sollte zumindest für in den Kirchen Engagierte Berücksichtigung finden. Das Wechselspiel zwischen theoretischen Grundlagen, ethnologischer Forschung und Erzählungen sowie Erfahrungen ist anregend und lässt »[d]ie große Vielfalt der Kulturen und ihrer Religionen in Südamerika « erahnen, welche folgerichtig – so Münzel – »in einem Buch zu erfassen« unmöglich sei (16). Auch eine Rezension kann nur anreißen, was sich an kostbaren Welten hier zeigt.

Autor

Mark Münzel

ist Professor (i. R.) der Völkerkunde an der Philipps-Universität Marburg. Er hat bei und mit Indigenen in Brasilien, Paraguay, Ecuador und Peru geforscht, vor allem über Mythologie, religiöse Vorstellungen und Kunst, aber auch über ihre aktuelle Situation, und hat vielfach gegen ihre Verfolgung und Diskriminierung protestiert.

Autorin

Regina Reinart

hat einen Bachelor der Theologie und kulturellen Anthropologie in Dublin sowie einen Master in Theologie in São Paulo gemacht. Seit 2013 arbeitet sie als Brasilienreferentin beim Hilfswerk MISEREOR in Aachen. In ihrer Promotion untersucht sie die Chancen und Herausforderungen der Amazonien-Synode und legt den Fokus auf die Ethnie der Munduruku.

In Kapitel 1 taucht die in Madrid lebende Bulgarin María Vutova in die amazonensische Kultur der Arawak und deren Mythologie ein. Detailreich und dennoch zugänglich eröffnet sie uns deren Gottesund Weltbild, beschreibt den Schöpfungsmythos der Ethnie und erlaubt uns einen Blick in ihre eigenen Erfahrungen als Anthropologin. Dabei werden immer wieder auch Parallelen mit sowie Divergenzen gegenüber dem christlichen Glauben dargestellt. Die Bezüge zu Literaten wie Thomas Mann und dem Anthropologen Claude Lévi-Strauss führen zu einer besonders bereichernden Reflexion. Fesselnd sind nicht nur die Einblicke in die Welt des Protagonisten Don Reymundo Loquiño, sondern auch die Art und Weise, wie es Vutova gelingt, den Bogen zu spannen von ihm zu ihrer eigenen slawischen Mythen- und Märchenwelt und schließlich zurück zum »Universum der Arawak« (52).

Kapitel 2, das längste Kapitel im Buch, enthält neben einer umfangreichen Literaturliste auch eine wertvolle Mythensammlung. Münzels Kapitel ist – um bei seinem Bild zu bleiben – eine Art Kaleidoskop im Kaleidoskop, sein angenehm didaktischer Stil, die informativen Elemente und die klare Darstellung komplexer Sachverhalte überzeugen. Er geht auf die indigenen Traditionen ein und hebt sie als »Gleiche neben Christentum und Wissenschaft« (72) hervor. Seine Thesen bieten eine Basis für interdisziplinäre Dialoge: so etwa Mythen, deren Inhalte flexibler sind als bislang angenommen und als »momentanes Argument« (66) gelten können und ein Paradigmenwechsel in der Forschung hinsichtlich »einer Urform aller Religionen in Gestalt des Glaubens an ein Höchstes Wesen« (79). Die Verweise auf Autorinnen wie María Susana Cipolletti mit ihrem aktuellen Buch zu Schamanismus sowie auf indigene Autoren wie Daniel Munduruku imponieren, beide bleiben wichtige Quellen für Forschende und waren mir in meiner Studie richtungweisend (vgl. Reinart 2021, Amazonien-Synode). Die Bezugnahme Münzels zu den jeweils anderen Kapiteln im Sammelband machen diesen zu einer durchweg bereichernden Lektüre und regen zur Recherche der Sekundärquellen an. Die enormen Sprachkenntnisse wie auch die Sprachsensibilität Münzels sowie seine kritische Analyse der Entstehung von Mythensammlungen werden sowohl in den Betrachtungen bezüglich Übersetzungsleistungen im Allgemeinen als auch der Genderfrage (69f./95f.) im Besonderen deutlich. Wichtige Aspekte dieses Kapitels stellen die Rolle der Schamanen und ihre Träume, die Geisterklassen und -darstellung, die Zeremoniensysteme sowie das vielschichtige Realitätsverständnis der betrachteten Kulturen dar. Neue Begriffe wie »Urheber- Wesen« (97) sind einleuchtend. Die knappen sechs Seiten zum Seelenverständnis sind anregend und könnten Ausgangspunkt für missionstheologische Debatten sein. Die Unterabschnitte 6 bis 8 zum Schamanismus, zu öffentlichen Ritualen und die Aufführung der im Text genannten Ethnien sind sowohl aufschlussreich als auch fundamental für die folgenden Kapitel des Sammelbands.

Kapitel 3 knüpft logisch an das vorangegangene an, hier erörtern die Expertinnen Graciela Chamorro (Paraguay) und Isabelle Combès (Frankreich) das Konzept des »Tekóp katú« (Das gute Leben), klären die komplexe Welt der sogenannten »Guaraní-Gruppen« und stellen die Ergebnisse ihrer Feldforschungen dar. Die Kosmotheologie der Kaiowá wird hier thematisiert wie auch die verschiedenen Rituale von Schwangerschaft, Geburt, Taufe über Namensgebung bis hin zum Begräbnis.

Der Argentinier José Braunstein geht in Kapitel 4 auf die indigenen Religionen im Gran Chaco ein und bringt nach sehr guter und unabdingbar einführender Übersicht über die jeweiligen Sprachen und -gruppen der Leserschaft die Welt der Götter, des Sakralen und der Riten näher. Theoretische Basis liefern dabei unter anderem die Klassiker Alfred Métraux und Otto Zerries, welche sich mit Initiation und Schamanismus beschäftigten. Braunstein weist hierbei auf die historische Forschung mit der verbundenen Veränderung hin, dass sich heute die Analyse dieses Wandels einem Umfeld stellen müsse »in dem es immer schwieriger wird, gegenüber der permanenten Erneuerung eine Kontinuität zu finden« (183). Die anhängende wertvolle Literaturliste regt zur Vertiefung dieses wichtigen Themas an.

In Kapitel 5, dem zweitgrößten des Sammelbands, diskutiert der spanische Professor für Geschichte und Anthropologie, Francisco Gil García, die Religionen des zentralandinen Südamerikas. Nach der Darstellung und Erörterung des wissenschaftlichen Diskussionsstands und der Forschungsgeschichte, begeistert der Autor mit den darauffolgenden sieben Unterkapiteln zu unter anderem den Bewohner: innen der spirituellen Welten, andinen Ritualexperten und Kultpraktiken sowie den jeweiligen religiösen Umbrüchen in den Anden (Katholizismus, Protestantismus, Globalisierung) und zieht Schlussfolgerungen. Knappe 14 Seiten von bibliografischen Quellen belegen eindrucksvoll den Reichtum und die Interdisziplinarität seines Forschungsgebietes.

Das letzte Kapitel der Marburgerin Ulrike Bieger über die Religion der Mapuche reicht von den sozialen Verhältnissen über die Mythen des Ursprungs bis hin zu gemeinschaftlichen und individuellen Ritualen, die Ethnologin spricht dabei von der »kulturellen Kreativität« der Mapuche.

Für eine mit Südamerika weniger vertraute Leserschaft wäre neben der Karte der Sprachfamilien (10) eventuell eine aktuelle Karte mit Ländergrenzen zwecks Orientierung hilfreich gewesen.

Mark Münzel (Hrsg.), Indigene Religionen Südamerikas, Stuttgart (Verlag W. Kohlhammer) 2021, 366 Seiten. Reihe »Die Religionen der Menschheit«, Band 7,1