Von Jean Baptiste Ruzigamanzi
Übersetzt von Robert Bryce
Ruanda ist das erste Land, in dem die Ministerialämter von mehr Frauen als Männern bekleidet werden. Staat und Kirche haben viele Maßnahmen ergriffen, um die Geschlechtergerechtigkeit und die Grundrechte von Frauen zu stärken. Es braucht aber auch weiterhin eine gute Aufklärungsarbeit, da viele Männer nach wie vor Frauen als minderwertige Wesen betrachten. Die Kommission für Gerechtigkeit und Frieden in der Diözese Gikongoro leistet hierzu einen wichtigen Beitrag.
Jean Baptiste Ruzigamanzi
ist seit 2007 der Koordinator der Kommission für Gerechtigkeit und Frieden in der katholischen Diözese Gikongoro/Südprovinz von Ruanda. CDJP Gikongoro ist ein Dienst der gleichnamigen katholischen Diözese, der zur Friedensbildung, Stärkung der Frauen, Einheit und Versöhnung sowie zur Prävention und Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt beiträgt.
Nach dem Genozid im Jahr 1994 war für Ruanda allgemein eine Stagnation erwartet worden. Stattdessen erlebte das Land ein rasches Wirtschaftswachstum, das mit einem Zuwachs des Pro-Kopf- Bruttoinlandsprodukts (BIP) um 14 Prozent zwischen 2014 und 2017 oder umgerechnet 4,5 Prozent pro Jahr einherging. Momentan schrumpft die ruandische Wirtschaft allerdings: im zweiten Quartal 2020 um 12,4 Prozent gegenüber dem Vorjahr, verglichen mit einem Wachstum von 3,6 Prozent im Vorjahreszeitraum. Das war der erste Wirtschaftsabschwung seit Beginn der Erfassung von Vergleichsdaten im Jahr 2007. Auslöser dafür sind die Folgen des Covid-19-Lockdowns. Auf Quartalsbasis schrumpfte das BIP um 10,2 Prozent, nach einem Rückgang von 4,2 Prozent im Vorquartal.
Das Gesundheitssystem hat sich ebenfalls positiv entwickelt und deckt 90 Prozent der Landesfläche ab. Die Lebenserwartung der Bevölkerung stieg von 45 auf 67 Jahre. Im Bereich der Geschlechtergleichstellung ist Ruanda inzwischen weltweit führend. Frauen stellen 63 Prozent der Parlamentsabgeordneten (51/80), im Senat haben sie 38 Prozent der Sitze inne (10/26), und auf Kabinettsebene stellen Frauen 40 Prozent der Minister: innen.
Trotz dieser äußerst beachtlichen Ergebnisse steht Ruanda weiterhin vor Herausforderungen. Die Armutsquote lag im Jahr 2017 bei 39,1 Prozent, wobei Frauen deutlich stärker von Armut betroffen sind als Männer. Viele Frauen in Ruanda sind in wirtschaftlicher Hinsicht von ihren Ehemännern abhängig. Die Verwaltung des Familienvermögens ist in einigen Familien immer noch das Vorrecht der Männer, was zu vielen Konflikten führt. Viele Männer hindern Frauen daran, ein eigenes Einkommen zu erwirtschaften und Kredite aufzunehmen. Sie wollen, dass die Frauen das Haus hüten, und verwehren ihnen die gesellschaftliche Teilhabe als Bürgerinnen. Wieder andere sehen in Frauen Menschen ohne Wissen, Werte und Fähigkeiten, mitunter sogar Parasiten. Das führt dazu, dass es den Frauen an Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl mangelt, um sich in Entscheidungen, die sie betreffen, einzubringen. Zudem führen Armut und soziokulturelle Normen dazu, dass Frauen häuslicher Gewalt ausgesetzt sind. Das erklärt auch zum Großteil die Zunahme ungewollter Schwangerschaften bei jungen Mädchen, deren Kinder von ihren Vätern rechtlich nicht anerkannt werden. Ein solches Verhalten gründet in Überzeugungen, die auf der Vorherrschaft des patriarchalischen Systems beruhen, das ein Ungleichgewicht der Macht zwischen den Geschlechtern schafft.
Im Jahr 2000 leitete Ruanda einen Prozess der administrativen, politischen und fiskalischen Dezentralisierung ein. Im Zuge dessen gingen einige Zuständigkeiten und Ressourcen sowohl auf Distriktebene als auch in anderen Strukturen von der Zentralregierung auf die Kommunalverwaltungen über. Die im Jahr 2000 entwickelte Politik der Dezentralisierung sollte in drei Phasen umgesetzt werden. Für die erste dreijährige Phase (2001–2004) waren folgende Punkte vorgesehen:
In der zweiten Phase (2004 –2008) ging es darum, eine dezentralisierte kommunale Verwaltung zu etablieren, die die gegenüber der Bevölkerung eingegangenen Verpflichtungen erfüllt, indem sie eine stärkere Beteiligung der Bürger:innen an Entscheidungsprozessen sowie der Planung und Umsetzung ihrer Entwicklungsprogramme und -projekte fördert und eine bessere Koordinierung der Interventionen der Akteure im Rahmen der Dezentralisierungsinitiative und ihrer Aktivitäten ermöglicht, um Synergien Die dritte Phase, die 2009 begann, sollte auf den beiden vorangegangenen Phasen aufbauen, um die staatliche Verwaltung noch bürgernaher zu machen. Auf diesem Weg sollten die Bürger:innen gute staatliche Leistungen erhalten und vollumfänglich in die Entwicklung ihres Landes einbezogen werden.
Ruanda ist das erste Land der Welt mit einer Frauenmehrheit im Parlament; derzeit liegt ihr Anteil bei 61 Prozent im Unterhaus und 38 Prozent im Oberhaus. Wie gelang es, dies in Ruanda zu realisieren? Vor allem machte es sich Ruanda zur Aufgabe, einen Rechtsstaat aufzubauen, der auf der Achtung der Menschenrechte, der Freiheit und dem Grundsatz der Gleichheit aller Bürger: innen Ruandas vor dem Gesetz sowie der Gleichheit von Männern und Frauen beruht. In Umsetzung dessen sollen Frauen zu mindestens 30 Prozent die Positionen in den Entscheidungsorganen besetzen (vgl. Verfassung der Republik Ruanda von 2003 in der Neufassung von 2015). Die ruandische Verfassung schreibt zudem vor, dass alle Ruander:innen die Pflicht haben, durch ihren Arbeitseinsatz an der Entwicklung des Landes mitzuwirken, Frieden, Demokratie, Gleichheit und soziale Gerechtigkeit zu stärken und an der Verteidigung ihres Landes mitzuwirken. Politische Organisationen müssen bei der Rekrutierung von Mitgliedern, bei der Etablierung ihrer Führungsgremien und bei ihrem Agieren stets die Einheit Ruandas sowie die Gleichheit und Komplementarität von Männern und Frauen widerspiegeln. Die für die Ernennung der Senatoren zuständigen Organe tragen der nationalen Einheit und dem Grundsatz der Gleichstellung der Geschlechter Rechnung. Mindestens 30 Prozent der gewählten und ernannten Senatoren müssen Frauen sein.
Es wurden außerdem formelle Strukturen geschaffen, um die Einhaltung der Gleichstellung der Geschlechter in Ruanda zu gewährleisten und zu überwachen. Dazu gehören unter anderem das Gender Monitoring Office (GMO) und der National Women’s Council (Nationaler Frauenrat).
Der National Women’s Council ist eine dem Ministerium für Gleichstellung und Familienförderung angegliederte Einrichtung, die verschiedene politische Maßnahmen und Programme durchführt. Er ist ein dezentrales Organ, das von der obersten Ebene (Ministerium) bis zur Basis (Dorf) reicht. Der Rat befasst sich insbesondere mit der vielfältigen Förderung von Frauen auf verschiedenen Ebenen. Er ist zuständig für die Umsetzung der Gleichstellungspolitik. Die Überwachung dessen erfolgt durch das Gender Monitoring Office (GMO), das direkt dem Büro des ruandischen Premierministers untersteht und ein wichtiger Partner ist, wenn es darum geht, sich über Veränderungen bezüglich der Situation der Frauenrechte zu informieren.
Die Aufgabe des Gender Monitoring Office besteht darin, die Geschlechtergleichstellung und den Kampf gegen geschlechtsspezifische Gewalt in öffentlichen, privaten, zivilgesellschaftlichen und religiösen Einrichtungen wirksam zu überwachen.
Es wurden politische Maßnahmen und Gesetze verabschiedet, die Frauen vor geschlechtsspezifischer Gewalt, Missbrauch, Menschenhandel, Ausbeutung etc. schützen sollen. Dazu zählen beispielsweise das Gesetz Nr. 51/2018 vom 13.08.2018 über die Verhinderung, Bekämpfung und Bestrafung von Menschenhandel und Ausbeutung anderer, das Gesetz Nr. 59/2008 vom 10.09.2008 über die Bekämpfung und Bestrafung geschlechtsspezifischer Gewalt, sowie das Gesetz Nr. 68/2018 vom 30.08.2018 zur Definition von Straftatbeständen und Strafen im Allgemeinen. Zu diesem Zweck wurde auch die ruandische Gleichstellungspolitik verabschiedet. Neben diesen Gesetzen verabschiedete man zudem Gesetze, die Frauen und Männern den gleichberechtigten Zugriff auf Familienvermögen sowie dessen Nutzung und Kontrolle gestatten. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang beispielsweise das Gesetz Nr. 27/2016 vom 08.07.2016 über den Güterstand, Schenkungen und Erbschaften, das Gesetz Nr. 27/2021 vom 10.06.2021 über Grundbesitz, das Gesetz Nr. 001/2020 vom 02.02.2020 zur Änderung des Gesetzes Nr. 32/2016 vom 28.08.2016 über Personen und Familie und das Gesetz Nr. 71/2018 vom 31.08.2018 über den Schutz von Kindern. All diese politischen Bestrebungen haben dazu geführt, dass das Land das heutige Maß an Frauen in Führungspositionen und deren Teilhabe an Entscheidungsprozessen erreicht hat. Betonen möchte ich an dieser Stelle, dass Ruanda den Weg, Frauen in verschiedenen Bereichen zu fördern, nicht deshalb gegangen ist, weil es nach dem Völkermord aufgrund der massenhaften Tötung von Männern während des Genozids an den Tutsi im Jahr 1994 schlichtweg einen Männermangel gab, wie von manchen behauptet wird. Aber weil Frauen und Männer, Mädchen und Jungen in ihrem Land gleichberechtigt sind, müssen die Chancen, die unser Land bietet, auch gleichberechtigt ge nutzt werden, ohne jemanden zurückzulassen.
An dieser Stelle möchte ich auf die erfolgreichen Maßnahmen der Kommission für Gerechtigkeit und Frieden (CDJP) in der Diözese Gikongoro im Bereich der Emanzipation von Frauen hinweisen. Die in Ruanda im Oktober 2021 begonnene Wahl von Führungspersonal auf lokaler Ebene hat gezeigt, dass Frauen, insbesondere die von der CDJP Gikongoro unterstützten, ihren Status verbessert haben, wodurch sie einen erleichterten Zugang zu Führungspositionen erhielten.
Im Jahr 2019 gab es noch mit Kwitonda Annonciata aus dem Gebiet Mudasomwa nur eine einzige weibliche Dorfvorsteherin. Zwei Jahre später, 2021, stieg mit der Wahl ihre Zahl auf sechs von insgesamt 35 Dorfvorsteher: innen an. Nun werden vier von fünf der Dörfer im Gebiet Mudasomwa von Frauen geleitet, die im Rahmen des CDJP Gikongoro-Projekts gefördert wurden.
Folgende Probleme haben die Frauen während der internen Treffen selbst genannt und als Hemmnis für ihre wirksame Teilhabe an Entscheidungsprozessen auf Haushalts- und Gemeinschaftsebene ausgemacht: Männer hindern Frauen mitunter daran, selbst Einkommen zu erwirtschaften und Darlehen zu erhalten, andere weigern sich, ihre Ehen zu legalisieren, und einige betrachten Frauen immer noch als Menschen, die nichts wissen, keinen Wert haben, unfähig oder sogar parasitär seien. Auf Gemeinschaftsebene herrscht außerdem das Vorurteil, dass Frauen in vielen Angelegenheiten unfähig seien; in der Praxis bedeutet das konkret: Manche stimmen bei Wahlen bewusst nicht für Frauen; manche Frauen wissen nur wenig über die Gesetze und Rechte, die sie schützen. Gleichzeitig mangelt es vielen Frauen an Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl, um sich selbstbewusst an Entscheidungen zu beteiligen, die sie betreffen. Auch soziokulturelle Normen stellen ein Hemmnis für die Entwicklung der Frauen dar: Einige Frauen sind wirtschaftlich vollkommen abhängig von ihren Männern. Es gibt Männer, die sich nicht ändern und die Frauen zu Hause halten wollen, was diese wiederum daran hindert, sich als Bürgerinnen einzubringen. Die Verwaltung des Familienvermögens ist in manchen Haushalten nach wie vor den Männern vorbehalten, was zu geschlechtsspezifischer Gewalt und anderen Konflikten innerhalb der Familie führt. Manche Mitglieder der Gemeinschaft lassen Ideen von Frauen aufgrund soziokultureller Normen oder einfach nur aus mangelndem Respekt ihnen gegenüber nicht gelten. Hinzu kommt, dass viele Frauen in prekären Lebensverhältnissen weder lesen noch schreiben können, was ein weiteres Hindernis für ihre Entwicklung darstellt. Schließlich nimmt auch die häusliche Gewalt in der Gemeinschaft zu.
Die CDJP Gikongoro setzt sich für die Förderung von Frauen ein, um sie bei der wirksamen Teilhabe an Entscheidungsprozessen zu unterstützen. Wir machen uns dafür stark, dass sie in die formellen und informellen Entscheidungsstrukturen vor Ort einbezogen werden. Dazu schaffen wir Räume, die allein Frauen vorbehalten sind und in denen sie ihre Probleme diskutieren und eigenständig Lösungen für diese formulieren können. Darüber hinaus tragen wir dazu bei, frauenfeindliche soziale Normen zu beseitigen und die gesamte Gemeinschaft – insbesondere die Männer – zu mobilisieren, damit Frauen bei wichtigen Fragen wie dem Kauf und Verkauf eines Hauses, einer Kuh, eines Grundstücks etc. ein Mitspracherecht haben. Unser Programm zur Stärkung des Status der Frau befasst sich auch mit der Veränderung negativer sozialer Geschlechternormen. Damit wollen wir es Frauen erleichtern, sich auf allen Ebenen in Entscheidungsprozesse einzubringen. Wir unterstützen die Frauen außerdem in wirtschaftlicher Hinsicht, indem wir sie einladen, sich in einer Voluntary Saving and Loan Association (Spar- und Darlehensverein) zusammenzuschließen, um ihnen den Zugang zu Krediten als Anschubfinanzierung für eine eigene Erwerbstätigkeit zu erleichtern. Zudem setzen wir uns mit geschlechtsspezifischer Gewalt auseinander, die in unserer Gemeinschaft stark zunimmt. Regelmäßig laden wir Frauen ein, die auf Distrikt- oder Sektorebene in Führungspositionen tätig sind, um sich mit den von uns geförderten Frauen über ihre Erfahrungen, ihren Weg, ihre Herausforderungen und ihre Bewältigungsstrategien auszutauschen und sie auf diese Weise in ihrer Entwicklung zu unterstützen. Darüber hinaus laden wir sie im Rahmen des Dienstes der Diözese sowie der pastoralen Soziallehre der Kirche ein, echte Führungspersönlichkeiten sowie selbstbestimmte Mütter ihrer Kinder und Ehefrauen ihrer Ehemänner zu werden.
Dadurch und durch das Konzept der positiven Männlichkeit, das wir neben anderen Konzepten verfolgen, wandelt sich die einstige streng patriarchalische Gesellschaft. Wir vermitteln den Jungen und Männern ein positives Männlichkeitsempfinden, damit sie sich als Männer für die Rechte und die Anerkennung der Frauen einsetzen: für ihre Mütter, Ehefrauen, Schwestern und andere Frauen im Allgemeinen.
Hauptstadt: Kigali
Amtssprache: Kinyarwanda, Französisch und Englisch
Regierungsform: präsidentielle Republik
Fläche: 26.338 km² (etwas größer als Hessen und das Saarland zusammen)
Einwohner: 12,9 Millionen; mit einer Bevölkerungsdichte von 499 Einwohnern pro km² ist Ruanda das am dichtesten bevölkerte Land Afrikas
Ethnische Gruppen: Hutu, Tutsi, Twa (Pygmäen); seit dem Genozid wird im Land selbst überwiegend vermieden, von ethnischen Gruppen zu sprechen
Lebenserwartung: 65 Jahre
Alphabetisierungsrate: 73,2 %
Religion: 38,2 % Katholiken, 57,7 % Protestanten; Muslime 2,1 % sowie charismatische Gruppen und neue Kirchen
Wirtschaft: 93 % der Bevölkerung arbeiten in der Landwirtschaft, wichtige Exportgüter sind Kaffee, Tee und Mineralerze
Human Development Index (2019): Rang 160 von 189
Quellen: The World Factbook; Auswärtiges Amt