Von Claudia Lücking-Michel
„Wir sind als Kirche nur Licht der Welt, wenn wir mit den Tränen und den schwierigen Lebenssituationen so vieler Betroffenen wirklich ernst umgehen. Wir können deswegen auch von einem Lehramt der Betroffenen sprechen. So werden sie in die Nähe Jesu gerückt. Das ist das einzige wirklich unfehlbare Lehramt.“
(Bischof Franz-Josef Overbeck, Essen)
Claudia Lücking-Michel
Dr., ist Mitglied des erweiterten Präsidiums des Synodalen Wegs. Zusammen mit Bischof Franz-Josef Overbeck leitet sie das Forum I „Macht- und Gewaltenteilung“. Sie ist außerdem die Geschäftsführerin von AGIAMONDO, dem Personaldienst der deutschen Katholikinnen und Katholiken für internationale Zusammenarbeit, in Köln.
Mit diesem Zitat aus der zweiten Vollversammlung des Synodalen Wegs, die im September 2021 in Frankfurt stattfand, sind wir mittendrin in den Anliegen, Streitpunkten und großen Aufgaben, die auf dem Weg der katholischen Kirche liegen. Über 200 Synodale, dazu Berater:innen, Beobachter:innen und Journalist:innen kamen nach langer Corona-Verzögerung endlich wieder in Präsenz zusammen. Die Synodalen erwiesen sich dabei dialog- und handlungsfähig. Ihr Potenzial zeigte sich in 20 Stunden konstruktiver und zielorientierter gemeinsamer Arbeit. Viele wegweisende Debatten haben sie geführt, wichtige Beschlüsse gefasst und Absprachen getroffen, wie dieser so dringend nötige Reformprozess weitergehen soll.
Ein kurzer Blick zurück: Zu Beginn stand eine schockierende Erkenntnis, die sich in der bedrängenden Frage abzeichnete: Wie kann Kirche in der Welt von heute das Evangelium glaubhaft verkünden, wenn sie doch selbst dafür oft genug das größte Hindernis darstellt? Der massenhafte, sexuelle Missbrauch von Minderjährigen durch Kleriker führte zu einem so großen Vertrauensverlust, dass wir uns kritisch mit den Bedingungen auseinandersetzen müssen, die diesen Missbrauch ermöglicht haben. Welche Prozesse, Strukturen und Inhalte, die bisher die kirchliche Wirklichkeit dominieren, müssen dafür erneuert werden? Das Jahr 2010 führte das Aufdecken des Missbrauchsskandals zunächst zum Gesprächsprozess „Im Heute Glauben“ – auf Einladung der Bischofskonferenz gab es über viele Jahre Gespräche, Fehleranalysen, ein interessantes Abschlussdokument und doch am Ende keine nennenswerten Veränderungen. Der Druck stieg dann noch einmal deutlich durch die sogenannte MHG- Studie (2018) zum Missbrauchsskandal, eine die im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz durchgeführt und dokumentiert wurde. Nicht nur die Zahl der Opfer und Täter, die hier benannt werden, geht weit über das bis dahin Bekannte hinaus und ist erschütternd. Neu hinzu kam die klare Ansage, dass es nicht nur um die Schuld der einzelnen Täter und Vertuscher geht, sondern vor allem auch um systemische Fehler, die den Missbrauch begünstigen, ja um ein Systemversagen der Kirche. Trotzdem übernahm niemand richtig Verantwortung oder wurde zur Rechenschaft gezogen. Dabei tragen für das Systemversagen, wenn auch sicherlich in unterschiedlichem Maße, eigentlich alle Verantwortung, die in unserer Kirche etwas zu sagen haben und trotzdem die Kirchenstrukturen nicht reformieren. Eine der Folgen war die seitdem weiter steigend hohe Austrittszahl. Im Mai 2019 startete die Protestbewegung Maria 2.0 ihre öffentlichkeitswirksamen Aktionen. Nicht mehr nur die jungen oder nur besonders progressive Frauen trugen diesen Kirchenstreik mit. Nein, auf die Barrikaden gingen Katholikinnen jeden Alters, notfalls mit Rollator. Sie waren erschüttert davon, wie ihre Kirche mit diesem Skandal und mit ihnen selbst umging. Erst in dieser Situation fiel endgültig die Entscheidung für den „Synodalen Weg“. Im Jahr 2019 haben sich die Deutsche Bischofskonferenz und das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) damit zu einem großen, ursprünglich auf zwei Jahre angelegten Reformprozess verabredet. Wenn hierbei die Ursachen des Missbrauchsskandales in der Kirche ganz grundsätzlich angegangen werden sollen, ist das gerade kein „Missbrauch vom Missbrauch“, wie Kritiker gerne behaupten, sondern selbst eine direkte Konsequenz aus den Empfehlungen der von den Bischöfen in Auftrag gegebenen MHG-Studie.
Da das Kirchenrecht keine National-Synode unter gleichberechtigter Beteiligung von Lai:innen vorsieht, entschied man sich zu einer Konstruktion, die im Kirchenrecht nicht vorgesehen ist und sprach stattdessen von einem „Synodalen Weg“.
Forum I: „Macht und Gewaltenteilung in der Kirche - Gemeinsame Teilnahme und Teilhabe am Sendungsauftrag“
Forum II: „Priesterliche Existenz heute - Amt und Lebensform des Priesters“
Forum III: „Frauen und Dienste und Ämter in der Kirche“
Forum IV: „Leben in gelingenden Beziehungen - Liebe leben in Sexualität und Partnerschaft“
Eine Hürde haben die Beteiligten dabei sehenden Auges von Beginn an in Kauf genommen: Beschlüsse der Synodalversammlung haben aus sich heraus keine Gesetzeskraft, sondern setzen auf die Selbstbindung der Bischöfe, die sich verpflichten, die Ergebnisse in ihren Bistümern umzusetzen. Das ist die entscheidende Einschränkung für die Arbeit im Synodalen Weg und umgekehrt die wichtigste Voraussetzung für ihren Erfolg.
Bei dieser Vorgeschichte ist jetzt schon klar: Für den „Synodalen Weg“ gibt es keine Wegbeschreibung und keine Wanderkarten. Niemand weiß, was sich daraus noch alles entwickeln und wo er hinführen wird. Um überhaupt starten zu können, brauchte es zunächst einmal Organisationsstrukturen, kreative Köpfe, finanzielle Mittel, engagierte Ehrenamtliche, viel Prozesserfahrung und positive Rollenmodelle (Würzburger Synode). Nach einer ermutigenden Auftaktsitzung im Frühjahr 2020 kam dann schon bald alles anders. Schon kurz nach dem erfolgreichen Start trat Kardinal Marx als Vorsitzender der Bischofskonferenz zurück. Mit Bischof Bätzing nahm ein zum Glück ebenso großer Unterstützer des gerade begonnenen Prozesses seinen Platz ein. Im Frühjahr 2020 warteten viele gespannt auf die Reaktion des Papstes auf die Ergebnisse der Amazonas-Synode. Man erhoffte sich ein klares Aufbruchsignal für das Anliegen einer Synodalen Kirche. Leider wurden diese Hoffnungen mit dem päpstlichen Schreiben Querida Amazonia nicht erfüllt. Und das war nicht die letzte Post aus Rom zu Themen des Synodalen Wegs (es folgten etwa das „Ad dubia“ zur Segnung gleichgeschlechtlicher Paare oder das Schreiben zur Gemeindeleitung durch Lai:innen). Schließlich bremste die Corona-Pandemie alle weiteren Planungen aus. Nicht gebremst dagegen wurden die vielen Absatz- und Austrittsbewegungen. Ja, manche kritischen Entwicklungen in der Kirche wurden durch Corona geradezu beschleunigt. Und auch viele erschütternde Beispiele dafür, was mit „kirchlichem Systemversagen“ gemeint ist, wurden uns weiterhin frei Haus geliefert. Die Arbeiten an den Reformvorschlägen sind in diesen Lockdown-Monaten trotz alledem weitergegangen. Inzwischen liegen eine Reihe Entwürfe – öffentlich auf der Homepage des Synodalen Wegs[1] einsehbar – für Grundlagentexte und sogenannte „Handlungsempfehlungen“ vor. Bei der zweiten Synodalversammlung wurde eine Vielzahl dieser Beschlussvorlagen aus den Foren in einer ersten Lesung beraten. So ist der Zeitplan des Synodalen Wegs durch den Lockdown zwar zeitlich aus dem Takt gekommen, nichtsdestotrotz verdichten sich inzwischen die Themen und Positionen. In den Reaktionen darauf werden schwelende Konflikte öffentlich. Jede Seite beschwört die Gefahr der Kirchenspaltung und betont die weltkirchliche Relevanz der eigenen Anliegen. Jetzt kommt es darauf an, unterwegs auf der Wegstrecke durchzuhalten und auch wirklich gemeinsame Entscheidungen zu treffen. Der Synodale Weg darf nicht zu einer „Gesprächstherapie für das Kirchenvolk“ werden. Der Erwartungsdruck ist (zurecht) hoch! Wenn nichts passieren würde, wäre es schlimmer als vorher. Entschieden ist noch nichts, aber offensichtlich wird es langsam ernst.
Alle sind sich einig, ein „Weiter- so“ kann es nicht geben, Reform ist angesagt. Doch dann endet die Gemeinsamkeit schon bald. Die Wandergruppe ist aufgebrochen, diskutiert unterwegs aber immer noch heftig, wohin sie denn abbiegen soll. Das ZdK hatte schon direkt nach Erscheinen der MHG-Studie zentrale Anliegen definiert. Für mich sind die Forderungen aus dem Beschluss „Entschlossenes gemeinsames Handeln, jetzt!“[2] bis heute wichtige Wegweiser zum Ziel:
Angesichts der Vorgeschichte ist der Auftrag, dem sich unser Forum I zu stellen hat, selbsterklärend. Besonders der Umgang mit Macht in der katholischen Kirche muss kritisch auf systemische Mängel hin geprüft werden. Vorschläge für eine verlässliche, gesicherte Beteiligung, eine geteilte Verantwortung und transparente Machtkontrolle liegen vor. Dazu gehören etwa:
Alle, die über die eigene Kirchturmspitze hinausschauen, stellen fest, dass es weltweit Reformbedarf gibt und in vielen Nationalkirchen rund um den Globus eine ganze Reihe von sehr unterschiedlichen Reformbemühungen begonnen hat. Einige schauen interessiert, andere besorgt auf die Aktivitäten in Deutschland. Wieder andere betonen gleichzeitig ihren eigenen Ansatz und die unterschiedlichen Bedarfe und Möglichkeiten. In Australien gibt es zum Beispiel einen Plenarrat und den Versuch, dies durch kritisch-konstruktive Stimmen zu begleiten. Welche Freude und Überraschung war es, als schließlich im Herbst 2021 Papst Franziskus die lange schon für das Frühjahr 2022 terminierte römische Bischofssynode mit einem Vorbereitungsprozess versah und dieses Vorgehen als „Synodalen Weg“ betitelte. Diese Namenswahl war ganz sicher kein Zufall. Doch viel mehr als den Namen haben nun der römische und der deutsche Weg wohl nicht gemeinsam. Vielleicht kann man noch sagen, es gehe in beiden Fällen darum, Voten und Anliegen von Gläubigen einzuholen. Dafür sollte in jeder Diözese weltweit die Basis gefragt werden. Doch wie es dann mit deren Antworten weitergeht, ist für die römische Variante sehr offen. Es gibt Termine für den „Einsendeschluss“. Ob aber auch Verfahren und Regelungen gefunden wurden, wie diese Basis-Voten gehört und berücksichtigt werden oder ob sie gar Eingang finden können in verbindliche Beschlüsse?
Die „üblichen“ kirchlichen Streitthemen verblassen allerdings zu „Randnotizen“, wenn die Frage wie in Mt 25 lautet: „Wann warst Du hungrig und wir haben Dir nichts zu essen gegeben?“ Angesichts des Missbrauchsskandals müssen wir den Taten der Barmherzigkeit, die im Evangelium aufgeführt werden, noch weitere hinzufügen: „Wann haben wir gewusst, dass Du Opfer sexueller Gewalt geworden bist, und haben Dir nicht geholfen?“ „Wann haben wir die Täter geschützt und mitgeholfen, ihre Taten zu vertuschen?“ „Wann haben wir selbst Verantwortung für ein System getragen, das diesen Machtmissbrauch nicht verhindert hat?“ Wollen wir die Antworten überhaupt hören? Die Gefahr, dass wir bei den Böcken auf der linken Seite Jesu landen, ist groß. Die Reformbemühungen des Synodalen Wegs kommen spät, aber wir sind sie den Opfern kirchlichen Missbrauch ebenso schuldig wie allen Armen, Unterdrückten und Marginalisierten, die (noch immer) auf die Kirche hoffen. Es bleibt viel zu tun. Die Sprecher:innen des Beirats der von kirchlicher sexueller Gewalt Betroffenen haben sich mit eindringlichen Statements an der Debatte im Rahmen der II. Synodalversammlung beteiligt. Am Ende haben sie dem Synodalen Weg ihr Vertrauen ausgesprochen. In einer teils emotionalen Diskussion reagierte Bischof Franz-Josef Overbeck (Essen) mit der schon zu Beginn zitierten bemerkenswerten Antwort. Ich würde hinzufügen: Wir kennen das Evangelium: „Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan.“ Mt 25, 31-46 lässt keinen Zweifel daran, wer Maßstab unseres Handels und das eigentliche „Lehramt“ sein sollte.
„Evangelisierung“ oder auch „Glaubhafte Zeug:innen der Frohen Botschaft sein“, darum geht es. Hierin bestehen Sinn und Zweck des Synodalen Wegs. Aus diesem Grund müssen die Fragen nach Macht, Partizipation und Gewaltenteilung offen gestellt werden. Anspruch und Wirklichkeit der Kirche dürfen nicht weiter auseinanderfallen. Wir sind dabei auf einem Weg, der uns wie die Israelit:innen durch die Wüste führt. Für so eine Wanderung braucht es Leute mit viel Erfahrung und guter Ausrüstung. Haben wir diejenigen unter uns, die vielleicht weniger nach den Sternen greifen, als vor allem die ganze Expedition immer wieder „an den Sternen im Himmelszelt“, also an den großen Zielen ausrichten? Haben wir die Pfadfinder:innen und Kartenleser:innen? Auch bei guter Planung muss man auf alle möglichen Hindernisse gefasst sein. Es kommt darauf an, die Argumente und den Stand der Debatte gut zu kennen, sprachfähig zu sein und sich immer wieder auch mit den eigenen Positionen in den Wind der Gegenargumente zu stellen. Wer sorgt für Proviant und wer denkt an die Rast in Oasen? Wir werden unser Ziel nicht erreichen, wenn wir nicht auch in dieser Hinsicht gut füreinander sorgen. Es geht um nichts weniger als darum, dass möglichst bald Männer und Frauen in unsicherer Zeit wieder miteinander das Brot und das Wort der Hoffnung teilen. Um glaubhaft das Evangelium zu verkünden und Zeug:innen der Hoffnung zu sein, um uns wirksam für die Schwachen und Unterdrückten, für das Leben und den Frieden einzusetzen, müssen wir uns als katholische Kirche zunächst selbst grundlegend erneuern. Der Synodale Weg ist dafür eine Chance. Hoffentlich werden wir sie nutzen.
[1] Vgl. https://www.synodalerweg.de
[2] www.zdk.de/veroeffentlichungen/erklaerungen/detail/Entschlossenes-gemeinsames-Handeln-jetzt--247N/